
Die Analyse der Textelemente, die sich in der Ebene GESTALTUNG im Einzelnen vorgenommen findet,
führt zu folgender Gesamtdeutung der Geschichte "Das Urteil":
Georg Bendemann sieht sich vor die Frage gestellt, ob er entweder heiraten und seinem Vater im Geschäft nachfolgen soll oder
ob er seinem Freund, der wie sein besseres Selbst in Russland einen einsamen 'anderen Weg' geht, diesen
Lebensplan verheimlichen und damit auf seine Umsetzung verzichten soll. Der Vater eröffnet ihm, dass er mit seiner Heiratsabsicht sowohl den
Freund verrät wie ihn, den Vater, zu entmachten versucht und dass er deshalb zum Tod verurteilt wird. Georg nimmt das Urteil an, weil
er sich dem Vater als Geschäftsmann unterlegen und überhaupt dem bürgerlichen Leben nicht gewachsen fühlt.

Die Geschichte bildet damit eben den Konflikt ab, in dem sich Kafka im Jahre 1912 selbst befand. Sollte er sich mit Felice Bauer verloben, heiraten und
damit in eine bürgerlich-normale Existenz eintreten? Oder sollte er den 'anderen Weg' gehen und ein einsamer Schriftsteller werden? Dass
der Vater in der Geschichte den Freund als einen 'Sohn nach seinem Herzen' bezeichnet, könnte als Unstimmigkeit erscheinen, da sich Kafkas
Vater die Weiterführung seines Geschäftes durch den Sohn dringend gewünscht hat. Die Umkehr dieser Bedingung drückt
jedoch nur Kafkas Gewissheit aus, es dem Vater im Geschäft niemals recht machen und auf diesem Wege jedenfalls kein 'Sohn
nach seinem Herzen' werden zu können. Der Sprung in den Fluss ist der gedanklich 'dritte Weg' oder auch nur wie in Schillers "Wilhelm
Tell" die letzte Ausflucht: "Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei." Die Verlobung aber, das ist keine Frage, wird in diese
Freiheit nicht führen. So warnt sich Kafka mit dieser Geschichte gleichsam selbst vor dem Schritt, den er mit seinem Brief an Felice Bauer
zwei Tage zuvor eingeleitet hatte. Oder wie er im August 1913 in seinem Tagebuch notiert:
Ich verdanke die Geschichte auf Umwegen
ihr. Georg geht aber an der Braut zugrunde.
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Kafka sonstige Äußerungen zum 'Urteil' tragen zum Verständnis nicht viel bei. Teils umkreisen sie die Gestalt des Freundes,
andernteils halten sie sich nur an den verwendeten Namen fest.

Am 11. Februar 1913 heißt es im Tagebuch:
Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre
größte Gemeinsamkeit. Allein bei seinem Fenster sitzend
wühlt Georg in diesem Gemeinsamen mit Wollust, glaubt den Vater in sich zu haben und hält alles bis auf eine flüchtige
traurige Nachdenklichkeit für friedlich. Die Entwicklung der Geschichte zeigt nun, wie aus dem Gemeinsamen, dem Freund, der
Vater hervorsteigt und sich als Gegensatz Georg gegenüber aufstellt, verstärkt durch andere kleinere Gemeinsamkeiten,
nämlich durch die Liebe, Anhänglichkeit der Mutter durch die treue Erinnerung an sie und durch die Kundschaft, die ja der
Vater doch ursprünglich für das Geschäft erworben hat. Georg hat nichts, die Braut, die in der Geschichte nur durch die
Beziehung zum Freund, also zum Gemeinsamen, lebt, und die, da eben noch nicht Hochzeit war, in den Blutkreis, der sich um Vater und
Sohn zieht, nicht eintreten kann, wird vom Vater leicht vertrieben. Das Gemeinsame ist alles um den Vater aufgetürmt, Georg
fühlt es nur als Fremdes, Selbständig-Gewordenes, von ihm niemals genug Beschütztes, russischen Revolutionen
Ausgesetztes, und nur weil er selbst nichts mehr hat als den Blick auf den Vater, wirkt das Urteil, das ihm den Vater gänzlich
verschließt, so stark auf ihn.

Am 2. Juni 1913 schreibt er an Felice Bauer:
Findest Du im "Urteil" irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen geraden,
zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären. Aber es ist vieles Merkwürdige
daran. Sieh nur die Namen! Es ist zu einer Zeit geschrieben wo ich Dich zwar schon kannte und die Welt durch Dein Dasein an Wert
gewachsen war, wo ich Dir aber noch nicht geschrieben hatte. [Trifft nicht zu, Kafka hatte zwei Tage zuvor an F.B. geschrieben.] Und nun
sieh, Georg hat so viel Buchstaben wie Franz, Bendemann besteht aus Bende und Mann. Bende hat so viel Buchstaben wie Kafka und auch die
zwei Vokale stehn an gleicher Stelle, "Mann" soll wohl aus Mitleid den armen "Bende" für seine Kämpfe stärken.
"Frieda" hat so viel Buchstaben wie Felice und auch den gleichen Anfangsbuchstaben, "Friede" und "Glück"
liegen auch nah beisammen. "Brandenfeld" hat durch "feld" eine Beziehung zu "Bauer" und den
gleichen Anfangsbuchstaben. Und derartiges gibt es noch einiges, das sind natürlich lauter Dinge, die ich erst später
herausgefunden habe.

Und noch einmal am 10. Juni 1913 schreibt er an Felice:
Das "Urteil" ist nicht zu erklären. Vielleicht zeige ich
Dir einmal paar Tagebuchstellen darüber. Die Geschichte steckt voll Abstraktionen, ohne daß sie zugestanden werden. Der
Freund ist kaum eine wirkliche Person, er ist vielleicht eher das, was dem Vater und Georg gemeinsam ist. Die Geschichte ist vielleicht
ein Rundgang um Vater und Sohn, und die wechselnde Gestalt des Freundes ist vielleicht der perspektivische Wechsel der Beziehungen
zwischen Vater und Sohn. Sicher bin ich dessen aber auch nicht.
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Wegen der Deutlichkeit der Beziehungen des 'Urteils' zu Kafkas Lebensproblematik überwiegen in der Literatur die psycho-biographischen
Interpretationen.

Da sich diese Interpretationen mit der hier vorgenommenen Erschließung in vielem berühren, brauchen sie nicht besonders
vorgestellt zu werden. Die früheste Deutung in dieser Richtung ist die von
Kate Flores aus
dem Jahre 1947. Ihr folgten 1960 und 1961 die Arbeiten von
Rita Falke und
Eric Marson sowie etliche weitere, die bis 1973 von Peter U. Beicken in seinem
Forschungsbericht zu Kafka kommentiert werden. Ausführlich in Kafkas Schaffensprozess eingeordnet hat die Erzählung 1976
Hartmut Binder. Eine jüngere teils biographisch, teils soziale Deutung ist die von
Richard T. Gray in den 1994 erschienenen Reclam-Interpretationen zu Franz Kafkas
Romanen und Erzählungen.
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Eine Sonderform der biographischen Erschließung ist der psychoanalytische Zugriff.

Aspekte dieser Herkunft spielen zwar auch in den genannten biographischen Deutungen des "Urteils" eine Rolle, aber die
ausdrückliche Zugrundelegung des Freud'schen Kategoriensystems geht darüber doch hinaus. Das Resultat ist indessen
nur ein weiteres Mal 'die Verhaftung der üblichen Verdächtigen'. Georg Bendemann hat natürlich einen Ödipus-Komplex,
will also den Vater umbringen, um die Mutter zu besitzen. Zwar ist die Mutter tot, "über das Verhältnis des Sohns zur
Mutter schweigt der Text jedoch vollkommen - in psychoanalytischer Sicht geradezu auffällig". Also ist "die Beziehung des
Sohnes zur Verlobten als Verschlüsselung der begehrten Beziehung zur geliebten Mutter" zu interpretieren, und schon liegt der
gesuchte Ödipus-Komplex auf der Hand.


Diagnostiziert wird aber auch, dass Georg Bendemann homosexuell ist. Für
Ruth Tiefenbrun
richtet sich sein Begehren mehr auf den Vater, für
Thomas Anz mehr auf den Freund. Eigentlich
sollte es ja irritieren, dass der psychoanalytische Zugriff derart verschiedene Befunde ermöglicht, doch das scheint nicht der Fall zu sein. Was man übersieht: Eine
Erzählung, noch dazu eine so kurze wie das "Urteil", ist kein Patient, den man nach Belieben befragen und aus dessen öfterem
Schweigen man dann seine Schlüsse ziehen kann. Wenn über Georg Bendemanns Mutter nichts gesagt wird, verbirgt die Erzählung über
sie nichts, sondern es wird nur nichts über sie gesagt. Auch über das Frühstück, das Georgs Vater zu sich genommen hat, wird nichts
gesagt, und doch wird wohl niemand folgern, dass es sich, so aufgedreht wie der Vater sich verhält, um ein Sektfrühstück gehandelt haben
muss.
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Ein weiterer Weg der Erschließung ist die Frage nach Anregungen oder Vorbildern und überhaupt dem Verhältnis des 'Urteils' zur
literarischen Tradition.

Nach
Hartmut Binder ist es Kafka mit dieser Geschichte erstmals gelungen, die rein subjektive Wahrnehmung
seines familiären Fremdheitsgefühls zu überwinden und einen allgemeinen Generationenkonflikt in ihm wahrzunehmen. Wesentlichen Einfluss
darauf hatten die 1911/12 in Prag aufgeführten jiddischen Theaterstücke, in denen Vater-Sohn-Konflikte eine wichtige
Rolle spielten, darüber hinaus auch Werke von Max Brod und Franz Werfel sowie Dostojewskis "Schuld und Sühne".

Kafka habe mit seiner Geschichte jedoch gerade nicht, wie sonst verbreitet in dieser Zeit, die Väter nur anklagen wollen, sondern den Vater eher
entzaubert und lächerlich gemacht. Der 'unendliche Verkehr' über die Brücke im Moment von Georgs Sprung in den Fluss sei der
Strom des Lebens, den auch die Väter nicht aufhalten könnten. Binder setzt sich damit ab von
Walter H. Sokel,
der das 'Urteil' einordnet in die Darstellungen des Sohn-Vater-Konfliktes bei Reinhard Sorge, Walter Hasenclever, Arnold Bronnen und anderen, bei denen
es eher um die Tragik der scheiternden Söhne geht. Indessen sind die Unterschiede hier gar nicht so groß. Auch in diesen Werken werden
die Väter vielfach mit sarkastischem Spott bedacht, so dass sich Kafkas 'Urteil' ohne Weiteres in die ansehnlichen Reihe von Dichtungen zu
diesem Thema um den Ersten Weltkrieg herum einfügt.
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Noch mehr betonen den gesellschaftlichen Zusammenhang einige sozialgeschichtliche Interpretationen.

Für
Gert Sautermeister behandelt das 'Urteil' einen typischen bürgerlich-kapitalistischen
Familienkonflikt, insofern die Feindschaft zwischen Vater und Sohn hier auf einer geschäftlichen Konkurrenzsituation beruhe, wie es sie in einer
proletarischen Familie oder in einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft nicht gäbe. Kafka habe mit seiner Erzählung "das
Zusammenwirken zwischen privatwirtschaftlichen Oberflächenphänomenen und Erziehungsinstanzen in Psyche und Bewußtsein des
Individuums" zu entschleiern versucht. Die Folgerung, dass ihm dies nicht gelungen ist, so ganz anders, wie das 'Urteil' sonst ja verstanden wird, zieht
Sautermeister allerdings nicht.

Für
Gerhard Neumann hingegen steht im Zentrum der Geschichte der seit der Französischen Revolution
"fortgeschleppte Konflikt zwischen familialer Geschlossenheit und 'politischer' Öffentlichkeit" und der aussichtslose
Versuch eines künstlerisch-sensiblen Menschen, sich schreibend diesem Konflikt zu entziehen. Dass das 'Urteil' keine Lösung - außer
dem Tod - für Georgs Ausbruchswunsch aus der Familie bietet, ist für Neumann ein Abbild des Grundwiderspruchs aller modernen
Gesellschaften, die dem Individuum zwar den Gedanken an Selbstverwirklichung einpflanzen, sie ihm tatsächlich aber nicht erlauben.
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Gender Studies, Diskursanalyse und sonstige jüngere Zugriffe auf den Text.

Kann man schon bei den psychoanalytischen und sozialgeschichtlichen Deutungen den Eindruck gewinnen, dass es ihnen weniger darauf
ankommt, aus Kafkas 'Urteil' etwas Neues zu erfahren, als vielmehr nur Bekanntes an ihm noch einmal nachzuweisen, so
ist dies erst recht bei den jüngeren und jüngsten 'Methoden' der Literaturwissenschaft - die richtiger
'Auslegungsabsichten' hießen - der Fall. Studieren lässt sich das zumal an den 2002 erschienenen
"
Zehn Modellanalysen" zu Kafkas 'Urteil', die allesamt nur bezwecken, den
Fragehorizont der jeweiligen Methode beispielhaft vorzuführen.

Für einige dieser Zugriffe ist allerdings einzuräumen - den hermeneutischen, den strukturalistischen, den rezeptionsästhetischen -,
dass sich ihr Ergebnis von dem der Textanalyse auf biographischer Grundlage kaum unterscheidet. Anders ist das bei der sozialgeschichtlichen
oder der psychoanalytischen Auslegung, und zur völligen Unvereinbarkeit geraten die Resultate bei der Diskursanalyse, den 'Gender Studies'
oder der Systemtheorie.

Die von
Lothar Bluhm exemplifizierte Diskursanalyse erkennt im 'Urteil' eine Auseinandersetzung
Franz Kafkas mit dem um 1912 angeblich grassierenden Goethe-Kult, bei welchem es sich freilich ebenso um einen Schiller-, Bismarck- oder Beethoven-Kult
handeln könnte. Nach den 'Gender Studies' von
Christine Kanz werden in der Erzählung
drei unterschiedliche Männer-Bilder vorgeführt, die allesamt eine 'Krise der Männlichkeit' zu Beginn des 20. Jahrhunderts anzeigen sollen.
Und die systemtheoretische Analyse von
Nina Ort bezieht alles auf den Gegensatz von Beobachten
und Verstehen.

Was man bei dieser Methoden-Vorführung freilich vermisst, das ist die Einsicht, dass sich beliebige weitere solcher 'Methoden'
ihnen zur Seite stellen ließen. Gäbe es eine sport-bezogene Methode ('Fitness Studies'), könnte sie zu dem Resultat
vorstoßen, dass das 'Urteil' die Geschichte eines sexbegierigen Stubenhockers ist, der sich nach der Zurechtweisung durch den
Vater auf seine frühere Turnleidenschaft besinnt und mit einer Flanke über das Brückengeländer samt anschließendem
Bad zu der richtigen Lebenseinstellung zurückfindet. Man kann sich nur wundern, was alles in dieser Wissenschaft, Literaturwissenschaft
genannt, an gegenstandsfremden Fragestellungen zu Rang und Namen kommen kann.
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Warum aber gibt es gerade gegenüber dem Werk von Franz Kafka ein so großes Auslegungs-Bedürfnis?

Kafkas Werk verbindet zwei Eigenschaften miteinander, die selten gemeinsam auftreten: seine Sprache ist einfach und geradezu
leuchtend klar, und es hat einen verwirrenden, paradoxen, rätselhaften Inhalt. Die Dichte und Unbeirrtheit dieser Sprache scheint
ein Geheimnis zu bergen, das aufzuklären jede Mühe lohnt, wer so spricht,
muss einfach etwas zu sagen haben. Sogar die
Handschriften der Werkfragmente werden inzwischen veröffentlicht, um jedem Gelegenheit zu geben, vielleicht aus dem Schwung der
Buchstaben noch seine Schlüsse zu ziehen - wie in Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz", wo der Mann vom Lande auch
die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters noch um Auskunft über das Geheimnis des Gesetzes bittet.

Diese ganze Geheimnis-Vermutung ist jedoch ein Irrweg. Wer sich in Kafkas Werke versenkt, kommt nicht in die 'Welt', sondern er gerät nur
immer tiefer hinein in das Weltbild Kafkas. Das aber bedeutet auch: der Faszinationswert dieses Werkes ist hoch (man könnte auch sagen: der
Unterhaltungswert), der Erkenntniswert ist gering. Man umkreist nur wieder und wieder einen in sich eingesperrten, lebensunsicheren, von
Schuldgefühlen gepeinigten Menschen.
Er glaubte eine Statue gemacht zu haben, aber er hatte nur immerfort in die gleiche Kerbe
geschlagen aus Verbortheit, aber noch mehr aus Hilflosigkeit, heißt es in einem seiner
Fragmente. Weit lohnender - zumal für die Schule -, als dem Lebensgefühl dieses Menschen nachzuhängen, ist an seinen
Geschichten aufzudecken, wie sich dieses Lebensgefühl dem Leser vermittelt. Das mag von Fall zu Fall auch desillusionierend sein, aber es
weist dem Verstehen allemal einen verlässlicheren Weg als das Spekulieren über diese oder jene 'Bedeutung'.