Gestaltungsmerkmale Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Naturalismus
Schon der Untertitel 'Novellistische Studie' zeigt an, dass es sich hier nicht einfach um eine Novelle handelt, sondern dass mit dieser Geschichte etwas untersucht, herausgefunden, vielleicht auch bewiesen werden soll, also eine Art wissenschaftlicher Anspruch darin vorliegt. Das nimmt das Programm des damals aufkommenden Naturalismus auf, beispielhaft formuliert in der 1887 erschienenen Schrift von Wilhelm Bölsche: "Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie".
Benutzte Literatur: Bölsche,  Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie,
                  1976
Für Bölsche, den Hauptmann in Berlin persönlich kennenlernte, hatte die Dichtung die Pflicht, mit den beschönigenden und versöhnlichen Tendenzen des Realismus Schluss zu machen und ein dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Zeit entsprechendes Lebensabbild an seine Stelle zu setzen. Das lief, von verschiedenen Seiten weiter ausformuliert, im Wesentlichen auf zwei Forderungen hinaus:
1. Inhaltlich sollte die Literatur nicht mehr bevorzugt das Schöne und Edle zeigen, sondern das gesellschaftlich Typische, also auch das Gewöhnliche oder gar Hässliche und dieses um so mehr, als die herkömmliche Literatur keine Notiz davon nahm. So sollten z.B. nicht nur gebildete Menschen gezeigt werden, sondern auch rohe und ungebildete wie Proletarier, Obdachlose oder Dirnen. Auf jeden Fall aber sollte das Menschenbild ein 'wissenschaftliches' sein, nämlich den Menschen als das zeigen, was er der Auffassung dieser Richtung nach war: ein Produkt seiner Erbanlagen, seiner Triebe und seines sozialen Milieus.
2. Formal sollte die Literatur auf alles gefällige Herrichten ihrer Stoffe verzichten. Auf der Bühne sollte nicht mehr Hochdeutsch und in Versen gesprochen werden, sondern Alltagssprache und Dialekt. Erzählungen sollten nicht mehr den Erzähler erkennen lassen, sondern nur noch die Sachen und die Menschen, von denen die Rede war. Vor allem aber sollte alles Moralisieren oder Verallgemeinern unterbleiben und von den Autoren nur möglichst genau protokolliert werden, was der Fall war.
Fazit: Es ging dem Naturalismus um eine quasi wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Gegenwartsverhältnisse, teils um erkennbar zu machen, wie man sie verbessern kann, mehr noch aber, um sich für immer einen Platz in der Literaturgeschichte damit zu sichern.
Schon die Naturalisten selbst allerdings ahnten, dass das Publikum einer solchen Literatur nicht viel Interesse entgegenbringen würde, und so wurde gefordert, der Staat müsse sie unterstützen. Der allerdings dachte gar nicht daran, sondern reagierte per Theaterzensur mit Aufführungsverboten (wegen angeblich zu befürchtender Unruhen im Publikum) oder verklagte die Autoren wegen Gotteslästerung und der Verbreitung unzüchtiger Schriften. Das verschaffte dieser Literatur zwar sogar zusätzliche Beachtung und trug auch dazu bei, die Grenzen der Kunstfreiheit zu erweitern, konnte jedoch auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass man eine naturalistische Literatur eigentlich nicht brauchte. Die aufkommenden Sozialwissenschaften begannen mehr und mehr die Befunde zu liefern, auf die es den Naturalisten ihrem Programm nach ankam, und um den sozialen Einzelfall kümmerte sich zunehmend die journalistische Reportage. So war der Naturalismus wie eine Mode bald überholt, die verhältnismäßig kleine Zahl naturalistischer Dichtungen geriet in Vergessenheit und das literaturgeschichtlich Auffälligste blieb die große Zahl an Programmschriften.
Benutzte Literatur: Brauneck, Naturalismus. Manifeste und Dokumente 
                  zur deutschen Literatur,1987
Und die Werke des jungen Gerhart Hauptmann? Auch sie hätten sich schwerlich so lange behaupten können, wenn sie der naturalistischen Programmatik streng gefolgt wären. Wie sich aber auch an "Bahnwärter Thiel" beobachten lässt, gibt es Stilzüge bei Hauptmann, die zu dieser Richtung eher im Widerspruch stehen, sodass er eigentlich nur unter Vorbehalten als 'Naturalist' zu bezeichnen ist.
- I -
Sprung zur Textstelle Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen ...
Die zehn Jahre, die vor dem Einsatz der eigentlichen Handlung liegen, werden in einem knapp gehaltenen Bericht wiedergegeben: Fünf Jahre ist der Bahnwärter allein zur Kirche gekommen, zwei Jahre hat er mit seiner ersten Frau gelebt, dann nach deren Tod im Kindbett und einem Trauerjahr wiederum geheiratet und auch von dieser Frau nach einem Jahr einen Sohn bekommen. Den neun Jahren, auf die sich das addiert, ist noch ein Jahr mit beiden Söhnen hinzuzufügen, sodass zum Handlungseinsatz im Juni (siehe ABSCHNITT 2) nach zehn Jahren die Kinder etwa ein und drei Jahre alt sind.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden.
Wie schon das Urteil über Thiels erste Frau wird auch das über Lene zunächst als 'Meinung der Leute' wiedergegeben, sodass der Erzähler hier anscheinend nur Berichterstatter ist. Diese dem naturalistischen Objektivitäts-Gebot entsprechende Haltung wird allerdings nach und nach aufgegeben. Bereits im Folgesatz heißt es, dass dem Gesicht Lenes "im Gegensatz zu dem des Wärters die Seele abging" - ein klares Erzähler-Urteil. Danach wird wieder die Meinung der 'aufgebrachten Ehemänner' zitiert, doch mit dem Resumee -
Sprung zur Textstelle Er ... geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig.
- erweist sich endgültig, dass hier ein traditioneller 'allwissender' Erzähler am Werk ist. Nur von einem solchen kann Thiels sexuelle Abhängigkeit von Lene ja so bestimmt mitgeteilt werden. Schon im Folgesatz - "Zu Zeiten empfand er Gewissensbisse über diesen Umschwung der Dinge" - richtet sich der Blick dann allein auf Thiels Innenleben, von welchem auch im Weiteren vorwiegend die Rede ist. Der Erzählform nach handelt es sich also zu größeren Teilen um eine personale Erzählung.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Oft freilich und besonders in Augenblicken einsamer Andacht ... sah er seinen jetzigen Zustand im Lichte der Wahrheit und empfand davor Ekel.
Wird hier Thiel eine schon sehr weit reichende Einsicht bescheinigt, so rückt der Erzähler in der nachfolgenden Außensicht wieder etwas davon ab, wenn es heißt:
Sprung zur Textstelle Thiel aber ... schien keine Augen für sie [die Verwünschungen] zu haben und wollte auch die Winke nicht verstehen, welche ihm von wohlmeinenden Nachbarsleuten gegeben wurden.
Mit diesem Wechsel der Perspektive räumt der Erzähler gleichsam ein, dass auch er über Thiel letzte Gewissheit nicht hat, so wie es einem anderen Menschen gegenüber ja auch nur wahrscheinlich ist.
- II -
Sprung zur Textstelle Ein fruchtbares Wetter, dachte Thiel, als er aus tiefem Nachdenken erwachte und aufschaute.
fruchtbares Wetter = oder 'furchtbares Wetter'? Im Erstdruck in der 'Gesellschaft' und auch in der ersten Buchausgabe heißt es 'fruchtbar', in der Gesamtausgabe zu Hauptmanns 100. Geburtstag (Centenar-Ausgabe) in Band 6 'furchtbar', was auch die jüngeren Reclam-Ausgaben und andere Nachfolgedrucke übernommen haben. 'Furchtbar' passt der Stimmung nach eigentlich besser, 'fruchtbar' hingegen erscheint sachlich richtiger. Beide Wörter jedoch passen so ganz auch wieder nicht, sodass man nach einem anderen Wort suchen könnte. 'Scheußliches Wetter' würde es vielleicht besser treffen.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar ... Leicht, gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend.
Hauptmann verwendet hier dieselben Vergleiche, die er für die Beschreibung der Bahnstrecke benutzt. In ABSCHNITT III,1 heißt es, die Gleise "glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren, eisernen Netzmasche, deren schmale Strähnen sich ... in einem Punkte des Horizontes zusammenzogen". So deutet sich eine Ähnlichkeit zwischen Thiels Fesselung durch Lene und die Fesselung der 'unschuldigen' Natur durch das Eisenbahnnetz an. Die Ähnlichkeit setzt sich fort, wenn die Lokomotive als Ungeheuer und wildes Tier in den Frieden der Natur einbricht - so wie Lene in den Seelenfrieden Thiels. Restlos durchkalkulierbar ist diese Metaphorik allerdings nicht, weil Lene zuletzt stirbt, die Eisenbahn aber bleibt.
Aus der Sicht des Naturalismus oder der 'naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie' (siehe unter GESTALTUNG zu Abschnitt I) müssten diese Vergleiche allesamt natürlich für unzulässig erklärt werden. Ein Spinnennetz ist nicht aus Eisen, sexuelle Abhängigkeit ist nicht dem Objekt der Begierde, sondern dem Begehrenden anzulasten, eine Lokomotive ist kein Tier, sondern eine Maschine usw., d.h. es läge hier gerade die unwissenschaftliche Behandlung der Lebenswelt vor, die der Naturalismus überwinden wollte.
- III,1 -
Sprung zur Textstelle Die schwarzen, parallel laufenden Geleise darauf glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren, eisernen Netzmasche ... Auf den Drähten, die sich wie das Gewebe einer Riesenspinne von Stange zu Stange fortrankten ...
Hier werden die Vergleiche wieder aufgenommen, die zuvor für Thiels 'Fesselung' durch Lenes Körperlichkeit gebraucht werden (siehe GESTALTUNG zu Abschnitt II).
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich; aber sie erloschen zuerst. Und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, erst die Schäfte der Kiefern ... zuletzt nur noch den äußersten Rand der Wipfel mit einem rötlichen Schimmer streifend.
Nähme man diese Beschreibung beim Wort, würde Thiel wohl über eine Stunde an seiner Schranke warten, bevor der Zug eintrifft, weil ein Sonnenuntergang, der anfangs noch die Schienen erglühen, zuletzt aber nur noch die Baumwipfel rötlich schimmern lässt, nicht nur ein paar Minuten dauert. Es soll sich aber die ganze Erhabenheit der Natur aus dieser Zeitraffer-Aufnahme erschließen und dadurch der Einbruch der Technik in diese Welt als nur um so frevelhafter darstellen. Als das "schwarze, schnaubende Ungetüm" in der Ferne verschwindet, kehrt "das alte heilige Schweigen" in den Forst zurück.
Nach den Begriffen des 19. Jahrhunderts handelt es sich hier nicht um eine realistische Schilderung und schon gar nicht um eine naturalistische, aber in Kenntnis späterer Stilrichtungen würde man sie auch nicht 'unrealistisch' nennen. Sie hat einen 'surrealen', das Reale überzeichnenden Charakter, ohne dass allerdings der Erzähler dies kenntlich macht. Das Resultat ist jedenfalls eine Szene, in der sich die Abendstille der Natur, die Einsamkeit des Bahnwärterhauses und der an- und abschwellende Lärm des vorbeifahrenden Zuges in suggestiver Eindringlichkeit miteinander verbinden.
- III,2 -
Sprung zur Textstelle Aber es war etwas, das sie mit sich trug, in Tücher gewickelt, etwas Schlaffes, Blutiges, Bleiches ...
Der Traum ist nicht lediglich ein erzählerischer Vorgriff auf das unglückliche Ende von Tobias, sondern er erklärt sich auch aus dem seelischen Zustand, in dem sich Thiel befindet. Mit der Erkenntnis, dass er seinen Sohn im Stich gelassen, ihn Lene ausgeliefert hat, fühlt er sich seiner ersten Frau gegenüber schuldig.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen her ...
Der Vergleich der Lokomotive mit einem Ungetüm ist zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich, kündigt hier aber auch das Unglück an, das dann von dem Zug ausgeht.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Nachdem die Frau hastig eine dicke Brotkante verzehrt hatte, warf sie Tuch und Jacke fort und begann zu graben, mit der Geschwindigkeit und Ausdauer einer Maschine.
Der Vergleich Lenes mit einer Maschine wiederholt die Feststellung ihrer Seelenlosigkeit aus Abschnitt I, lässt aber auch an die Gefährlichkeit der Lokomotive denken.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Er begriff nicht, was die schmalen, schwarzen, vom Sonnenlicht erwärmten Schienen zu bedeuten hatten. Unaufhörlich tat er allerhand sonderbare Fragen.
Es soll zwar sicherlich nicht auffallen, ist aber kennzeichnend für Hauptmanns Absicht, Thiel von jeder Mitschuld an dem Unglück freizusprechen, wenn hier nichts darüber gesagt wird, ob und wie Thiel seinen Sohn über die Eisenbahn belehrt. Es hätte nahe gelegen, dass er ihn auf die Gefährlichkeit der Züge hinweist, ihm das Betreten der Gleise ohne seine Begleitung verbietet usw., zumal es wenig später heißt:
Sprung zur Textstelle Die Bahnzüge folgten einander in kurzen Zwischenräumen, und Tobias sah sie jedes Mal mit offenem Munde vorübertoben.
Doch auch hier erfährt man nichts über irgendwelche Warnungen oder Belehrungen. Ob es überhaupt wahrscheinlich ist, dass ein drei bis vier Jahre altes normales Kind keinerlei Angst vor einer Bahnstrecke hat, auf der es dauernd Züge vorbeitoben sieht, kann man sich sowieso fragen, aber die Erzählung lenkt den Blick in diese Richtung nicht.
- III,3 -
Sprung zur Textstelle Ein Aufschrei zerreißt die Luft von der Unglücksstelle her, ein Geheul folgt, wie aus der Kehle eines Tieres kommend.
Dass sich Lenes Schrei wie der eines Tieres anhört, ist hier wohl nicht abträglich gemeint, sondern soll nur Ausdruck ihres Entsetzens sein. Der mit diesem Satz eingeleitete Übergang der Erzählung ins Präsens soll die Dramatik der weiteren Vorgänge hervorheben, kann allerdings in seiner Absichtlichkeit auch als störend wahrgenommen werden.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Er meint sich zu erwecken, "denn es wird ein Traum sein, wie der gestern", sagt er sich, vergebens.
Mit Thiels Erinnerung an den Traum wird nachträglich auf dessen vorausweisende Bedeutung aufmerksam gemacht.
Sprung zur Textstelle Seine Mütze rollte in die Ecke, seine peinlich gepflegte Uhr fiel aus seiner Tasche, die Kapsel sprang, das Glas zerbrach.
Die Erzählung kehrt mit diesem Absatz ins Präteritum zurück, aber indem die Uhr, der Inbegriff der Pflichterfüllung, herunterfällt und zerbricht, deutet sich an, dass Thiel das bislang geführte Leben nicht wird fortsetzen können.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle "... Und da ... ja mit dem Beil - Küchenbeil, ja - schwarzes Blut!" Schaum stand vor seinem Munde ...
Mit der Schilderung dieses Anfalles kann Hauptmann die Schilderung der Tötung selbst umgehen - sicherlich eben das bezweckend, weil sie von unschöner Brutalität gewesen wäre und - mehr noch - das Mitleid mit Thiel hätte beeinträchtigen können.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Die Sonne goss ihre letzte Glut über den Forst, dann erlosch sie. Die Stämme der Kiefern streckten sich wie bleiches, verwestes Gebein zwischen die Wipfel hinein ...
Das Naturbild wird symbolisch mit Tod und Verwesung in Verbindung gebracht.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Mit eins begriff er, was er hatte tun wollen: seine Hand löste sich von der Kehle des Kindes, welches sich unter seinem Griffe wand.
Auch die Tötung des Kindes wird hier wahnhaft vorweggenommen und in Thiels Erschrecken über die beinahe vollendete Tat kenntlich gemacht, dass er nur unbewusst zu einer solchen Handlung fähig ist.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Wie eine riesige, purpurglühende Kugel lag der Mond zwischen den Kiefernschäften am Waldesgrund. Je höher er rückte, um so kleiner schien er zu werden, um so mehr erblasste er. Endlich hing er, einer Ampel vergleichbar, über dem Forst ...
Für den Aufgang des Mondes und seinen Aufstieg am Himmel gilt dasselbe wie für den Sonnenuntergang in Abschnitt III,1 - er dauert viel länger, als hier für den Heimtransport Thiels an Zeit anzusetzen ist. Das gälte erst recht, wenn man von dem Handlungsmonat Juni und damit den längsten Tagen des Jahres ausginge. Dann liefe der Mond nur niedrig über den Horizont und es wäre nur wenige Stunden überhaupt dunkel.
~~~~~~~~~~~~
Sprung zur Textstelle Nach Verlauf von einigen Stunden, als die Männer mit der Kindesleiche zurückkehrten, fanden sie die Haustür weit offen.
Sprung zur Textstelle ... die Nachforschungen, welche man noch in derselben Nacht anstellte, blieben erfolglos. Den Morgen darauf fand ihn der Dienst tuende Wärter zwischen den Bahngeleisen ...
Hier wird vollends sichtbar, dass diese Nacht in ihrer ganzen Ausdehnung eher eine Winternacht als eine Juninacht ist. So wie Thiel selbst Dunkelheit umgibt, soll auch das Geschehen Dunkelheit umgeben, das Naturbild drückt aus, was Schreckliches mit ihm und durch ihn geschieht. Der Herkunft nach ist dies ein romantisches Element und es wird wiederkehren in symbolistischen und expressionistischen Dichtungen. Im Naturalismus jedoch hat es gemäß der Forderung nach naturwissenschaftlicher Korrektheit eigentlich nichts zu suchen, so dass sich hier ein weiteres Mal zeigt, wie wenig Hauptmann seiner Erzählweise nach ein Naturalist ist.
Naturalistisch an "Bahnwärter Thiel" sind die Personen und die Handlung. Die Personen, weil es sich um Menschen des einfachen Volkes handelt, die fest an ihre engen Lebensverhältnisse gebunden sind, und die Handlung, weil darin ein Verbrechen (oder das Abgleiten in den Wahnsinn) fast schulmäßig aus dem Charakter, den sozialen Umständen und den besonderen Lebenserfahrungen des Täters - oder Opfers - hergeleitet ist. Der Zweck dieser Darstellung ist aber nicht, wie in sozial gerichteten Deutungen unterstellt wird, eine mehr oder weniger entschiedene Kritik an den gezeigten gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern der Zweck ist Verständnis, ist Mitleid. Auch zumal die Tatsache, dass Thiel am Ende in eine Krankenanstalt eingeliefert und nicht etwa zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wird, drückt den Mitleids-Gedanken aus.
Benutzte Literatur:  Krämer,  Gerhart Hauptmann - "Bahnwärter 
                  Thiel". Interpretation, 1980
~~~~~~~~~~~~
In der Erörterung der Novelle kann die Frage nach Thiels Verantwortlichkeit freilich doch gestellt werden. Dass alle Schuld der Frau gegeben wird, hält einem kritischen Blick nicht stand. Dies ließe sich in einer Anklage Thiels vor einem Schwurgericht durchspielen, in der der Staatsanwalt das folgende Plädoyer halten könnte:
Plädoyer des Staatsanwaltes in der Mordsache Thiel
Hohes Gericht, ehrwürdige Geschworene!
Wie Sie wissen, ist es allein auf das Betreiben der Staatsanwaltschaft zurückzuführen, dass der bereits in die Irrenabteilung der Charité eingewiesene Bahnwärter Thiel sich hier vor diesem Gericht wegen Mordes verteidigen muss. Ich kann deshalb den Antrag der Verteidigung, das Verfahren gegen ihn wegen Zurechnungsunfähigkeit einzustellen, nur auf das Schärfste zurückweisen. Auch wenn der Angeklagte zeitweilig einen geistesabwesenden Eindruck macht, ist er aus meiner Sicht in vollem Umfang für seine Tat, d.h. die Tötung seiner Frau und seines Sohnes, verantwortlich. Um Ihnen die ganze Schwere seiner Schuld vor Augen zu führen, muss ich Ihnen die Umstände dieser Tat und deren Vorgeschichte noch einmal darlegen.
Wie die Ermittlungen ergeben haben, müssen wir dabei bis in die Zeit zurückgehen, als Thiel - ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau - erneut geheiratet hat. Es war schon damals - ich erinnere an die Aussage des Pfarrers - für jeden Besonnenen offensichtlich, dass die von ihm vor den Altar geführte Lene, eine einfache Kuh-Magd, nicht zu ihm passte. Schlicht gesagt: Sie war für eine geistige Gemeinschaft mit Thiel vollkommen ungeeignet, Thiel hatte ein rein körperliches, sexuelles Interesse an ihr. Dass er die Versorgung seines Söhnchens Tobias dieser Frau anvertraute, war nicht nur eine Fehlentscheidung, nein, es ist ihm von vornherein nicht zu glauben, dass es ihm bei dieser Wahl überhaupt auf das Wohl seines Kindes ankam.
Er hätte erkennen müssen, dass dieser zarte Junge bei dieser Frau nicht gut aufgehoben war, sie machte aus ihrer Abneigung gegen das Kind auch kein Hehl. Anstatt nun aber dafür zu sorgen, dass sich die Übergriffe dieser sprichwörtlichen Stiefmutter gegen das Kind in erträglichen Grenzen hielten, sah Thiel weg und stellte seine Frau, wie hier übereinstimmend berichtet wurde, niemals deswegen auch nur zur Rede. Die sexuelle Befriedigung, die er bei ihr zu finden wünschte, war ihm wichtiger als alles andere, selbst schwere Misshandlungen des Jungen, deren Zeuge er war, ließ er der Frau deshalb durchgehen. Um sich seiner Schuldgefühle zu entledigen, tat er nichts weiter, als sich, wie seine Kollegen ausgesagt haben, in seinem Dienstraum einzuschließen und mit seiner ersten Frau stumme Zwiesprache zu halten. Als ein Beamter der Reichsbahn, der weiß, was Verantwortung ist, hätte er erkennen müssen, dass das dem Jungen nichts nützt, und natürlich hat er es auch erkannt, aber seine sexuellen Bedürfnisse waren ihm wichtiger.
Wenden wir uns nun dem Unglückstag zu, der die Tat ausgelöst hat. Wie sich ergeben hat, hat Thiel zunächst mit seinem Sohn seinen üblichen Streckenabschnitt inspiziert - nur allerdings, ohne dabei dem Vierjährigen über das Bahnwesen auch nur die einfachsten Unterweisungen zuteil werden zu lassen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den Jungen über die Geschwindigkeit der Züge, über die Gefahr, die sie bedeuten, über gewisse Sicherheitsvorkehrungen usw. zu unterrichten - doch was geschah stattdessen? Er ließ den Jungen Blumen pflücken und amüsierte sich noch darüber, wie dieser bloß verständnislos staunend zu den vorbeijagenden Zügen hinsah.
Ist das das Verhalten eines treu sorgenden Vaters? Ich sage nein. Dass er Lene dann anwies aufzupassen, dass der Junge den Gleisen nicht zu nahe kam, kann sein eigenes schweres Versäumnis in dieser Hinsicht nicht ausgleichen. Er hätte wissen müssen, dass Lene - ohnehin mit schwerer Arbeit befasst und abgelenkt - auf seine Worte nicht viel geben würde, war sie doch selbst das erste Mal mit an der Bahnstrecke und hätte selbst Belehrungen auf diesem Gebiet nötig gehabt. Auch hätte er, da er die Fahrzeit der Züge auf die Minute genau kannte, sich rechtzeitig versichern können und müssen, ob sich sein Junge in sicherem Abstand von den Gleisen befand, doch hat er nach eigener Aussage nicht einmal einen Blick in diese Richtung geworfen.
Dass dieser Mann, als das Unglück geschehen war, ausschließlich seiner Frau die Schuld daran gab, ist also unbegründet - er selbst ist der Hauptschuldige. Die Ohnmacht, in die er fiel, als ihm der Tod des Kindes bewusst wurde, scheint mir der sichere Beweis dafür zu sein. Man musste ihn also in sein Haus zurücktragen, und niemand von den Beteiligten ist dabei verborgen geblieben, dass sich besonders seine Frau aufopfernd um ihn bemühte. Dass sie doch schließlich an seiner Seite einschlief, ist ihr nicht vorzuwerfen - wie hätte nicht nach dieser Aufregung auch bei ihr die Natur ihr Recht fordern sollen!
Was jedoch tat Thiel? Die Einzelheiten der Tat liegen im Dunkeln, zumal der Täter jede Aussage dazu verweigert hat. Die Umstände, unter denen man die Frau und ihr Kind auffand, jedoch sprechen für sich. Seiner Frau hat er mit einem schweren Gegenstand - wahrscheinlich mit dem Beil, das zum Holzspalten neben dem Ofen stand - den Schädel eingeschlagen, und dem Kind hat er mit dem Brotmesser die Kehle durchgeschnitten. Die Verteidigung hat geltend gemacht, dass er es in geistiger Umnachtung getan habe. Ich frage jedoch: benutzt ein Täter in diesem Zustand verschiedene Werkzeuge? Es ist für mich überhaupt keine Frage, dass es sich hier um einen bei vollem Bewusstsein ausgeführten Mord handelt - einfach aus dem Motiv heraus, dass Thiel die Schuld, die er auf sich selbst lasten fühlte, ein für allemal seiner Frau zuschieben wollte. Sein Weglaufen danach, seine zeitweilige Verwirrtheit bedeuten nicht, dass er sich seines Handelns nicht bewusst gewesen ist. So kann mein Antrag nur lauten: Thiel ist wegen Mordes zu verurteilen, die Unterbringung in einer Irrenanstalt, aus der er bei Besserung seines Zustandes jederzeit entlassen werden könnte, stellt keine angemessene Sühne für seine Tat dar.
~~~~~~~~~~~~
Auf der Gegenseite könnte natürlich eine 'Verteidigung' alle die Argumente aufführen, die die Novelle selbst zur Erklärung von Thiels Tat liefert.