[Abschnitt 8]
"Marx", sagte sie, indem sie den Strickstrumpf auf den Tisch legte, "warum bist du auch so lange fort gewesen"
Für die alte Wieb ist offenbar ausgemacht, dass Marx als Bewerber um Anne Lene in Frage gekommen wäre, wenn
es die unglückliche Verlobung mit dem Junker nicht gegeben hätte, und da sie Anne Lene aus tagtäglichem Zusammensein
kennt, spricht daraus auch wohl deren Meinung. Nach den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ist eine missglückte Verlobung allerdings kein
grundsätzliches Heiratshindernis, es sei denn - und das soll hier wohl erschlossen werden -, es hat bereits ein sexuelles Verhältnis
gegeben.
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Als ich aufsah, stand Anne Lene in der Tür ... und sagte: "Willst du nicht tanzen, Marx? Ich bin oben gewesen; die kleine Juliane sucht dich
mit ihren braunen Augen schon in allen Ecken!"
Da Marx mit der 'kleinen Juliane' nichts zu tun hat, ist klar, was Anne Lene mit ihrer Bemerkung bezweckt: sie möchte
selbst von ihm zum Tanzen aufgefordert werden. Dass sie ihm das nicht einfach freundschaftlich sagt, lässt ihre Befangenheit erkennen -
offenbar hält sie doch noch eine Liebesbeziehung für möglich.
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... denn als wir die Treppe zu dem dunkeln Flur hinabstiegen, war mir, als wenn ich mit einem glücklich geraubten Schatz ins Freie flüchtete.
Von Anne Lenes Hingabe beim Walzertanz ermutigt, will Marx das Gespräch unter vier Augen mit ihr suchen.
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... aber das beunruhigende Bewusstsein einer eigennützigeren Bitte, die ich für günstigere Zeiten im Grunde meines
Herzens zurückbehielt, raubte mir den Atem ...
Auf welche 'günstigeren Zeiten' Marx für sein Liebesgeständnis oder seinen Heiratsantrag noch wartet, ist
unerfindlich. Man kann nur folgern, dass er einfach nicht Frauenkenner genug ist, ihr Entgegenkommen beim Tanz sowie ihre Bereitschaft,
allein mit ihm hinaus ins Dunkle zu gehen, richtig zu deuten.
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"Sieh, Anne Lene", sagte ich, "die Erde schläft - wie schön sie ist!" - "Ja, Marx", erwiderte sie leise, "und du
bist noch so jung!" - "Bist du denn das nicht mehr?"
Spätestens mit dieser Antwort gibt Marx zu verstehen, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist. Sonst hätte er sagen
müssen, dass sie genauso jung sei, genauso viel Zukunft in dieser Welt habe. Aber er traut sich wohl nicht zu, sie aus ihrer Enttäuschung
herauszuführen, auch vielleicht nicht, weil er spürt, dass sie ihm an Lebenserfahrung so viel voraus hat.
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Ein Gefühl der Öde und Verlorenheit überfiel mich; fast ohne es zu wissen, stieß ich Anne Lenes Namen hervor und streckte
beide Arme nach ihr aus. - "Marx, was ist dir?", rief sie und wandte sich nach mir um. "Hier bin ich ja!" -
"Nichts, Anne Lene", sagte ich, "aber gib mir deine Hand; ich hatte das Meer vergessen, da hörte ich es plötzlich!"
Offensichtlich fühlt Marx sich in dieser Welt selbst nicht geborgen, ist selbst auf Halt und Hilfe angewiesen. Ihre Reaktion ist denn
auch deutlich:
Sie hatte ihr Gesicht zu mir gewandt und sah mich traurig an; mitleidig, ich weiß noch jetzt nicht, ob mit mir oder mit sich selbst.
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"O Anne Lene", rief ich ... "Gib mir die Hand, ich weiß den Weg zur Welt zurück!" - "Nein", rief
sie ... "Es trägt uns beide nicht."
Mit seinem buchstäblich in letzter Minute angedeuteten Heiratsantrag - dem auch sinnbildlichen Anhalten um ihre Hand - kann Marx Anne Lene nicht
mehr überzeugen. Nicht nur der Pavillonboden trägt sie beide nicht, auch seine Lebenskraft reicht aus ihrer Sicht für
zwei nicht aus, genügt nicht, den ihr vor Augen stehenden Untergang ihrer Familie abzuwenden. Eine Epoche ist zu Ende, die Zukunft
gehört anderen Menschen, robusteren als sie es selbst, als aber auch der schüchterne Marx es ist.
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Ein Brett des Fußbodens schlug in die Höhe ... Ich wollte Anne Lene sehen, aber ich sah sie nicht.
Im Erstdruck der Novelle in der ARGO unternimmt Marx nach Anne Lenes Verschwinden erst einmal gar nichts, sondern
wartet nur wie gelähmt ab. Es heißt dort:
Ich mühte mich vergebens einen Entschluß zu fassen oder auch nur mich von der Stelle zu bewegen. Mir
war, als renne in meinem Kopfe etwas davon, das ich um jeden Preis wieder einholen müsste, wenn ich nicht wahnsinnig
werden wollte. Und während meine Gedanken diesem Unding nachjagten, verrann die Zeit. -
Wie lange ich so gestanden, weiß ich nicht. Ein durchdringender Schrei, der in mein Ohr gellte, brachte mich endlich
wieder zur Besinnung. Ich war es selbst, der so geschrieen hatte. Ich hörte vom Hause her die Tanzmusik, aber
ich hatte noch keinen Willen.
Dann schließt sich die Textstelle mit dem Erscheinen der alten Wieb und der gemeinsamen Suche an, bei der Anne Lene
schließlich gefunden wird. Marxens Untätigkeit erregte aber den Unmut eines Potsdamer Kollegen, des Kriegsgerichtsrates Schnee,
und veranlasste Storm, die Buchfassung um die Passage mit dem Sprung ins Wasser und dem vergeblichen Tauchen nach der Verschwundenen
zu erweitern. An Hermann Schnee, den Sohn, schreibt er am 16. September 1859: Sag dem alten Schnee, dass der Marx im
Staatshof in einen recht resoluten Burschen umgearbeitet ist.

Aus heutiger Sicht versagt Marx in dieser Situation allerdings immer noch kläglich. Anstatt sofort Wiederbelebungs-Versuche
einzuleiten, traut dieser promovierte Mediziner seiner 'jungen Kunst in diesem Falle nicht' und jagt zu Pferd in die Stadt, um einen
Arzt zu holen. Unzweifelhaft soll dies jedoch keine Infragestellung seines Sachverstandes bedeuten. Von Erster Hilfe
wusste man zu Storms Lebzeiten - auch wenn entsprechende Anleitungen schon aufkamen - noch wenig, und ganz im Dunkeln verliert
sich, ob für die Zeit der Handlung so etwas schon vorauszusetzen ist.