[Abschnitt 6]
Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung für Anne Lene, da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur
Entfaltung gekommen war ...
Hier wird noch einmal deutlich ausgesprochen, dass mehr als Freundschaft Anne Lene bis zu diesem Zeitpunkt
für Marx nicht empfunden hat. Abgesehen von ihren kindlichen Sympathie-Bezeugungen
werden auch keine Vorgänge mitgeteilt, die das widerlegen könnten. Auch in ihre Verlobungsabsicht braucht sie ihn deshalb
nicht einzuweihen, denn für Heiratspläne kommen sich beide ohnehin nicht infrage. Er kann ans Heiraten noch
längst nicht denken, und sie kann hoffen, eine bessere Partie zu machen, als es Marx als Arzt einmal für sie wäre.
Folglich sieht er in ihrer Verlobung auch keinen Vertrauensbruch, sondern es ist nur der Bräutigam, der ihm nicht
gefällt.
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Es war in diesem lässigen Anschauen etwas, das mich in einen ohnmächtigen Zorn versetzte ...
Der lüstern-taxierende Blick, der hier gemeint ist, ruft die Eifersucht des Erzählers auf, aber er macht auch die
schlechten Absichten des jungen Adligen sichtbar. Er liebt Anne Lene nicht, sondern will sie nur besitzen, so wie er sich in der
nachfolgenden Szene eine Mücke hascht und sie genussvoll quält.
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Zufällig aber hatte ich bemerkt, dass die Krone des kleinen Baumes wie von einem Pulsschlage in gleichmäßigen Pausen
erschüttert wurde, und es überkam mich eine Ahnung dessen, was hier geschehen sein könne; zugleich ein Reiz, Anne Lene
fühlen zu lassen, dass sie mich nicht zu täuschen vermöge.
Die 'Ahnung', was geschehen sein könnte, wird zur Gewissheit erst am Ende, als Anne Lene zu Marx sagt: "Er hat so
Unrecht nicht gehabt; - wer holt sich die Tochter aus einem solchen Hause!" (siehe
ABSCHNITT 8).
Der Junker hat ihr also eröffnet, dass er bereit sei, sie irgendwann zu heiraten, ihr aber auch zu verstehen gegeben, dass sie sich dann nicht
allzu widerspenstig verhalten dürfe. Dass Marx in diesem Moment nur ihre Aufregung registriert und weiter nicht nachfragt, wertet Karin
Tebben als Don-Juan-Haltung: menschliche Gleichgültigkeit bei gleichzeitiger Hervorkehrung männlicher Überlegenheit (siehe
unter
ZITATE). Das jedoch liegt gewiss nicht vor. Anne Lene scheint nicht bereit, ihn
einzuweihen, und ihr wirklich helfen könnte er auch nicht, und so sind es alsbald wieder die 'Leiden und Freuden des
Studentenlebens', denen er sich überlässt. Die Banalität dieses Sachverhaltes, gefasst in diese banale Formulierung,
lässt allerdings erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hat. Vermutlich hat er jene Situation weniger vergessen als verdrängt, in
dem dunklen Gefühl, dass er sich doch mehr um sie hätte kümmern sollen.