[Abschnitt 5: Der Familienschmuck]

Die Zeit rückte heran, wo ich zum Studium der Arzneiwissenschaft die Universität besuchen sollte. - In Anne Lenes Gesellschaft
machte ich meinen Abschiedsbesuch bei unsern alten Freunden auf dem Staatshof. Wir kamen eben von einer Fenne, wo der Pächter,
wie es dort gebräuchlich ist, seine Rapssaaternte auf einem großen Segel ausdreschen ließ. Nach der Sitte des
Landes, die bei der schweren Arbeit den Leuten in jeder Weise gestattet, sich die Brust zu lüften, waren wir mit einem ganzen
Schauer von Schimpf- und Neckworten überschüttet worden; weder meine rote Schülermütze noch meine damals
allerdings »ins Kraut geschossene« Figur war verschont geblieben. Auch Anne Lene hatte ihr Teil bekommen; aber
man wusste kaum, waren es Spottreden oder unbewusste Huldigungen; denn alles bezog sich am Ende doch nur auf den Gegensatz
ihres zarten Wesens zu der derben und etwas schwerfälligen Art des Landes. Und in der Tat, wenn man sie betrachtete, wie
der Sommerwind ihr die kleinen goldklaren Locken von den Schläfen hob und wie ihre Füße so leicht über das
Gras dahinschritten, so konnte man kaum glauben, dass sie hier zu Haus gehöre. Das kleine Kreuz, welches an dem schwarzen
Bändchen an ihrem Halse funkelte, mochte bei den Arbeitern diesen Eindruck noch vermehrt haben.

Als wir auf die Werfte kamen, fanden wir die alte Wieb in Zank mit einer Bettlerin vor der Haustür stehen, die sie vergeblich
abzuweisen suchte. Die leidenschaftlichen Gebärden dieses noch ziemlich jungen Weibes waren mir wohlbekannt;
sie ging auch in der Stadt alle Sonnabend von Tür zu Tür und zehrte dabei seit Jahren an dem Gedanken,
dass sie von dem alten Ratmann van der Roden, dem in seiner Amtsführung die obervormundschaftlichen Angelegenheiten
übertragen waren, um ihr mütterliches Erbteil betrogen sei. Sie war infolge derartiger Äußerungen schon mehrfach
zur Strafe gezogen; und jetzt schien sie, nach dem beiderseitigen Betragen zu urteilen, fest entschlossen, auch der alten Dienerin der
van der Rodenschen Familie diese verblasste Geschichte vorzutragen.

Die Streitenden rührten sich bei unsrer Ankunft in ihrem Eifer nicht von der Stelle, und da wir nach dem Flur zwischen beiden hindurch mussten, so nahm Anne Lene ihr Kleid zusammen, um nicht an das der Bettlerin zu streifen.

Aber diese vertrat ihr den Weg. »Ei, schöne Mamsell«, sagte sie, indem sie einen tiefen Knicks vor ihr machte und mit einer abscheulichen Koketterie ihre durchlöcherten Röcke schwenkte, »haben Sie keine Angst, meine Lumpen sind alle gewaschen! Freilich die seidenen Bändchen sind längst davon, und die Strümpfe, die hat dein Großvater selig mir ausgezogen; aber wenn dir die Schuhe noch gefällig sind?«

Und bei diesen Worten zog sie die Schlumpen von den nackten Füßen und schlug sie aneinander, dass es klatschte.
»Greif zu, Goldkind«, rief sie, »greif zu! Es sind Bettelmannsschuhe, du kannst sie bald gebrauchen.«

Anne Lene stand ihr völlig regungslos gegenüber; Wieb aber, deren Augen mit großer Ängstlichkeit an ihrer jungen Herrin hingen, griff in die Tasche und drückte der Bettlerin eine Münze in die Hand. »Geh nun, Trin«, sagte sie, »du kannst zur Nacht wiederkommen; was hast du noch hier zu suchen?«

Allein diese ließ sich nicht abweisen. Sie richtete sich hoch auf, indem sie mit einem Ausdruck überlegenen Hohnes auf die Alte
herabsah. »Zu suchen?«, rief sie und verzog ihren Mund, dass das blendende Gebiss zwischen den Lippen hervortrat. »Mein
Muttergut such ich, womit ihr die Löcher in eurem alten Dache zugestopft habt.«

Wieb machte Miene, Anne Lene ins Haus zu ziehen.

»Bleib Sie nur, Mamsell«, sagte das Weib und ließ die empfangene Münze in die Tasche gleiten,
»ich gehe schon; es ist hier doch nichts mehr zu finden. Aber«, fuhr sie fort, mit einer geheimnisvollen Gebärde sich
gegen die Alte neigend, »auf deinem Heuboden schlafe ich nicht wieder. Es geht was um in eurem Hause, das pflückt des Nachts
den Mörtel aus den Fugen. Wenn nur das alte hoffärtige Weib noch daruntersäße, damit ihr alle auf einmal euren Lohn bekämet!«

Auf Anne Lenes Antlitz drückte sich ein Erstaunen aus, als sei sie durch diese Worte wie von etwas völlig Unmöglichem betroffen worden. »Wieb«, rief sie, »was sagt sie? Wen meint sie, Wieb?«

Mich übermannte bei dem Anblick meiner jungen hilflosen Freundin der Zorn; und ehe das Weib zu einer Antwort Zeit gewann, packte ich sie am Arm und zerrte sie den Hof hinunter bis hinaus auf den Weg. Aber noch als ich das Gittertor hinter mir zugeworfen hatte und wieder auf die Werfte hinaufging, hörte ich sie ihre leidenschaftlichen Verwünschungen ausstoßen. »Geh nach Haus, Junge«, schrie sie mir nach, »dein Vater ist ein ehrlicher Mann; was läufst du mit der Dirne in der Welt umher!«

Drinnen im Gesindezimmer fand ich Anne Lene vor ihrer alten Wärterin auf den Knien liegen, den Kopf in ihren Schoß gedrückt. »Wieb«, sprach sie leise, »sag mir die Wahrheit, Wieb!«

Die Alte schien um Worte verlegen. Sie schalt auf die Bettlerin und redete dies und das von allgemeinen Dingen, indem sie ihre raue Hand liebkosend über das Haar ihres Lieblings hingleiten ließ. »Was wird es sein«, sagte sie, »dein Großvater und dein Urgroßvater waren große Leute; die Armen sind immer den Reichen heimlich feind!«

Anne Lene, die bis dahin ruhig zugehört hatte, erhob den Kopf und sah sie zweifelnd an. »Es mag doch wohl anders gewesen
sein, Wieb«, sagte sie traurig, »du musst mich nicht belügen!«

Was weiter zwischen den beiden gesprochen worden, weiß ich nicht; denn ich verließ nach diesen Worten das Zimmer, da ich glaubte,
die Alte werde das Gemüt des Mädchens leichter zur Ruhe sprechen, wenn sie allein sich gegenüber wären. - Aber nach einigen
Tagen war das Diamantkreuz von Anne Lenes Hals verschwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes niemals wieder von ihr tragen sehen.