Betr.: Leben und sterben lassen / Urs Willmann (DIE ZEIT Nr. 10, 28.2.2002, S. 31)

Lasst sterbende Sprachen nicht allein!

In einer Hinsicht hat Urs Willmann recht, wenn er schreibt: "Wer Sprachen ernst nimmt, gesteht Ihnen Wandel zu. Auch das Verschwinden." Und Sprachen werden ja auch geboren, allmählich, durch Sprachkontakt und den subtilen Wandel von Generation zu Generation. Nur: Die wirtschaftliche Globalisierung mit ihrer "Begleitmusik" und ihren Auswirkungen wie Klimawandel lösen weltweit komplexe Migrationen aus, die jetzt schon dazu geführt haben, dass das natürliche Gleichgewicht des Entstehens und des Verschwindens gekippt ist.

Der Artikel von Urs Willmann (leider diesmal ohne die gebotene Sorgfalt recherchiert) zielt am Kern des Problems weit vorbei und zeigt dabei einen Kulturzynismus, der Sprach- und Kulturschätze einem darwinistischen Schicksal preisgeben möchte. Es mag zwar ein - zweifelhaftes - Vergnügen bereiten, Fantasien wie "mit knarzenden Kehllauten zu balzen" zu entwickeln. (Übrigens: Warum muß eine andere Sprache hierfür herhalten, Herr Willmann, wo die Eigene doch gut gegeignet wäre?) Aber die Situation erfordert einen sensibleren Zugang. Es geht der UNESCO und anderen Organisationen nicht um die romantisierende "Rettung" von aus wirtschaftlichen Gründen unbeliebt gewordenen Sprachen sondern um die Unterstützung ohnmächtig geliebter Sprachen und um die Intensivierung der Dokumentation verschwindender Sprachen für die Nachwelt.

Es bedarf nur wenig Reflexion, um zu erkennen, dass jede Sprache, jeder Dialekt einmalige Eigenschaften besitzt, die nicht nur Kulturschätze einer Sprachgemeinschaft bergen, sondern für das aufgeschlossene Mitglied der Sprachgemeinschaft und den kundigen Sprachwissenschaftler, Literaturwissenschaftler, Ethnologen oder Kognitionswissenschaftler Einblicke in gerade die gestalterische Vielfalt und gerade die komplexen Gesetzmäßgkeiten gewähren, die den Menschen zum Menschen machen. Nicht von ungefähr wird der weltweit rapide zunehmende Sprachenverlust als gesellschaftliches Pendant zur weltweiten Reduktion der biologischen Vielfalt angesehen - auch bei den kausalen Faktoren gibt es Gemeinsamkeiten.

Weiter als 5000 Jahre geht unser gesichertes Wissen über die Sprachen der Menschheit nicht zurück, nur ein Augenblick in der 150.000 Jahre alten Geschichte der Menschheit. Wieviele Sprachen mögen wohl insgesamt entstanden und verschwunden sein? Umso wertvoller sind die nur 6000 uns verbliebenen Sprachen. Mit jeder Sprache, die verschwindet, ohne für die Nachkommen ihrer Sprecher und für die Wissenschaft dokumentiert worden zu sein, verschwindet auch unwiederbringlich ein Zeuge der Entwicklung der Menschheitsgeschichte über viele Jahrhunderte. Eigentlich schade, Herr Willmann, oder?

Prof. Dr. Dafydd Gibbon, Universität Bielefeld