Neuntes Kapitel
Boccard schwankte, griff mit unsicherer Hand nach dem Medaillon, riss es hervor, drückte es an die erblassenden Lippen und sank
nieder.
Es wirkt wie ein Hohn auf den Bilderglauben, dass das Medaillon zwar den ungläubigen Schadau schützt, den gläubigen Boccard aber
im Stich lässt. Hinsichtlich der Gläubigkeit Boccards könnte man allerdings auch eine andere Lehre ziehen:
dass der Beistand des Himmels nicht zu erzwingen ist. Boccard in seinem restlosen Vertrauen auf die Mutter Gottes von Einsiedeln muss erfahren, dass
er über deren Schutz nicht verfügt. Dass er das Medaillon sterbend noch an die Lippen drückt (anstatt es enttäuscht von sich zu
werfen), könnte man als Ausdruck dieser Einsicht verstehen.
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Der erste Blick überzeugte mich, dass ich ihn verloren hatte, der zweite, nach dem Fenster gerichtete, dass ihn der Tod aus meinem
Reiterpistol getroffen, welches Gaspardes Hand entfallen war ...
Die für Schadau bitterste Wahrnehmung ist, dass Boccard mit seiner Pistole
getötet wird, während umgekehrt dessen Medaillon ihm das Leben gerettet hat. Schuld an Boccards Tod ist er deshalb jedoch nicht. Gasparde hat
diese Pistole zu ihrem Schutz an sich genommen und sich damit auch wirklich schützen können. Dass sie sie im Moment der Flucht verliert,
erscheint ebenso unabwendbar wie der Umstand, dass die daraus abgefeuerte Kugel Boccard trifft. Für Schadau allerdings muss dies zu einem
starken Beweis dafür werden, dass ein ganz besonders unglücklich-glückliches Los über ihn verhängt ist.
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"Ich rechne es mir zur Ehre, Euch einen Gegendienst zu leisten für die Gefälligkeit, mit der Ihr mir seinerzeit das schöne
württembergische Siegel gezeigt habt ..."
Mit dem Gegendienst des Böhmen für die 'unwillkürliche' Geste Schadaus am Bieler See (siehe
2. KAPITEL) tritt eine weitere Ereignisverkettung ein. Dass
Schadau darin eine glückliche Fügung sieht, ist zu verstehen, was noch daraus folgt, scheint sich seinem Blick aber wohl zu entziehen.
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"Seht, als ein vorsichtiger Mann ließ ich mir für alle Fälle von meinem gnädigen Herzog Heinrich für mich
und meine Leute, die wir gestern Nacht dem Admiral unsere Aufwartung machten", diese Worte begleitete er mit einer Mordgebärde,
vor der mir schauderte ...
Diese Andeutungen besagen nichts anderes, als dass der Böhme bei dem Mordkommando war, das Coligny in der Bartholomäusnacht
umgebracht hat. Das aber bedeutet auch: Wenn er damals entkommen ist, um Schadau jetzt retten zu können, so ist er
auch entkommen, um an dem Mord an Coligny beteiligt zu sein - eine angesichts der Bedeutung Colignys schreckliche Ausdehnung dieses
Schicksalsstranges. Ist es jedoch richtig zu folgern, dass "in der pharisäisch-egozentrischen Welt
Schadaus ... ein solcher göttlicher Ratschluß durchaus möglich" erscheint?

Mehr als einen 'Schauder' braucht Schadau hier doch nicht zu empfinden. Da der Böhme Coligny nicht allein überfallen hat, hing von seiner
Mitwirkung die Mordtat nicht ab. Man brauchte sich jedoch nur vorzustellen, er wäre ein Einzeltäter, um die ganze Tragweite des
Schadau'schen Prädestinations-Denkens zu ermessen: jede Tat, selbst die einfachste Hilfeleistung könnte bei einem solchen
Kausaldenken die Beteiligung an einem später ausgeführten Mord bedeuten. Vielleicht ist dies die 'herbe Konsequenz der
calvinistischen Lehre', an der Schadau in jungen Jahren seinen Geist übt.
Bewusst machen kann man sich an dieser Wendung der Geschichte aber jedenfalls, dass die in der jüngeren Fachliteratur breit
geführte Diskussion um Schadaus Toleranz oder Intoleranz in religiösen Fragen an dem gedanklichen Kern dieser Novelle
vorbeigeht. Ihr Thema ist nicht der Glaubensstreit, sondern die Frage, ob eine solche Verkettung von Ereignissen, wie sie hier vorliegt, für Zufall
gehalten werden kann oder ob sie nicht auf Bestimmung beruht. Für Schadau ist die Antwort klar, der Leser muss sich seine selbst geben.