[Abschnitt 5]
Nach der Sitte des Landes, die bei der schweren Arbeit den Leuten in jeder Weise gestattet, sich die Brust zu lüften ...
sich die Brust lüften = frei von der Leber weg reden, sich keinen Zwang antun.
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Als wir auf die Werfte kamen, fanden wir die alte Wieb in Zank mit einer Bettlerin vor der Haustür stehen ...
Die Geschichte der Bettlerin ist so unklar gehalten, dass man ein bestimmtes Unrecht ihr gegenüber nicht
erschließen kann. Erkennbar ist nur, dass sie ein vaterloses oder uneheliches Kind war, dem als amtlicher Vormund Anne Lenes
Großvater bestimmt worden war. Alleinerziehende Frauen, wenn keine geeigneten männlichen Verwandten für die Vormundschaft zur
Verfügung standen, bekamen regelmäßig einen solchen amtlichen Vormund zugewiesen. Dem Amtmann van der Rhoden wird
angelastet, sie in dieser Eigenschaft um ihr mütterliches Erbgut betrogen zu haben - ein rechtlich allerdings
bereits zurückgewiesener und wohl auch von niemandem geglaubter Vorwurf. Will man sie nicht als schlichte Lügnerin
abtun, könnte man sich ihren Zorn so erklären, dass vielleicht ein Haus, das ihrer Mutter gehört hat, ihr nach deren
Tod und ihrer Volljährigkeit nicht zugesprochen wurde, weil es hoch verschuldet war. Falls der Amtmann selbst zu den
Gläubigern gehört hätte, könnte es darauf hinausgelaufen sein, dass er sein Geld gerettet und sie der Armut
überlassen hat. Storm, der als Amtsrichter solche Fälle sicherlich kannte, will die rechtlichen Einzelheiten hier
nicht ausbreiten, sondern nur andeuten, dass die van der Rhodens rücksichtslos auf ihren Vorteil bedacht waren - so
wie es Anne Lene auch versteht und mit dem Ablegen des Familienschmucks missbilligt.
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... dein Vater ist ein ehrlicher Mann; was läufst du mit der Dirne in der Welt umher!
Dirne = damals noch in der Bedeutung von 'Mädchen' und nicht etwa beschimpfend gemeint.
Die Bezeichnung hat hier allerdings etwas Gleichmacherisches, da die Bettlerin keine Rücksicht auf die höhere
soziale Stellung Anne Lenes nimmt.