[Vierter Teil]
... und es ist mit Tadel hervorzuheben, dass es ebenso viel die Furcht vor der Schande, als armer Schneider entdeckt zu werden und
dazustehen, als das ehrliche Gewissen war, was ihm den Schlaf raubte.
Mit der moralisierenden Bemerkung soll wohl mehr der Form genügt als ein wirklicher Tadel ausgesprochen werden, denn das
'ehrliche Gewissen' ist von der 'Furcht vor Schande' ja nicht deutlich zu trennen. Im Weiteren überwiegt auch die Hervorhebung von Strapinskis
guten Vorsätzen, und es ist nur seiner Liebe zu Nettchen zuzuschreiben, wenn er sie nicht auf dem direktesten Wege verwirklicht.
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Wie konnte er diesem Wesen nun eine solche Entwicklung bereiten? Wie konnte er das Schicksal, das ihn gewaltsam so erhöht hatte, so
frevelhaft Lügen strafen und sich selbst beschämen?
Aus der zuvor übertrieben mit Schmuck behängten Kleinstädterin wird nun 'dieses Wesen', das Strapinski nicht zu enttäuschen
wagt - es soll ersichtlich die Liebesszene, auf die die Geschichte zusteuert, von den früheren Abträglichkeiten nicht mehr berührt werden.
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... und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen Adlerflügeln; es
war ein wahrhaft schönes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien.
Der Satz zeigt wiederum Zwiespalt an, in dem sich Keller dem Geschehen gegenüber befindet. Nettchen ist jetzt eine 'stolze, schneeweiße Gestalt',
die von Strapinski 'wie mit schwarzen Adlerflügeln' umarmt wird, aber zu diesem 'wahrhaft schönen Bild' wird nur trocken bemerkt, dass
es 'seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien'. So kann nur jemand sprechen, der sich jedes Mitempfinden versagt und
es auch dem Leser nicht zugestehen will.
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Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand und gewann das Glück, das öfter den Unverständigen hold ist.
Auch dieser Satz verbindet einander widersprechende Vorstellungen. Eigentlich ist als Aussage zu erwarten, dass Strapinski, weil er in dieser Situation
seinen Verstand verliert, es ewig zu bereuen hat. Dass er mit Nettchen 'das Glück' gewinnt, ist - den Erzähler beim Wort genommen - bis zu diesem
Moment nicht zu vermuten. Aber man merkt natürlich an der demonstrativ ironischen Formulierung, dass ihm das Paar sympathisch ist und
sich die früheren abträglichen Bemerkungen über die beiden erledigt haben.
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Aus einem duftig bereiften Walde heraus brach ein Wirrwarr von bunten Farben und Gestalten und entwickelte sich zu einem Schlittenzug,
welcher hoch am weißen Feldrande sich auf den blauen Himmel zeichnete ...
Schon deutsche Zeitgenossen Kellers haben das Unwahrscheinliche dieses Aufzuges beanstandet, der mit einem Schlitten-Korso, eigens angefertigten
mehrere Meter hohen Figuren und einstudierten Scharaden zu weiter nichts dient, als einen Schneider zu blamieren, der
sich der Hochstapelei schuldig gemacht hat. Keller hat sich Theodor Storm gegenüber damit verteidigt, dass solche Auszüge in der
Schweiz nicht einmal als etwas Besonderes auffielen, weil es jeder erlebt hat (Brief vom 25.6.1878).
An eine solche Alltäglichkeit möchte man allerdings doch nicht glauben, zumal Keller eine Schwäche für solche 'Schnurren', wie er es nannte,
in einem anderen Zusammenhang freimütig eingestanden hat. In einem Brief an Paul Heyse vom 27. Juli 1881 schreibt er:
Es existiert seit Ewigkeit eine ungeschriebene Komödie in mir, ... deren derbe Szenen ad hoc sich gebärden und in meine
fromme Märchenwelt hereinragen. Bei allem Bewußtsein ihrer Ungehörigkeit ist es mir alsdann, sobald sie unerwartet da sind, nicht
mehr möglich, sie zu tilgen. Ich glaube, wenn ich einmal das Monstrum von Komödie wirklich hervorgebracht hätte, so wäre ich von dem
Übel befreit. ... Die Unwahrscheinlichkeit betreffend, ... so ist sie in allen Fällen die gleiche. Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit
der Poesie, d.h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne
weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Kulturwandlungen nehmen lassen soll.

Eine solche fabelhaft-unwahrscheinliche Konstruktion liegt auch hier vor, weil einerseits diese Entlarvungs-Aktion viel zu bombastisch ausfällt, als
dass man sie noch für glaubhaft halten könnte, und weil andererseits sowohl Strapinski wie auch die Goldacher auf der Stelle hätten begreifen
müssen, was mit ihr bezweckt wird. Aber natürlich rechnet man einer so willentlich märchenhaften Erfindung das nicht vor.
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"... der wie ein Raphael aussieht und unsern Dienstmägden, auch der Pfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein bisschen
übergeschnappt ist!"
Dass man entweder Dienstmagd oder 'ein bisschen übergeschnappt' sein muss, um an einem solchen Schönling Gefallen zu finden,
ist die letzte kleine Bosheit, die sich der Erzähler Strapinski sowie auch Nettchen gegenüber erlaubt. Im Weiteren wird ihr Liebesverhältnis
nicht mehr infrage gestellt.
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Da stand er langsam auf und ging mit schweren Schritten hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große Tränen aus
denselben fielen.
Strapinski erscheint mit dieser Demaskierung jetzt weit mehr gestraft, als er es verdient, obwohl nur das eintritt, was ihm
für seinen 'abschüssigen Weg des Bösen' vorhergesagt wird (siehe
Erster Teil).