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Zweiter Teil
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Zweites Kapitel
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Aus Ottiliens Tagebuche
Es hat keinen Sinn, in diesen Aufzeichnungen die Gedanken einer Siebzehnjährigen entdecken zu wollen und sie auch noch zu der momentanen Situation der vorgeblichen Verfasserin in Beziehung zu bringen. Im VIERTEN KAPITEL versucht Goethe das Unvereinbare daran so zu erklären, dass Ottilie manches woanders abgeschrieben haben müsste, doch auch das ist nur ein Notbehelf. Es sind eben einfach gedankliche Zutaten Goethes, die anders die Ereignisfolge wohl zu sehr unterbrochen hätten. Würden die sechs Tagebuchauszüge samt den Hinweisen auf sie in einer Ausgabe fehlen, würde sie wohl niemand vermissen oder den Roman weniger gut oder anders verstehen.
Die im fünften und sechsten Kapitel mitgeteilten Tagebuch-Einträge haben nach der Vermutung der Editoren von Goethes Maximen und Reflexionen (erstmals 1840 herausgegeben) überdies bei Abfassung des Romans bereits vorgelegen und wurden deshalb in diese Sammlung von Goethe-Sentenzen auch übernommen.
Erst recht unangebracht wäre es, dem Sachverhalt nachzugehen, dass es sich nur um 'ausgewählte Stellen' aus Ottilies Tagebuch handelt. In jüngeren Erzähltheorien wird großer Wert darauf gelegt, zwischen dem Autor und dem Erzähler zu unterscheiden. In diesem Fall könnte das die Frage nach sich ziehen, warum der Erzähler gerade die Partien weglässt, in denen sich Ottilie auf Tagesereignisse bezieht (siehe ZWEITER TEIL, VIERTES KAPITEL). Sollte die Alltagsseite von Ottilies Weltsicht dem Leser verborgen bleiben? Jeder Einsichtige wird sich sagen, dass solche Überlegungen abwegig sind, weil Goethe die Tagebuch-Einträge auf eine Erzähler-Figur hin gar nicht kalkuliert hat.
Benutzte Literatur: Feuerlicht, Ignace