[Abschnitt 2]
Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerte Marsch,
zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee; zwar sollte man vom
Deiche aus auf Halligen und Inseln sehen können ...
Mit der Angabe, dass der Reiter zu seiner Rechten die Sicht auf Inseln und Halligen hätte haben können, ist der Schauplatz
der Handlung verhältnismäßig genau bestimmt. Es handelt sich um den Küstenabschnitt nördlich von
Husum, wo neben den Inseln Föhr, Langeneß und Pellworm auch die Halligen liegen.
... ich hatte Geschäfte in der Stadt, die auch jetzt wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden vor mir lag
Die von dem Reiter zurückzulegende Strecke bis zur Stadt beträgt bei vier bis fünf Stunden Reitzeit etwa 40 km entlang der
Küste. Es handelt sich also um die folgende Gegend:
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Die Nordseeküste mit den nordfriesischen Inseln.
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... wir, hier an der Ostseite, aber glauben, jetzt außer Gefahr zu sein; nur drüben an der andern Seite ist's nicht sicher, die Deiche sind dort
meist noch mehr nach altem Muster ...
Die andere, westlichere Seite kann nur die einer der Inseln und wegen der nicht so großen Entfernung am ehesten die von
Nordstrand sein (damals noch nicht mit dem Festland verbunden).
[Abschnitt 3]
... blieb der Gang nordwärts nach dem Haff hinaus für Hauke Haien die beste Unterhaltung ...
... denn er ging, als er zu den Häusern gekommen war, dem seines Vaters und auch den übrigen vorbei und eine
weite Strecke noch nach Süden auf dem Deich der Stadt zu ...
... es lief bald um im Geest- und unten in dem Marschdorf
Das Dorf, in dem Hauke Haien aufwächst, in Abschnitt 13 unterschieden noch in ein Geest- und in ein Marschdorf, schließt
sich an eine Stadt an, die weiter südlich gelegen ist, während das einsame Meer mit den Deichen nördlich von
diesem Haus liegt. Diese Szenerie ist allerdings erst nach wiederholten Verbesserungen der Himmelsrichtungsangaben erstellt
worden, d.h. Storm hatte nicht sofort eine präzise Vorstellung von ihr. Schon im Mai 1885, also im ersten Stadium der Arbeit, hat er
sich aber von der Tochter des Bauinspektors Christian Eckermann eine Karte der Schimmelreiter-Gegend zeichnen lassen, "wie es
eben vor der großen Fluth von ann. 1634 war [...], die Deiche, wenn solche angegeben sind, möglichst deutlich, sowie die
Ortsnamen". In dieser Karte, die sich in seinem Nachlass erhalten hat, ist auch der Hattstedter 'Neue Koog' ausgewiesen, der nach
Lage und Proportion das Vorbild für den 'Hauke-Haien-Koog' abgab.
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Die für Storm angefertigte Karte von 1885.
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Den Küstenverlauf zur Zeit der Schimmelreiter-Handlung, also um die Mitte des 18. Jahrhunderts, gibt diese Karte aber nicht wieder. Der
Hattstedter 'Neue Koog' entstand schon 1512, und andere Köge kamen nach der Flut von 1634 noch im 17. Jahrhundert dazu. Mit irgendwelchen
authentischen Ortsverhältnissen, die auch nur annähernd der Handlungszeit der Novelle entsprächen, hat Storms Schauplatz-Ausstattung also
nichts zu tun. - Authentische Karten für die Zeit nach der Flut von 1634 und für die Entwicklung danach hat Reimer Kay Holander seiner
Untersuchung zu 'Dichtung und Wirklichkeit' des "Schimmelreiters" beigegeben.
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Der Küstenverlauf um 1634
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Der Küstenverlauf um 1976
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Auf der Grundlage von Storms topographischen Angaben lässt sich - in Anlehnung an das authentische Kartenbild - der Küstenabschnitt
der Schimmelreiter-Handlung vor dem Bau des neuen Deiches aber folgendermaßen verdeutlichen:
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Der Küstenabschnitt der Schimmelreiter-Handlung vor dem Bau des neuen Deiches
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[Abschnitt 7]
... und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken gebauten Kirchturms hinauf ...
Die Kirche von Hattstedt bei Husum hat einen solchen aus Felsblöcken gesetzten Turm.
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Die Kirche von Hattstedt
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Auch das in
Abschnitt 12, Absatz 4 erwähnte gemauerte Tor,
das zu Kirche und Kirchhof führt, ist an dieser Kirche zu finden.
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Das gemauerte Tor vor der Kirche von Hattstedt.
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[Abschnitt 13]
Kaum dass er es selber wusste, befand er sich oben auf dem Haffdeich, schon eine weite Strecke südwärts nach der
Stadt zu; das Dorf, das nach dieser Seite hinauslag, war ihm zur Linken längst verschwunden; noch immer schritt er weiter, seine
Augen unablässig nach der Seeseite auf das breite Vorland gerichtet ...
Hier wird die Lage des neuen Kooges und seine Sicherung durch einen neuen Deich verhältnismäßig genau lokalisiert:
südlich des Dorfes in Richtung der Stadt.
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Der Küstenabschnitt der Schimmelreiter-Handlung mit dem geplanten neuen Koog
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... bei einem Deichbau auf der andern Seite, vor wohl hundert Jahren ...
Die 'andere Seite' ist die einer vorgelagerten Insel, also der Geographie nach die Küste der vor Husum liegenden Insel Nordstrand.
[Abschnitt 14]
Von der Hofstelle des Deichgrafen, etwa fünf- bis sechshundert Schritte weiter nordwärts, sah man derzeit, wenn man auf dem
Deiche stand, ein paar tausend Schritt ins Wattenmeer hinaus und etwas weiter von dem gegenüberliegenden Marschufer
entfernt eine kleine Hallig, die sie 'Jeverssand', auch 'Jevershallig' nannten.
Hier lehnt sich Storm offenbar an die Gegebenheiten von Hattstedt an. In der Karte von Johannes Mejer von 1652, die Storm kannte ('Vom Sudertheil des
Herzogthumbes Schleswieg Anno 1650'), ist vor dem Vorland des Hattstedter 'Neuen Kooges' die Harmelfshallig
verzeichnet.
Die Lage 'nördlich des Deichgrafenhofes' lässt sich allerdings in die Schimmelreiter-Topographie nicht übernehmen, da dann
auch das gegenüberliegende Ufer an eine Stelle verlegt werden müsste, wo es seit der Sturmflut von 1632 nicht mehr war. Die
'Jevershallig' ist deshalb in den handlungsbezogenen Karten an die Südflanke des neuen Kooges gerückt.
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Der Küstenabschnitt vor Hattstedt in der Karte von Johannes Mejer (1652)
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[Abschnitt 17]
Acht Fuß ragte der Deich aus der Fläche hervor; nur wo westwärts gegen das Wasser hin die Schleuse gelegt
werden sollte, hatte man eine Lücke gelassen; auch oben vor dem alten Deiche war der Priel noch unberührt.
So konnte die Flut, wie in den letzten dreißig Jahren, in den Koog hineindringen ...
Mit acht Fuß (etwa 2,40 Meter) hat der Deich die Hälfte der vorgesehenen Höhe erreicht
(siehe
Abschnitt 18, Absatz 3). Warum die Schleuse nicht an
der Stelle des Prieles, sondern am entgegengesetzten Ende des neuen Kooges errichtet wird, bleibt unerklärt.
Vielleicht hätte eine Schleuse vor einem solchen Priel dem Wasserdruck bei einer Sturmflut nicht stand gehalten, denn eben
an dieser Stelle wird ja sogar der alte Deich dann brechen.
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Der Deich nach dem ersten Baujahr.
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[Abschnitt 22]
Schon war er unten von der Südostecke aus auf dem neuen Deich herumgeritten ... als er aber an die Nordostecke gekommen war, dort,
wo der neue Deich auf den alten stößt, war zwar der erstere unversehrt,
aber wo früher der Priel den alten erreicht hatte und an ihm entlanggeflossen war, sah er in großer Breite die Grasnarbe zerstört...
Die Himmelsrichtungsangaben sind zwar etwas undurchsichtig - eine 'Südostecke' des Deiches kann es eigentlich nicht geben,
allenfalls eine Südecke -, doch wird für die Schadensstelle die Lokalisierung genau vorgenommen: Es ist der alte Priel, der
den Deich angreift, und da der neue Deich ihm anscheinend standhält, ist es der Übergang zu dem alten Deich, wo der Schaden entsteht.
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Die schadhafte Stelle am alten Deich
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Wie Karl Ernst Laage in den Anmerkungen zu seiner Edition des 'Schimmelreiters ' dargelegt hat, sind die Himmelsrichtungsangaben
von Storm auch wiederholt geändert worden - er hatte offensichtlich selbst Schwierigkeiten, die Topographie des Schauplatzes in
allen Handlungsmomenten widerspruchsfrei zu bestimmen.
[Abschnitt 23]
... lag der alte Koog mit seinen Werften und heimatlichen Häusern; ... Weib und Kind. Gottlob, sie saßen sicher auf der hohen
Werfte! Die andern, gewiss, sie waren schon im Geestdorf droben; von dort her schimmerte soviel Lichtschein, wie er niemals
noch gesehen hatte ...
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Der überflutete alte Koog
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[Abschnitt 24]
Aber der Hauke-Haien-Deich steht noch jetzt nach hundert Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt reiten
und die halbe Stunde Umweg nicht scheuen wollen, so werden Sie ihn unter den Hufen Ihres Pferdes haben.
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Die Küste mit dem Hauke-Haien-Deich und dem neuen Koog.
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