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Erstes Kapitel
Sprung zur Textstelle Alte vergilbte Blätter liegen vor mir ... Heute am vierzehnten März 1611 ritt ich von meinem Sitze am Bielersee hinüber nach Courtion ...
Mit dem Vorspann - einer Herausgeber-Erklärung - und der exakten Festlegung der Handlung nach Zeit und Ort gibt das "Amulett" sofort zu erkennen, dass es sich um eine 'realistische' Erzählung handelt. Ein Kenner historischer Lebensverhältnisse hätte sich zwar wundern können, dass der 1611 ans Werk gegangene Hans von Schadau schon auf einen Schreibtisch-Kalender gesehen hat, bevor er seine frisch angeschnittene Gänsefeder zum Schreiben ansetzte, d.h. er hätte die Herausgeber-Erklärung als Herausgeber-Fiktion durchschauen können, aber das trat keineswegs überall ein. In einer Rezension der Wiener NEUEN FREIEN PRESSE vom 13. März 1874 heißt es:
Wie viele von den Tugenden dieser Novelle schon in jenen 'alten, vergilbten Aufzeichnungen' enthalten sind, die der Dichter benutzt zu haben vorgibt, und ob seine Arbeit nur wirklich darin besteht, sie 'in die Sprache unserer Zeit übertragen zu haben', das wissen wir allerdings nicht; aber auch wenn wir diesen bescheidenen Fall gelten lassen, bleibt es des Autors Verdienst, einen glücklichen Fund mit glücklichem Verständnis verwertet zu haben.
Benutzte Literatur: Martin, C.F.M. Das Amulett, Erläuterungen und 
                  Dokumente, 1977
Die Mehrzahl der Leser hat je länger je mehr aber natürlich Conrad Ferdinand Meyer als den Verfasser wahrgenommen und deshalb auch das in der Novelle Mitgeteilte als seine Sicht der Dinge, als sein Verständnis vom Leben aufgefasst. Erst in jüngerer Zeit ist wiederum das Gegenteil eingetreten und man hat zwischen dem Autor Meyer und dem von ihm erfundenen Erzähler Hans von Schadau eine scharfe Trennlinie gezogen. Insofern Schadaus "bornierte Engstirnigkeit" von vornherein offengelegt sei, so das Argument (nämlich dass er in derselben Lage wiederum so handeln würde wie früher), könne er unmöglich die Meinung Meyers vertreten, der aus seinen Erfahrungen gelernt haben würde und sowieso immer für religiöse Toleranz eingetreten sei. Vielmehr bediene sich Meyer von Anfang bis Ende einer gegen Schadau gerichteten "ironischen Erzählperspektive", von der er sich eine "emanzipatorische Wirkung beim Leser" verspreche.
Benutzte Literatur: Knapp, Geschichte ohne Versöhnung - C.F.M. Das Amulett, Erläuterungen und 
                  In: Deutsche Novellen, 1993
Alles also Ironie? Natürlich nicht, und dies nicht nur deshalb nicht, weil es dann die Leser ein ganzes Jahrhundert lang nicht gemerkt hätten. Tatsächlich enthält die Novelle nicht einen einzigen Hinweis darauf, dass wir es in Schadau mit einem uneinsichtigen, wahrnehmungsgestörten oder sonst wie unzuverlässigen Erzähler zu tun haben sollen. Das Ironie-Argument ist - wie immer in solchen Fällen - nur der hilflose Versuch, einen Autor, dessen Können man bewundert, dessen Ansichten man aber nicht erträgt, auf die eigene Seite zu ziehen.
Das bedeutet nicht, dass Schadau sich des von ihm vertretenen Prädestinations-Glaubens stets sicher ist. Es gibt etliche Situationen, in denen von seinem behaupteten Gleichmut dem ihm bestimmten Schicksal gegenüber nichts übrig bleibt, und auch sein Urteil über das ihm Widerfahrene schwankt. Das jedoch sind Widersprüche, die ihm nicht erzählerisch verordnet werden, damit wir auf ihn herabsehen, sondern die seine Menschlichkeit ausmachen, so wie sie - aller Wahrscheinlichkeit nach - auch Meyers Menschlichkeit ausgemacht haben. Das "Amulett" ist also keine Geschichte um zwei 'beschränkte Fanatiker' - Schadau und Boccard -, an denen wir nach Meyers Intention erfahren sollen, wohin religiöser Fanatismus führt,
Benutzte Literatur: Zeller, C.F.M. Das Amulett, In: Interpretationen. 
                  Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, 1990
sondern es will uns - auf dem Hintergrund der Religionskriege des 16. Jahrhunderts - demonstrieren, wie unbegreiflich das dem Menschen zudiktierte Schicksal von Fall zu Fall sein kann.
Die nachfolgende Kommentierung wird besonders auf die Stellen achten, die mit dem Prädestinations-Gedanken und Schadaus Verständnis davon zu tun haben, weil dies sicherlich auch der didaktisch interessanteste Aspekt ist.
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Sprung zur Textstelle Wie ich ihn alles hastig durcheinanderwerfen sah, erhob ich mich unwillkürlich, als müsst' ich ihm helfen.
Bereits der Anstoß, seine Erinnerungen niederzuschreiben, ergibt sich für Schadau gleichsam schicksalhaft: Er steht 'unwillkürlich' auf und erblickt dabei die Gegenstände, die sein Leben mit dem Boccards verbunden haben. Allerdings, so würde man in psychologischer Sicht hinzufügen, könnte ihn dieser Anblick schwerlich zu einer tage- oder wochenlangen Niederschrift seiner Erlebnisse veranlasst haben, wenn ihm die ganze Geschichte nicht sowieso 'auf der Seele gelegen' hätte.
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Sprung zur Textstelle In dem Fache lagen nebeneinander zwei seltsame, beide mir nur zu wohl bekannte Gegenstände: ein durchlöcherter Filzhut, den einst eine Kugel durchbohrt hatte, und ein großes rundes Medaillon ...
Die beiden Gegenstände sind auch für den Leser das 'erregende Moment', weil sie einerseits einen tödlichen Schuss andeuten und andererseits das 'Medaillon' eine Verbindung zu dem Titel "Das Amulett" herstellt, ihm also eine zentrale Bedeutung zuzukommen scheint. Wie diese Gegenstände in den Besitz des alten Boccard gekommen sind, bleibt ungesagt und wird auch später nicht aufgeklärt. Als der junge Wilhelm Boccard in Paris von einer Kugel in den Kopf getroffen wird (siehe 9. KAPITEL), findet sich weder die Mitnahme seines Hutes erwähnt noch die des Amuletts.
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Sprung zur Textstelle Ich habe ihn in den Tod gezogen. Und doch, sosehr mich dies drückt, kann ich es nicht bereuen und müsste wohl heute im gleichen Falle wieder so handeln ...
Der Aussage Schadaus, er habe Boccard 'in den Tod gezogen', wird von denjenigen, die ihm Unbelehrbarkeit vorwerfen (weil er 'wieder so' handeln würde), eine hohe Bedeutung beigemessen. Dabei trifft sie nur sehr bedingt zu. Schadau verlangt nach der Bartholomäusnacht von Boccard keineswegs dessen Unterstützung oder Begleitung, sondern lediglich seine Freilassung. Boccard beteiligt sich also freiwillig an der Rettungsaktion für Gasparde, weshalb diese später auch richtig sagt: "Für mich ist er gestorben." (siehe 10. KAPITEL).
Schadaus Selbstanklage trifft mithin nur in dem sehr weitläufigen Sinne zu, dass Boccard umgekommen ist, weil er Schadau kennengelernt hat und sein Freund geworden ist. Nennt man das Schuld? Eher könnte man Schadau vorwerfen, er nehme sich zu wichtig, weil er Boccards Leben nur als ein Zubehör des seinen wahrnimmt und ihm nicht auch ein eigenes Schicksal zugesteht. Dies freilich ist die Schwachstelle jedes individuellen Schicksals-Verständnisses und Schadau kaum besonders anzulasten.