[Erster Abschnitt]
... und sah dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den Fluss, die Brücke und
die Anhöhen am anderen Ufer mit ihrem schwachen Grün.
So wenig bei Kafka jemals ein Schauplatz konkret benannt wird, so klar ist doch oftmals der Bezug auf die Stadt Prag.
Hier ist in Anbetracht des Schlusses mit dem 'Autoomnibus' und dem 'unendlichen Verkehr' auf der Brücke
(siehe
Abschnitt 4) für 1912 eindeutig eine Großstadt-Szenerie
anzunehmen, und natürlich kommt dafür bevorzugt Prag infrage. Da Kafka zur Zeit der Niederschrift der Erzählung
am Moldau-Ufer gewohnt und auf die verkehrsreiche Niklasbrücke (Cechuv most) heruntergesehen hat, dürfte es
eben der Blick auf diese Brücke mit dem gegenüber liegenden Bellevue-Park sein, der seine Vorstellungen bestimmt hat.
Von dem Haus her, in dem Kafka wohnte, stellte sich dieser Blick so dar:
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Der Blick über die Moldau an der Niklasbrücke
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Mehr als der Blick über die Niklasbrücke erschließt sich im 'Urteil' von Prag jedoch nicht. Schon die 'niedrigen, leicht
gebauten Häuser' gab es an dieser Stelle des Moldau-Ufers 1912 nicht mehr (allenfalls einige Jahre früher), und sowieso hat Kafka bewusst in
allen seinen Werken Ort und Zeit der Handlung unbestimmt gelassen. Außer 'Großstadt' und 'Gegenwart' soll in dieser Erzählung also
nichts assoziiert werden.
[Zweiter Abschnitt]
Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er schon seit
Monaten nicht gewesen war ...
Von Kafka selbst wissen wir, dass auch die beschriebene Wohnung nicht mit der Wohnung an der Niklasbrücke übereinstimmt.
Als eine seiner Schwestern bei Vorlesung der Erzählung
bemerkte: "Es ist unsere Wohnung", erwiderte Kafka: "Da müsste ja der Vater auf dem Klosett
wohnen", und wunderte sich darüber, "wie sie die Örtlichkeit missverstand" (Tagebucheintrag vom
12. Februar 1913).
Der Schnitt der Wohnung dürfte aber ähnlich gewesen sein, mit einigen Zimmern nach vorn zur Moldau hin, wo auch Franz Kafka sein Zimmer
hatte, und - getrennt von einem Gang - anderen Zimmern zum Hof und auch wohl zur Niklasstraße hin. Die 'Bendemann-Wohnung' lässt sich nach
einer - hier verbesserten - Skizze von Marianne Wünsch so verdeutlichen:
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Die Skizze der Wohnung nach Marianne Wünsch (1976)
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