Erstes Kapitel
Von den zehn und mehr Darstellungen, die Meyer zur Geschichte der Glaubenskämpfe des 16. Jahrhunderts gekannt hat, -
- sind nur zwei für die Anlage seines 'Amuletts' von Bedeutung: der Roman "1572 - Chronique du règne de Charles IX"
von Prosper Mérimée aus dem Jahre 1829, und die "Histoire de France au seizième siècle" von Jules Michelet von
1856. Von Mérimée übernahm Meyer den Grundriss seiner Geschichte mit insbesondere einem Duell, bei dem ein Amulett den Ausschlag
gibt, während ihn die 'Geschichte Frankreichs' von Michelet mit einer Vielzahl historischer Einzelheiten versorgte, die er in seiner Handlung
verwenden konnte.
In Prosper Merimées Roman spielt sich Folgendes ab:
Zur Zeit der französischen Religionskriege begibt sich Bernhard, ein junger Protestant, nach Paris, um sich Coligny, dem Anführer der
Hugenotten, zur Verfügung zu stellen. Eines Tages wird er dort von der ebenso bigotten wie leichtfertigen Hofdame Diane de Turgis
bemerkt, die ihren ständigen Begleiter Comminges daraufhin links liegen lässt. Der, ein gewandter Fechter, zettelt deshalb mit Bernhard
einen Streit an, der ein Duell unvermeidlich macht. Vor dem Kampf gibt Diane ihrem Favoriten ein Amulett, das ihm, obwohl er nicht an so etwas glaubt,
den Beistand des Himmels sichern soll.
Tatsächlich rettet dieses Amulett Bernhard das Leben, da es den Stoß des anderen ablenkt und ihm den entscheidenden Gegenstoß
ermöglicht. Er wird Dianes Liebhaber, doch müht sie sich vergeblich, ihn auch zum katholischen Glauben zu bekehren. In der Bartholomäusnacht
ist sie aber bereit, ihn vor seinen Verfolgern zu verstecken und aus Paris entkommen zu lassen.
Neben diese Handlung stellt sich eine zweite um Bernhards Bruder George. Dieser hat sich der katholischen Partei angeschlossen und muss sich
immer wieder fragen, wie weit er bei der Verfolgung der Hugenotten gehen darf. Nach der Bartholomäusnacht unter den Belagerern von
La Rochelle, in das sich die Hugenotten - unter ihnen Bernhard - zurückgezogen haben, trifft ihn eine Kugel, die auf Befehl Bernhards
versehentlich auf ihn abgefeuert wird. Er stirbt in der Einsicht, dass er seinen Tod mit der Wahl der katholischen Seite selbst verschuldet hat,
so wie auch Frankreich an seinem Religionskrieg selbst schuld ist.

So nahe Meyer in seinem "Amulett" diesem Geschehen - auch noch in Einzelzügen - kommt: seine Intention ist von der
Merimées völlig verschieden. Bei Merimée beruhen alle Konflikte auf persönlicher Schuld, auf Versäumnissen, falschen
Ansichten, verwerflichen Begierden, jeder Gedanke an ein Eingreifen höherer Mächte - oder Gottes - in die Ereignisse scheidet aus. Selbst
noch das Amulett beweist hier nichts. Der sonst gute Fechter Comminges ist nur schlecht ausgeschlafen, unkonzentriert, durch seine Eifersucht
übermäßig gereizt und verliert deshalb den Kampf. Und so in allem: es sind die Menschen, die sich bewähren oder nicht
bewähren, und vorherbestimmt ist da gar nichts.
Wie anders bei Meyer! Sein "Amulett" will geradezu den Beweis für die Vorherbestimmtheit des menschlichen Lebens
antreten, es scheint, als habe er allein das mit seiner Aufnahme der Merimée-Konstellation bezweckt. Gewisse Ähnlichkeiten in der
Handlung sind folglich ohne Belang, Meyer macht aus dem Stoff etwas wesentlich Anderes. Die Parallelen, die nachfolgend hier und da aufgezeigt
werden, sind deshalb auch nicht als Belege für Meyers 'Abhängigkeit' von Merimée zu verstehen, sondern sie sollen
erkennbar machen, dass er auch der bei Weitem bessere Darsteller und Erzähler ist.
Das gilt ebenso und erst recht für die Nachweise von Entsprechungen in der "Histoire de France" von Michelet. Hier sind es
überhaupt nur die historischen Sachverhalte, die Meyer übernimmt, die er von irgendwo aber ja auch übernehmen
musste. Hinweise auf diese 'Quelle' dienen also
nur der Vervollständigung des angedeuteten historischen Zusammenhangs.