[Abschnitt 2]
Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag - so begann der damalige Erzähler -, als ich bei starkem Unwetter ...
Dass der Erzähler von 1838 seine Erzählung mit einer solchen Zeitabstands-Formulierung beginnt, ist eigentlich unlogisch. Zu erwarten
wäre ein "Es ist jetzt drei Jahre her, dass ich ..." oder eine bestimmte 1830er Jahreszahl, so wie die Ursprungsgeschichte in den
'Pappeschen Lesefrüchten' ja auch einsetzt: "Es war in den ersten Tagen des Monats April, im Jahre 1829 ..." (siehe unter
ZITATE). Falls es sich hier nicht bloß um einen perspektivischen Fehler Storms handelt
(was das Nächstliegende ist), könnte hinter dieser Formulierung die Absicht stecken, die ganze Geschichte sofort in eine weit entfernte
Vergangenheit zu versetzen, so dass auch Wahrscheinlichkeits-Einwände nicht mehr aufgerufen werden.
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... mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mir vorübergestoben ...
Ein bemerkenswerter Unterschied zu der Ursprungsgeschichte ist, dass bei Storm die Erscheinung des Schimmelreiters lautlos kommt und
geht und insgesamt so wesenlos bleibt, dass auch das Pferd des Erzählers sie nicht wahrnimmt. Mit anderen Worten: es kann sich auch
um eine Einbildung handeln. Dort - in der Ursprungsgeschichte - jedoch ist diese Erscheinung nicht bloß zu hören, sondern auch das
Pferd scheut vor ihr zurück, es gibt also den gespenstischen Reiter wirklich (siehe unter
ZITATE).
So handfest wollte Storm die Existenz dieser Erscheinung aber offenbar nicht behaupten, sie hätte dann ja auch den Erzähler
mehr beunruhigen und beschäftigen müssen.
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Das Wasser war, trotz des schützenden Deiches, auffallend unbewegt; der Reiter konnte es nicht getrübt haben; ich sah nichts weiter von ihm.
Die Formulierung "trotz des Deiches ... unbewegt" hat dazu geführt, dass man auf einen Irrtum Storms geschlossen und den Text in
vielen Ausgaben in "trotz des Deiches ... bewegt" abgeändert hat. Da sowohl im Manuskript wie im Erstdruck 'unbewegt' steht, liegt
eine andere Erklärung jedoch näher. Die Formulierung soll offenbar bedeuten: 'Das Wasser war - auch in Anbetracht des schützenden Deiches -
auffallend unbewegt; der Reiter konnte es nicht getrübt, d.h. er konnte es nicht berührt haben (obwohl er gerade an dieser Stelle verschwunden war).'
Mit anderen Worten: Eigentlich wäre eine bewegte Fläche zu erwarten gewesen, aber es ist das unheimliche Gegenteil der Fall. Der Reiter scheint
in dieses Wasser wie in ein Jenseits eingetaucht zu sein, zumal es nun sogar besonders ruhig daliegt.
Was den Ort seines Verschwindens angeht, so erklärt er sich erst aus dem Ende der Novelle. Es handelt sich genau um die Stelle, an der Hauke Haien beim
Deichbruch den Tod gefunden hat. Als nämlich später im Krug erneut berichtet wird, der Schimmelreiter sei gesehen worden, heißt es auf die
Frage 'Wo?': "Es ist ja nur die eine Wehle; in Jansens Fenne, wo der Hauke-Haien-Koog beginnt." (Siehe
Abschnitt 11,
Absatz 5). Damit verschwindet der Schimmelreiter in eben dem Wasserloch, das zurückgeblieben ist, als 1756 der alte Deich neben dem neuen
gebrochen ist, also dort, wo auch Hauke Haien mit Frau und Kind in den Fluten umkommt.
Da dieser Zusammenhang in der bloßen Lektüre sicherlich nicht wahrgenommen wird, eignet er sich gut für eine Aufgabe: Was bedeutet
das Verschwinden des Schimmelreiters in einer bestimmten Wehle (Abschnitt 2), wenn man berücksichtigt, wo diese Wehle liegt? (Abschnitte
11 und 23)? Das Fazit: Storm klärt den Spuk um den Schimmelreiter keineswegs auf, sondern er stützt ihn, indem er hinter dem Rücken
des Erzählers Dinge stattfinden lässt, die eigentlich erörtert werden müssten. Der Erzähler kommt ja auf sein Deicherlebnis
nicht mehr zurück, denn die spätere Aufklärung, die ursprünglich dazu erfolgen sollte, hat Storm gestrichen (sie unter GESTALTUNG
zu
Abschnitt 24).