Zur Wirkung allgemein

"Kleider machen Leute" ist unter den Seldwyla-Novellen der zweiten Folge von Anfang an am meisten aufgefallen. Die Geschichte
des Schneidergesellen, der auf Grund seiner Kleider für etwas Besseres gehalten wird und dadurch in allerlei Abenteuer hineingerät,
konnte einem schon bekannt vorkommen, wenn man von ihr nur hörte. Schon im Oktober 1873, noch bevor die deutsche Ausgabe auf
dem Markt war, erschien in einer französisch-schweizerischen Zeitschrift eine Übersetzung, "L'Habit fait l'homme", für
die der Stuttgarter Verlag die Korrekturfahnen ausgeliehen hatte. Ihr folgten noch zu Kellers Lebzeiten Übersetzungen ins Englische
und Dänische, später solche in viele weitere Sprachen.


Ein Ärgernis war Keller die Nach- und Umbildung der Geschichte durch die Schweizer Schriftstellerin Goswina
von Berlepsch (1845-1916). In ihrer Novelle "Der Chevalier" (in "Ledige Leute", Leipzig 1886) bringt es ein Schneider - unehelicher
Sohn eines Grafen - durch Fleiß, und Umsicht bis zum Teilhaber eines großen Kleidungsgeschäftes und gewinnt dabei so viel an Weltkenntnis
und Lebensart, dass er sich für Höheres bestimmt glaubt. Eine Reise bringt ihn mit Adligen zusammen, die ihn für einen Grafen halten, eine
Romanze zu einem jungen Mädchen entwickelt sich, bis er bei der Verlobung mit ihr gestehen muss, dass er von Beruf Schneider ist.
Die adlige Familie verstößt ihn, und er endet mit dem Spottnamen 'Chevalier' als einsamer Sonderling. Keller fand, dass
die Schriftstellerin seine Novelle nur
umgenäht hat[te] wie der Schneider eine alte Jacke, doch lässt diese
Variante mehr schon an Thomas Manns Hochstapler Felix Krull (1955) denken, als dass sie noch an "Kleider machen
Leute" erinnert.


Frühzeitig bot sich der Stoff auch für die Bühne an. Allein drei Opern wurden nach ihm komponiert,
am bekanntesten die des österreichischen Komponisten Alexander Zemlinsky (1871-1942), die 1910 in Wien erstmals aufgeführt
wurde. Sie folgt in einem Vorspiel und zwei (später drei) Akten dem äußeren Geschehen der Novelle genau, was nur zeigt,
dass die Geschichte schon in sich dramenähnlich aufgebaut ist. Eine zweite Oper komponierte 1934 der Münchner Komponist
Joseph Suder (1892-1980), uraufgeführt 1964 im bayerischen Coburg, und eine dritte der Österreicher Marcel Rubin (1905-1995),
uraufgeführt 1973 in Wien. Aber auch ein Hörspiel entstand - schon 1932 - nach dem Stoff, 1939 eine Komödie des
Drehbuch-Schreibers Arnold Schwengeler und in jüngerer Zeit noch eine ausgearbeitete Pantomime (Schehadè, Paris 1973)
und sogar eine 'Revue für Kinder ab drei Jahren' (Gerhards /Knappe /Merz, Verden 2004).

Wichtiger für die Popularität der Geschichte wurden aber die drei Verfilmungen. Die erste entstand schon 1921
unter der Regie von Hans Steinhoff (1885-1945), als zweite folgte 1940 die durch Helmut Käutner (1908-1980)
mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle und eine weitere gab es 1963 durch Paul Verhoeven und den Westdeutschen Rundfunk
mit Hanns Lothar. Die beiden jüngeren Filme werden am Ende dieser Ebene, unter den Bildern des sechsten Teils, vorgestellt
und mit jeweils einem kurzen Szenenausschnitt dokumentiert.

Die weitaus größte Verbreitung erfuhr die Novelle aber dadurch, dass sie zur Schullektüre wurde. Das begann schon in den
1920er Jahren, setzte sich über das Dritte Reich hinweg in beiden Teilen Deutschlands fort und hält bis heute an. Zahlreiche
Ausgaben kamen allein für diesen Zweck auf den Markt, auch solche mit nur ausgewählten Textpartien für den
fremdsprachlichen Unterricht, und natürlich eine Reclam-Ausgabe im Jahre 1940.

Die Karriere von "Kleider machen Leute" als Schultext hat es gleichzeitig allerdings mit sich gebracht, dass illustrierte Ausgaben von
dem Werk nicht allzu viele erschienen sind. Es sind nicht einmal zwei Dutzend, und die Mehrzahl von ihnen enthält nur wenig ansehnliche
Federzeichnungen. Oder hat das eher mit dem die Fantasie nicht besonders anregenden, allzu äußerlichen Geschehen zu tun? Etwas
anderes als der Verlauf der Handlung ist den Illustrationen jedenfalls kaum zu entnehmen, sodass hier eine Bildauswahl aus sieben
der Ausgaben genügt.
[Erster Teil]
Kinder und Nachbarn umringten schon den prächtigen Wagen, neugierig, welch ein Kern sich aus so unerhörter Schale enthüllen werde ...
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Zeichnung von Eugen Hartung (1941)
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Ohne eine Antwort abzuwarten, lief der Waagwirt in die Küche und rief: "In's drei Teufels Namen! Nun haben wir nichts als Rindfleisch
und die Hammelkeule!"
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Zeichnung von Edward Lindahl (1955)
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"Ei der Tausend, ja, ja!", rief die Köchin endlich etwas aufgeregt. "Wenn man sich denn nicht zu helfen weiß, so
opfere man die Sache!!"
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Zeichnung von Edward Lindahl (1955)
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Als er den Teller geleert hatte und der Wirt sah, dass es ihm so wohl schmeckte, munterte er ihn höflich auf, noch einen
Löffel voll zu nehmen ...
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Zeichnung von Fritz Buchholz (1921)
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