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Was ist das Besondere an dieser CD-Rom?
Wer es in der Benutzung noch nicht wahrgenommen hat:
Dies ist nicht nur - erstmals in diesem Medium - eine vollständige Ausgabe von Goethes Werther in beiden Fassungen, auch der ihr angeschlossene Kommentar bietet nach Inhalt und Aufbereitung etwas ganz Neues.

Das inhaltlich Neue
ist, dass hier außer Namen, Zitaten und Begriffen auch Alltags-Sachverhalte umfangreich kommentiert werden, und dies nicht nur bloß in Textform, sondern vielfach auch per Anschauung: wie die Werther-Kleidung beschaffen war, wie eine Steinschloss-Pistole funktioniert, wie sich ein Klavichord anhört, wie man ein Menuett tanzt, welchen Wert ein Kreuzer oder ein Gulden hatten, wie bestimmte Bücher aussahen und anderes mehr. Zahlreiche Handlungsmomente, die im Zeitabstand ihre Konturen verloren haben, werden so in das Textverständnis zurückgeholt und der Vorstellung wieder zugänglich gemacht.

Neu ist aber auch die Wiedergabe eines Großteils der Werther-Illustrationen, ebenfalls geeignet, bestimmte Handlungsmomente genauer wahrzunehmen oder frühere Vorstellungen von ihnen sichtbar zu machen. Neu ist weiterhin der genaue Blick auf die Topographie der Werther-Handlung, erstmals unterschieden von der realen Wetzlarer Situation, und neu ist schließlich auch die umfangreich dokumentierte Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Ohne dass die Gefahr der Übertreibung besteht: dies ist die bei weitem umfangreichste und vollständigste Werther-Edition, die je vorgelegt worden ist, und nur in elektronischer Form ist sie in dieser Breite auch möglich gewesen.

Wegen der Vielzahl der Aspekte und Materialien war im einzelnen allerdings auch Beschränkung geboten. Die vorhandenen Kommentare - der Gedenkausgabe, der Hamburger Ausgabe, der Ausgabe des Aufbau-Verlags, der Reclam-Erläuterungen usw. - wurden natürlich ebenso benutzt wie zahlreiche Monographien und Aufsätze, doch wurde stets nach dem Wert der gegebenen Erklärungen gefragt und manche bloße Bildungsreminiszenz auch beiseite gelassen. Dass alles nachrecherchiert und auf den neuesten Kenntnisstand gebracht worden ist, sollte sich bei einer wissenschaftlichen Edition von selbst verstehen, sei aber angesichts mancher sich forterbender Unrichtigkeit doch hinzugefügt. Wesentlichkeit, Verständlichkeit und Zuverlässigkeit - das sind die Grundsätze, nach denen dieser Kommentar gearbeitet worden ist.

Das darstellerisch Neue
ist, dass alle Texte und Materialien für den Gebrauch am Bildschirm aufbereitet worden sind; alle technischen Möglichkeiten, die das elektronische Medium bietet, wurden genutzt. Für die Textebene bedeutet das, dass sich die beiden Fassungen des Romans - gegliedert nach Briefen und Teilen - durchgängig auch parallel lesen lassen, und zwar selbst dort, wo diese Teile in ihrer Abfolge gegeneinander versetzt sind. Gleichzeitig erlaubt sich aber auch der geschlossene Blick auf jede der Fassungen für sich und sogar das Nebeneinanderstellen beliebiger Teile derselben.

Für den Kommentar ist schon durch die Unterscheidung nach Ebenen - der biograpischen, der kulturgeschichtlichen, der Zitat-Ebene usw. - eine ungewöhnlich transparente Gliederung gegeben, doch können auch hier die Einträge noch sowohl synoptisch von Brief zu Brief als auch komplett für die Ebenen im ganzen eingelesen werden. Ein auf den gewählten Ausschnitt dynamisch reagierendes Menü zeigt an, wo man sich innerhalb des Systems jeweils befindet, und jederzeit kann zwischen den verschiedenene Ebenen, Textteilen und Ausschnitten auch gewechselt werden. Dass bei internen Verweisen hinter der benannten Stelle ein Link liegt, ist für ein solches System ebenso selbstverständlich wie die Suchmöglichkeit für einzelne Wörter oder Zeichen, doch der zusätzlich eingerichtete Index leistet noch mehr. Er stellt ein gefiltertes, sortiertes Wörterverzeichnis dar, in dem man gezielt nach bestimmten Begriffen sehen und somit nach Art eines vollständigen Sachregisters auch entlegene Suchwörter auffinden kann.

Großer Wert wurde schließlich auf die Möglichkeit eigener Einträge und Zusätze gelegt. Sie können - der Textgliederung angepasst - exakt den gewünschten Stellen hinzugefügt und in der Synopse mit aufgerufen werden. Aber auch an eine Druckausgabe wurde gedacht. Für jede der Ebenen steht eine graphisch aufbereitete Druckfassung zur Verfügung, aus der gezielt die zum Druck bestimmten Seiten ausgewählt werden können. Insgesamt wurde die bequemste und selbstverständlichste Benutzbarkeit angestrebt, außer einigen allgemeinen Kenntnissen im Umgang mit dem Computer sollte kein weiteres Vorwissen nötig sein.

Wer sind die Verfasser?
Ein Projekt wie dieses benötigt Fachleute aus zwei Gebieten: einen Literaturwissenschaftler, der sich mit der Werther-Geschichte auskennt, und einen Texttechnologen, der weiß, wie man größere Datenmengen für die Benutzung am Bildschirm organisiert und zugänglich macht. Der Anstoß, eine solche Zusammenarbeit in Angriff zu nehmen, ergab sich 1998 beim "Multimedia-Tag" von Nordrhein-Westfalen, als auch in der Universität Bielefeld neuere Projekte der Datenverarbeitung vorgestellt wurden. Ein Gespräch über einen "Medizinischen Atlas", der das Hin- und Herblättern zwischen verschiedenen Einträgen auf verschiedenen Ebenen erlaubte, führte zu Überlegungen, wie sich diese Technik für ein literarisches Werk nutzen ließe, und nach einigen Fragen und Antworten war das Werther-Projekt vereinbart.

Ich, Bernd W. Seiler,
Jahrgang 1939, apl. Professor an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, übernahm den inhaltlichen Teil. Seilers Publikationen Von jeher an den Sachbezügen literarischer Texte interessiert, war mir bei der Behandlung des Werther schon wiederholt aufgefallen, dass der große inhaltliche Reichtum dieses Werkes in der Fachliteratur kaum wahrgenommen wird. Aber auch jüngere Forschungsergebnisse wie die von Eissler sind in die meisten Arbeiten über den Werther bislang nicht eingegangen. So wollte ich schon länger meine Erkenntnisse auf diesem Gebiet einmal an einer Stelle zusammenführen, nur dass mir die traditionelle Buchform dafür wenig attraktiv erschien. Mit professioneller Unterstützung jedoch zu einer multimedialen Umsetzung zu kommen, war mir hoch willkommen. Einige Erfahrung mit dem Internet hatte ich, dazu dank meines Alters auch genügend Abstand gegenüber gewissen Ab- und Irrwegen, wie sie die Germanistik in solchen Fällen reichlich zur Verfügung stellt - es sollte aus einer solchen Zusammenarbeit etwas Handfestes, Brauchbares und Unterhaltendes schon herauskommen. (email)

Ich, Jan-Torsten Milde,
Jahrgang 1965, Dr. phil. und Wiss. Assistent an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, übernahm den technischen Teil. Für mich bestand der Reiz darin, dass hier ein System gefunden werden musste, das eine Vielzahl unterschiedlicher Dateien miteinander verbinden und sie dem Benutzer gleichsam im Gang seiner Gedanken zugänglich machen sollte. Mildes PublikationenSchon früh wurde mir klar, dass die unmittelbare Umformung dieser Dateien zu Hypertexten nicht infrage kam. Wegen der Materialfülle musste die Erfassung der Inhalte von ihrer elektronischen Aufbereitung getrennt werden. Die Inhalte wurden deshalb in eine einzige große XML-Datei eingestellt, die ohne Änderung der schon erfassten Teile mit dem Arbeitsfortgang wachsen konnte, während die Aufbereitung über ein Filter-System erfolgte, das die jeweils gewünschte Dateiauswahl in einen Standard-Browser des Internet übertrug. Diese Zweiteiligkeit hat sich im Verlauf der Arbeit durchgängig bewährt. So verhältnismäßig einfach, wie sich die Inhalte erweitern oder ändern ließen, konnte auch die Synopse erweitert oder in ihren Funktionen verändert werden, und das eine durchdrang das andere jeweils über das gesamte System. Bei einer Datenmenge von ca. 1000 HTML-Seiten, 500 Bildern und einem Dutzend Audio- und Videodateien ist dies keine Selbstverständlichkeit. Dass es im wechselseitigen Austausch über dieses Verfahren mehr und mehr auch zu gemeinsam erzielten Fortschritten kam, bestätigte mir den Sinn solcher interdisziplinärer Projekte in besonders erfreulicher Form. (email)

Kann dieser Kommentar die Lektüre des Werther ersetzen?
Natürlich nicht - aber er wird sie hoffentlich auch nicht beeinträchtigen. Das in der deutschen Literaturwissenschaft noch immer verbreitete Dogma, der literarische Text müsse 'rein für sich' wahrgenommen werden und alles Hinsehen auf neben oder hinter ihm liegende Sachverhalte sei eine Verirrung - die Werther-Lektüre hat ihm nie entsprochen. Von Anfang an ist dieses Werk 'kommentiert' gelesen worden, nicht einmal die erste Lesergeneration hat es ohne Vergleich mit der Wirklichkeit aufnehmen können. Goethe selbst hat dann mit der zweiten Fassung und seinen Ausführungen in Dichtung und Wahrheit für einen zusätzlichen Kommentar gesorgt, und selbst wohl die naivste Lektüre kann diesem Wissen nicht entkommen. Die Brüche und Widersprüche, die sich aus ihm ergeben, sind aber auch durch Interpretationen nicht zu heilen. Nicht einmal die vielbeschworene künstlerische Rundung, die sich aus der Überarbeitung ergeben haben soll, kommt schlicht als solche zur Geltung, sondern sie wird in Kenntnis der angewandten Mittel zu einem eigens wahrgenommenen Sachverhalt. Wenn trotzdem dieser Roman so viele Leser gefunden hat und - freiwillig oder nicht - weiterhin findet, so hat das also gewiss nichts mit dem Eindruck seiner 'Geschlossenheit' zu tun. Vielmehr war und ist es die Interessantheit und Schönheit seiner Teile, denen es sich verdankt, und dieser Qualität kann eine Kommentierung so leicht nichts anhaben.

Ein Wort Lessings als Maßstab
Oder doch? Und wenn, was muss, was darf, was sollte und was sollte nicht mehr in die Lektüre eines solchen Textes hereingeholt werden? Lessing hat im siebten Kapitel seines Laokoon davor gewarnt, literarische Texte - in diesem Falle der Antike - mit einem Zuviel an Bildern und Erläuterungen zu versehen, dem Leser werde dadurch "die schönste Stelle, wenn Gott will, sehr deutlich, aber auch trefflich frostig" gemacht. Wenn auch es einen für alle verbindlichen Maßstab hier nicht gibt: unser Kommentar könnte ein Anlaß sein, sich auch über solche Fragen Gedanken zu machen. Und wenn sich dabei herausstellte, dass wir die Grenze zur Frostigkeit nicht überschritten haben - um so besser!

  Bernd W. Seiler, Jan-Torsten Milde