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- III,3 -
Sprung zur Textstelle Ein Aufschrei zerreißt die Luft von der Unglücksstelle her, ein Geheul folgt, wie aus der Kehle eines Tieres kommend.
Dass sich Lenes Schrei wie der eines Tieres anhört, ist hier wohl nicht abträglich gemeint, sondern soll nur Ausdruck ihres Entsetzens sein. Der mit diesem Satz eingeleitete Übergang der Erzählung ins Präsens soll die Dramatik der weiteren Vorgänge hervorheben, kann allerdings in seiner Absichtlichkeit auch als störend wahrgenommen werden.
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Sprung zur Textstelle Er meint sich zu erwecken, "denn es wird ein Traum sein, wie der gestern", sagt er sich, vergebens.
Mit Thiels Erinnerung an den Traum wird nachträglich auf dessen vorausweisende Bedeutung aufmerksam gemacht.
Sprung zur Textstelle Seine Mütze rollte in die Ecke, seine peinlich gepflegte Uhr fiel aus seiner Tasche, die Kapsel sprang, das Glas zerbrach.
Die Erzählung kehrt mit diesem Absatz ins Präteritum zurück, aber indem die Uhr, der Inbegriff der Pflichterfüllung, herunterfällt und zerbricht, deutet sich an, dass Thiel das bislang geführte Leben nicht wird fortsetzen können.
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Sprung zur Textstelle "... Und da ... ja mit dem Beil - Küchenbeil, ja - schwarzes Blut!" Schaum stand vor seinem Munde ...
Mit der Schilderung dieses Anfalles kann Hauptmann die Schilderung der Tötung selbst umgehen - sicherlich eben das bezweckend, weil sie von unschöner Brutalität gewesen wäre und - mehr noch - das Mitleid mit Thiel hätte beeinträchtigen können.
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Sprung zur Textstelle Die Sonne goss ihre letzte Glut über den Forst, dann erlosch sie. Die Stämme der Kiefern streckten sich wie bleiches, verwestes Gebein zwischen die Wipfel hinein ...
Das Naturbild wird symbolisch mit Tod und Verwesung in Verbindung gebracht.
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Sprung zur Textstelle Mit eins begriff er, was er hatte tun wollen: seine Hand löste sich von der Kehle des Kindes, welches sich unter seinem Griffe wand.
Auch die Tötung des Kindes wird hier wahnhaft vorweggenommen und in Thiels Erschrecken über die beinahe vollendete Tat kenntlich gemacht, dass er nur unbewusst zu einer solchen Handlung fähig ist.
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Sprung zur Textstelle Wie eine riesige, purpurglühende Kugel lag der Mond zwischen den Kiefernschäften am Waldesgrund. Je höher er rückte, um so kleiner schien er zu werden, um so mehr erblasste er. Endlich hing er, einer Ampel vergleichbar, über dem Forst ...
Für den Aufgang des Mondes und seinen Aufstieg am Himmel gilt dasselbe wie für den Sonnenuntergang in Abschnitt III,1 - er dauert viel länger, als hier für den Heimtransport Thiels an Zeit anzusetzen ist. Das gälte erst recht, wenn man von dem Handlungsmonat Juni und damit den längsten Tagen des Jahres ausginge. Dann liefe der Mond nur niedrig über den Horizont und es wäre nur wenige Stunden überhaupt dunkel.
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Sprung zur Textstelle Nach Verlauf von einigen Stunden, als die Männer mit der Kindesleiche zurückkehrten, fanden sie die Haustür weit offen.
Sprung zur Textstelle ... die Nachforschungen, welche man noch in derselben Nacht anstellte, blieben erfolglos. Den Morgen darauf fand ihn der Dienst tuende Wärter zwischen den Bahngeleisen ...
Hier wird vollends sichtbar, dass diese Nacht in ihrer ganzen Ausdehnung eher eine Winternacht als eine Juninacht ist. So wie Thiel selbst Dunkelheit umgibt, soll auch das Geschehen Dunkelheit umgeben, das Naturbild drückt aus, was Schreckliches mit ihm und durch ihn geschieht. Der Herkunft nach ist dies ein romantisches Element und es wird wiederkehren in symbolistischen und expressionistischen Dichtungen. Im Naturalismus jedoch hat es gemäß der Forderung nach naturwissenschaftlicher Korrektheit eigentlich nichts zu suchen, so dass sich hier ein weiteres Mal zeigt, wie wenig Hauptmann seiner Erzählweise nach ein Naturalist ist.
Naturalistisch an "Bahnwärter Thiel" sind die Personen und die Handlung. Die Personen, weil es sich um Menschen des einfachen Volkes handelt, die fest an ihre engen Lebensverhältnisse gebunden sind, und die Handlung, weil darin ein Verbrechen (oder das Abgleiten in den Wahnsinn) fast schulmäßig aus dem Charakter, den sozialen Umständen und den besonderen Lebenserfahrungen des Täters - oder Opfers - hergeleitet ist. Der Zweck dieser Darstellung ist aber nicht, wie in sozial gerichteten Deutungen unterstellt wird, eine mehr oder weniger entschiedene Kritik an den gezeigten gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern der Zweck ist Verständnis, ist Mitleid. Auch zumal die Tatsache, dass Thiel am Ende in eine Krankenanstalt eingeliefert und nicht etwa zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wird, drückt den Mitleids-Gedanken aus.
Benutzte Literatur:  Krämer,  Gerhart Hauptmann - "Bahnwärter 
                  Thiel". Interpretation, 1980
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In der Erörterung der Novelle kann die Frage nach Thiels Verantwortlichkeit freilich doch gestellt werden. Dass alle Schuld der Frau gegeben wird, hält einem kritischen Blick nicht stand. Dies ließe sich in einer Anklage Thiels vor einem Schwurgericht durchspielen, in der der Staatsanwalt das folgende Plädoyer halten könnte:
Plädoyer des Staatsanwaltes in der Mordsache Thiel
Hohes Gericht, ehrwürdige Geschworene!
Wie Sie wissen, ist es allein auf das Betreiben der Staatsanwaltschaft zurückzuführen, dass der bereits in die Irrenabteilung der Charité eingewiesene Bahnwärter Thiel sich hier vor diesem Gericht wegen Mordes verteidigen muss. Ich kann deshalb den Antrag der Verteidigung, das Verfahren gegen ihn wegen Zurechnungsunfähigkeit einzustellen, nur auf das Schärfste zurückweisen. Auch wenn der Angeklagte zeitweilig einen geistesabwesenden Eindruck macht, ist er aus meiner Sicht in vollem Umfang für seine Tat, d.h. die Tötung seiner Frau und seines Sohnes, verantwortlich. Um Ihnen die ganze Schwere seiner Schuld vor Augen zu führen, muss ich Ihnen die Umstände dieser Tat und deren Vorgeschichte noch einmal darlegen.
Wie die Ermittlungen ergeben haben, müssen wir dabei bis in die Zeit zurückgehen, als Thiel - ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau - erneut geheiratet hat. Es war schon damals - ich erinnere an die Aussage des Pfarrers - für jeden Besonnenen offensichtlich, dass die von ihm vor den Altar geführte Lene, eine einfache Kuh-Magd, nicht zu ihm passte. Schlicht gesagt: Sie war für eine geistige Gemeinschaft mit Thiel vollkommen ungeeignet, Thiel hatte ein rein körperliches, sexuelles Interesse an ihr. Dass er die Versorgung seines Söhnchens Tobias dieser Frau anvertraute, war nicht nur eine Fehlentscheidung, nein, es ist ihm von vornherein nicht zu glauben, dass es ihm bei dieser Wahl überhaupt auf das Wohl seines Kindes ankam.
Er hätte erkennen müssen, dass dieser zarte Junge bei dieser Frau nicht gut aufgehoben war, sie machte aus ihrer Abneigung gegen das Kind auch kein Hehl. Anstatt nun aber dafür zu sorgen, dass sich die Übergriffe dieser sprichwörtlichen Stiefmutter gegen das Kind in erträglichen Grenzen hielten, sah Thiel weg und stellte seine Frau, wie hier übereinstimmend berichtet wurde, niemals deswegen auch nur zur Rede. Die sexuelle Befriedigung, die er bei ihr zu finden wünschte, war ihm wichtiger als alles andere, selbst schwere Misshandlungen des Jungen, deren Zeuge er war, ließ er der Frau deshalb durchgehen. Um sich seiner Schuldgefühle zu entledigen, tat er nichts weiter, als sich, wie seine Kollegen ausgesagt haben, in seinem Dienstraum einzuschließen und mit seiner ersten Frau stumme Zwiesprache zu halten. Als ein Beamter der Reichsbahn, der weiß, was Verantwortung ist, hätte er erkennen müssen, dass das dem Jungen nichts nützt, und natürlich hat er es auch erkannt, aber seine sexuellen Bedürfnisse waren ihm wichtiger.
Wenden wir uns nun dem Unglückstag zu, der die Tat ausgelöst hat. Wie sich ergeben hat, hat Thiel zunächst mit seinem Sohn seinen üblichen Streckenabschnitt inspiziert - nur allerdings, ohne dabei dem Vierjährigen über das Bahnwesen auch nur die einfachsten Unterweisungen zuteil werden zu lassen. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, den Jungen über die Geschwindigkeit der Züge, über die Gefahr, die sie bedeuten, über gewisse Sicherheitsvorkehrungen usw. zu unterrichten - doch was geschah stattdessen? Er ließ den Jungen Blumen pflücken und amüsierte sich noch darüber, wie dieser bloß verständnislos staunend zu den vorbeijagenden Zügen hinsah.
Ist das das Verhalten eines treu sorgenden Vaters? Ich sage nein. Dass er Lene dann anwies aufzupassen, dass der Junge den Gleisen nicht zu nahe kam, kann sein eigenes schweres Versäumnis in dieser Hinsicht nicht ausgleichen. Er hätte wissen müssen, dass Lene - ohnehin mit schwerer Arbeit befasst und abgelenkt - auf seine Worte nicht viel geben würde, war sie doch selbst das erste Mal mit an der Bahnstrecke und hätte selbst Belehrungen auf diesem Gebiet nötig gehabt. Auch hätte er, da er die Fahrzeit der Züge auf die Minute genau kannte, sich rechtzeitig versichern können und müssen, ob sich sein Junge in sicherem Abstand von den Gleisen befand, doch hat er nach eigener Aussage nicht einmal einen Blick in diese Richtung geworfen.
Dass dieser Mann, als das Unglück geschehen war, ausschließlich seiner Frau die Schuld daran gab, ist also unbegründet - er selbst ist der Hauptschuldige. Die Ohnmacht, in die er fiel, als ihm der Tod des Kindes bewusst wurde, scheint mir der sichere Beweis dafür zu sein. Man musste ihn also in sein Haus zurücktragen, und niemand von den Beteiligten ist dabei verborgen geblieben, dass sich besonders seine Frau aufopfernd um ihn bemühte. Dass sie doch schließlich an seiner Seite einschlief, ist ihr nicht vorzuwerfen - wie hätte nicht nach dieser Aufregung auch bei ihr die Natur ihr Recht fordern sollen!
Was jedoch tat Thiel? Die Einzelheiten der Tat liegen im Dunkeln, zumal der Täter jede Aussage dazu verweigert hat. Die Umstände, unter denen man die Frau und ihr Kind auffand, jedoch sprechen für sich. Seiner Frau hat er mit einem schweren Gegenstand - wahrscheinlich mit dem Beil, das zum Holzspalten neben dem Ofen stand - den Schädel eingeschlagen, und dem Kind hat er mit dem Brotmesser die Kehle durchgeschnitten. Die Verteidigung hat geltend gemacht, dass er es in geistiger Umnachtung getan habe. Ich frage jedoch: benutzt ein Täter in diesem Zustand verschiedene Werkzeuge? Es ist für mich überhaupt keine Frage, dass es sich hier um einen bei vollem Bewusstsein ausgeführten Mord handelt - einfach aus dem Motiv heraus, dass Thiel die Schuld, die er auf sich selbst lasten fühlte, ein für allemal seiner Frau zuschieben wollte. Sein Weglaufen danach, seine zeitweilige Verwirrtheit bedeuten nicht, dass er sich seines Handelns nicht bewusst gewesen ist. So kann mein Antrag nur lauten: Thiel ist wegen Mordes zu verurteilen, die Unterbringung in einer Irrenanstalt, aus der er bei Besserung seines Zustandes jederzeit entlassen werden könnte, stellt keine angemessene Sühne für seine Tat dar.
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Auf der Gegenseite könnte natürlich eine 'Verteidigung' alle die Argumente aufführen, die die Novelle selbst zur Erklärung von Thiels Tat liefert.