[Abschnitt 4]
Ich merkte es kaum, als Anne Lene ihre Arme um meinen Hals legte und mich küsste, während ihre Tränen mein
Gesicht benetzten.
Diese Bemerkung hat - als Erinnerung ausgesprochen - etwas Unrichtiges. Wenn der Erzähler die Umarmung und den Kuss Anne Lenes damals 'kaum
gemerkt' hat, sollte er beides vergessen haben. Da er sich aber erinnert, sollte er sich vielleicht auch erinnern, dass es seiner Freude, "nun
fortwährend in Gesellschaft des anmutigen Mädchens zu sein", damals Auftrieb gab, oder umgekehrt, dass es ihn verwirrte, bestürzte,
noch lange beschäftigte usw. Indessen steckt hinter dieser Unstimmigkeit wohl keine Absicht. Storm hat nur für einen Moment außer
Acht gelassen, dass er perspektivisch und nicht als Außenbeobachter erzählt. Das unterläuft ihm auch an anderen Stellen.
Auch dass der Erzähler seine Kindesgestalt wiederholt als 'klein' bezeichnet - kleiner Kopf, kleine Hände usw. -, ist ein
solcher perspektivischer Fehler. Ein Kind nimmt sich nicht in dieser Weise als niedlich wahr.
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Wir betraten diese Räume mit einer lüsternen Neugierde, obgleich wir wussten, dass nichts darin zu sehen sei als ... das leere
Bettgestell der verstorbenen Besitzer.
Anne Lene und ich drangen gern aufs Geratewohl in diesen Blütenwald hinein, um uns den
Reiz eines gefahrlosen Irregehens zu verschaffen; und nicht selten glückte es, dass wir uns nach der feuchten Laube im Winkel
des Gartens hinzuarbeiten meinten ...
Dann sahen wir durch die erblindeten Fensterscheiben nach dem zärtlichen Schäferpaar hinüber das noch immer ... auf der
Mitte der Wand im Grase kniete, und rüttelten vergebens an den Türen ...
Auf die andeutend sexuellen Momente dieser Beschreibung hat richtig Karin Tebben hingewiesen, nur allerdings mit der fragwürdigen
Akzentuierung, dass der Erzähler hier wieder als ängstlicher Don Juan sichtbar werde, der der Annäherung an seine Angebetete
ausweiche (zu Tebbens Aufsatz siehe unter
ZITATE) Was Storm mit dieser Beschreibung
erfasst, ist jedoch etwas anderes: die erwachende sexuelle Neugier dieser 13-, 14-jährigen, die - sich ihres Begehrens noch nicht
bewusst - die gemeinsamen Streifzüge als eine geheimnisvolle Verlockung erleben.
Diese sehr altersgerechte Feststellung, dass das gleichaltrige Mädchen plötzlich erwachsener ist als er,
der Erzähler, macht klar, dass er an eine Liebesbeziehung zu seiner vormaligen Spielgefährtin nun kaum mehr denken kann.