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[Erster Abschnitt]
Sprung zur Textstelle Georg Bendeman, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer ...
Georg Bendemann = Zu diesem Namen hat Kafka selbst in seinem Tagebuch gleichsam erstaunt festgestellt, dass er mit seinem eigenen Namen in einer gewissen Hinsicht übereinstimmt:
Georg hat so viel Buchstaben wie Franz. In Bendemann ist "mann" nur eine für alle noch unbekannten Möglichkeiten der Geschichte vorgenommene Verstärkung von "Bende". Bende aber hat ebenso viele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka.
Benutzte Literatur: Kafka,  Tagebücher, 
                  1967
Daraus ist allerdings nichts Besonderes zu folgern, der autobiographische Sinn dieser Geschichte ist auch ohne die Namensähnlichkeit klar. Das nachträgliche Begrübeln des Namens hat allein mit der gleichsam rauschhaften Niederschrift des Textes zu tun, denn es sei die Geschichte wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen, heißt es im Februar 1913 im Tagebuch (siehe auch unter ENTSTEHUNG).
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Sprung zur Textstelle Vielleicht hatte ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, dass er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert ...
Dies ist der erste Hinweis auf die Überlegenheit des Vaters und zugleich auf Georgs Bemühen, sich von diesem zu lösen.
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Sprung zur Textstelle ... dass er selbst vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt hatte.
Frieda Brandenfeld = Auch für diesen Namen hat Kafka eine Brücke zu seinem eigenen Leben geschlagen, nämlich der Verbindung zu Felice Bauer, die er kurz zuvor kennengelernt und an die er drei Tage vor der Niederschrift des 'Urteils' erstmals geschrieben hatte (siehe unter ENTSTEHUNG). Am 11. Februar 1913 heißt es im Tagebuch (und ähnlich auch noch einmal am 2. Juni 1913 in einem Brief an Felice):
Frieda hat ebensoviel Buchstaben wie F[elice] und den gleichen Anfangsbuchstaben, Brandenfeld hat den gleichen Anfangsbuchstaben wie B[auer] und durch das Wort "Feld" auch in der Bedeutung eine gewisse Beziehung.
Benutzte Literatur: Kafka,  Tagebücher,
                  1967
Die Konsequenz einer Verlobung stand Kafka also schon bei dem ersten Kontakt mit Felice Bauer vor Augen - und zugleich auch schon die Befürchtung, dass sie ein Fehler sein könnte, wie die nachfolgende Aussage zeigt:
Sprung zur Textstelle "Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen." "Ja, das ist unser beider Schuld ..."
In der Logik der Erzählung ist dies allerdings eine äußerst merkwürdige Aussage, und das Geschehen nimmt durch sie erstmals einen fremdartigen Zug an. Warum sollte Georg Bendemann sich bei solchen Freunden nicht verlobt haben dürfen, und warum ist dies ihrer beider Schuld? Man könnte vermuten wollen, dass mit der Verlobten etwas nicht in Ordnung ist, wenn sie Georgs Freund derart wichtig nimmt, doch das würde die Sonderbarkeit dieser Stelle allein nicht erklären. Viel merkwürdiger - und für Kafka vor allem kennzeichnend - ist der Umstand, dass der Erzähler sich in keiner Weise zu der sonderbaren Bemerkung der Braut äußert, sondern ihr mit der Antwort Georgs, es sei dies ihrer beider Schuld, sogar noch eine weitere Sonderbarkeit an die Seite stellt.
Mit anderen Worten: der Bewusstseinshorizont der Person, die im Zentrum der Erzählung steht, wird nicht kritisch aufgehellt, sondern so, als sei er völlig normal, an den Leser weitergegeben. Diese Eigentümlichkeit des Kafka'schen Erzählens ist von der Fachliteratur früh erkannt und von Friedrich Beißner als 'Einsinnigkeit' bezeichnet worden. Es fehlt in Kafkas Werken demnach an einer Instanz, die die Wahrnehmungen und Überlegungen der Protagonisten zurechtrückt und damit für ein Verstehen nach gewöhnlichen Maßstäben sorgt.
Benutzte Literatur: Beissner,  Der Erzähler Franz Kafka,
                  1952
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Sprung zur Textstelle Außerdem bekommst Du in meiner Braut, die Dich herzlich grüßen lässt und die Dir nächstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin ...
Auch diese Aussage würde eigentlich der Kommentierung bedürfen. Wie kann vorausgesetzt werden - von Georg oder von Frieda -, dass ein solches Freundschaftsverhältnis sich ohne weiteres auf eine Braut übertragen lässt? Und geht nicht überhaupt das Angebot, die Braut werde selbst bald an den Freund schreiben, wo sie ihn doch noch gar nicht kennt, viel zu weit? Da Georg selbst in dieser Hinsicht keinerlei Überlegung anstellt, kann man sich hier schon fragen, ob mit seinen Mitteilungen alles stimmt bzw. ob seine Sicht der Dinge grundsätzlich die richtige ist.