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Als Gestaltungsmomente sind im Wesentlichen zwei über die ganze Novelle hinweg zu beobachten:
1. die Bindung der Handlung durch sich wiederholende Motive
2. die Kennzeichnung des Geschehens durch Ironie.
Der Gebrauch von Motiven, die wie in der Musik als 'Leitmotive' eingesetzt werden, ist für Thomas Manns Erzählweise von Anfang an so charakteristisch, dass man meinen könnte, er habe ihn in die Literatur eigentlich eingeführt. Das allerdings ist nicht der Fall. Er kommt in der deutschen Erzählliteratur auch z.B. bei Theodor Fontane schon vor, wie mit der ständigen Rede des alten Briest vom 'weiten Feld' in Erinnerung zu rufen ist. Thomas Mann hat dieses Darstellungsmittel aber virtuos entwickelt und es unverkennbar zu einem Merkmal seines Stiles gemacht. Angeregt hat ihn dazu auch nicht die Literatur, sondern die Musik, wie er immer wieder betont hat, nämlich Richard Wagner, in dem er stets einen großen Epiker sah und liebte. Weiter heißt es in dem Aufsatz "Über die Kunst Richard Wagners" von 1911:
Das Motiv, das Selbstzitat, die symbolische Formel, die wörtliche und bedeutsame Rückbeziehung über weite Strecken hin, - das waren epische Mittel nach meinem Empfinden, bezaubernd für mich eben als solche; und früh habe ich bekannt, daß Wagners Werke so stimulierend wie sonst nichts in der Welt auf meinen jugendlichen Kunsttrieb wirkten ...
Auf die Handhabung dieses Kunstmittels wird deshalb im weiteren besonders geachtet.
Der ironische Erzählgestus, das zweite Charakteristikum von Thomas Manns Stil, ist zwar auch mit seinem Namen untrennbar verbunden, hat sich aber in seinem Werk erst im Laufe der Zeit herausgebildet. Die frühen Novellen und auch die "Buddenbrooks" sind noch keineswegs durchgängig in dieser Form erzählt, sondern weisen noch umfangreiche Textpartien ohne ironische Elemente auf. Erst oder erstmals in "Tristan" zeigt sich der ironische Stil voll entwickelt, ohne dass ihn Thomas Mann in den nachfolgenden Werken deshalb immer beibehält. Sicherlich hat sein Vorherrschen in dieser Geschichte also auch mit dem Sanatoriums-Milieu zu tun, das seinen Spott - wo immer er es kennengelernt hat - in besonderer Weise herausforderte. Auch später der "Zauberberg" lebt ja ganz wesentlich von dem spöttischen Blick auf diese geschlossen-andersartige Welt.
Die Thomas Mann'sche Ironie besteht nicht in der klassischen Form darin, dass das Gegenteil dessen gesagt wird, was gemeint ist, sondern sie ergibt sich aus einem Wechsel von Mehr und Weniger, von Über- und Untertreibung, Verharmlosung und Dramatisierung, Abwertung und Aufwertung oder welcher Differenz immer gegenüber dem, was 'üblicherweise' zu den verhandelten Sachen gesagt werden würde. Dieses Prinzip setzt - wie bei der Karikatur - die Kenntnis dessen, was tatsächlich der Fall ist, bei dem Leser voraus, lässt ihn damit aber teilhaben an dem Blick eines überlegenen Beobachters, der durch nichts oder kaum etwas zu beeindrucken ist.
Benutzte Literatur: Seiler, Ironischer Stil und realistischer Eindruck
                  1986
Angesichts der Vielzahl ironischer Wendungen in dieser Geschichte werden nachfolgend nur die markantesten benannt, es lassen sich jederzeit weitere Belege für sie finden.
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Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 1 des Novellentextes ... mit Grotten, Laubengängen und kleinen Pavillons aus Baumrinde ergötzlich ausgestattet ...
Da 'ergötzlich' zu 'ausgestattet' nicht passt, d.h. sich hier ein emphatischer mit einem sachlichen Begriff verbindet, kann das Lob nicht ernst gemeint sein: der Geschmack der Gartenanlage wird in Zweifel gezogen.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 2 des Novellentextes ... alle diese Individuen, die, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, ihm ihr Vermögen ausliefern, um sich von seiner Strenge stützen lassen zu dürfen.
Natürlich liefern Patienten dem Arzt nicht ihr Vermögen aus, schon gar nicht, um sich von seiner Strenge stützen zu lassen, sondern die Behandlung, durch die sie gesund zu werden hoffen, ist nur teuer. Der größtmöglichen Geldausgabe wird also nur ein sehr geringer Effekt zugestanden und damit der ganze Sanatoriumsbetrieb schon fast als ein Schwindel hingestellt.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 3 des Novellentextes ... sie klettert in den Wäscheschränken umher, sie kommandiert die Dienerschaft und bestellt unter den Gesichtspunkten der Sparsamkeit, der Hygiene, des Wohlgeschmacks und der äußeren Anmut den Tisch des Hauses, sie wirtschaftet mit einer rasenden Umsicht ...
Lauter Übertreibungen: Wäscheschränke sind nicht so groß, dass man in ihnen 'umher klettern' kann, das Tischdecken verdient die Unterscheidung von 'Gesichtspunkten' nicht, und 'rasende Umsicht' ist eigentlich ein Widerspruch in sich selbst. Fräulein von Osterloh ist also jemand, der sich mit einer eigentlich banalen Aufgabe außerordentlich wichtig tut.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 4 des Novellentextes Herrschaften mit Herzfehlern ... Nervöse in allen Zuständen ... Ein diabetischer General ... Herren werfen auf jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet.
Lauter mokante Herabsetzungen: Menschen mit Herzfehlern sind keine 'Herrschaften', 'Nervöse' sind eigentlich keine Kranken, ein 'diabetischer General' ist weniger ernst zu nehmen als ein pensionierter General mit Diabetes, und das unbeherrschte Werfen der Beine kann sicherlich nie etwas Gutes bedeuten. - Alle Kennzeichnungen, besonders die der 'unbeherrschten Beine', werden noch mehrfach wiederholt, sodass sie auch Motiv-Charakter haben.
Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 5 des Novellentextes In stiller Nacht wird der wächserne Gast beiseite geschafft ... mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet ...
Der 'wächserne Gast' ist eine respektlos Beschönigung, während umgekehrt die 'Errungenschaften der Neuzeit' dem Hochwert-Vokabular von Anzeigen und Hausprospekten entsprechen.
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Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 6 des Novellentextes Sogar ein Schriftsteller ist da, ein exzentrischer Mensch, der den Namen irgendeines Minerals oder Edelsteines führt und hier dem Herrgott die Tage stiehlt ...
Erster Hinweis auf Spinell nach Art eines sich entwickelnden Motivs, sodass der Name, als er in Abschnitt 4 genannt wird, gewissermaßen nur dessen letzter Ton ist.
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Sprung zu Abschnitt 1 Absatz 6 des Novellentextes ... noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die Hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert.
Hier wird vorbereitet, was es zu bedeuten hat, wenn nach der 'Tristan'-Nacht Doktor Müller die Behandlung von Gabriele Klöterjahn übernimmt. - Mit dem 'Aber' wird der Allerweltsname 'Müller' zum Inbegriff der Unbedeutendheit und in karikaturistischer Zuspitzung auch noch gesagt, dass dieser Arzt 'nicht der Rede wert' sei.