Achtes Kapitel
"Schwester", fragte sie aus dem Flusse, "weißt vielleicht du, warum sie sich morden? Sie werfen mir Leichnam
auf Leichnam in mein strömendes Bett und ich bin schmierig von Blut. Pfui, pfui! Machen vielleicht die Bettler, die ich abends ihre
Lumpen in meinem Wasser waschen sehe, den Reichen den Garaus?" - "Nein, sie morden sich, weil sie nicht einig sind über
den richtigen Weg zur Seligkeit." Und ihr kaltes Antlitz verzog sich zum Hohn, als belache sie eine ungeheure Dummheit ...
Mit diesem Traum oder dieser Vision sollte Schadau von jedem Glaubensdogmatismus, soweit er ihm überhaupt unterlag, geheilt sein.
Andernfalls dürfte er davon gar nicht sprechen oder könnte es nur mit schlechtem Gewissen tun. Da nichts dergleichen zu erkennen ist, hat er
sich die liberale Religiosität seines Onkels - jetzt jedenfalls im Alter - endgültig zu eigen gemacht
(siehe
2. KAPITEL).
Konzipiert hat Conrad Ferdinand Meyer diese Vision allerdings in einem anderen Zusammenhang, nämlich den Aufständen der Pariser
Commune Anfang 1871. Dass 'den Reichen' der Garaus gemacht wird, ist diesem historischen Hintergrund entnommen, auch wenn es in dem 1871
verfassten Gedicht "Die Karyatide" nicht ausgesprochen ist:
Die Karyatide
Im Hof des Louvre trägt ein Weib
Die Zinne mit dem Marmorhaupt,
Mit einem allerliebsten Haupt.
Als Meister Goujon sie geformt
In feinen Linien, überschlank,
Und stehend auf dem Baugerüst
Die letzte Locke meißelte,
Erschoß den Meister hinterrücks
(Am Tag der Saint-Barthelemy)
Ein überzeugter Katholik.
Vorstürzend überflutet' er
Den feinen Busen ganz mit Blut,
Dann sank er rücklings in den Hof.
Die Marmormagd entschlummerte
Und schlief dreihundert Jahre lang,
Ein Feuerschein erwärmte sie
(Am Tag, da die Kommüne focht).
Sie gähnt' und blickte rings sich um:
Wo bin ich denn? In welcher Stadt?
Sie morden sich. Es ist Paris.
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Als Meyer erfuhr, dass der Historiker und Schriftsteller Felix Dahn bei grundsätzlichem Lob über das "Amulett" in der Irrealität
des Fluss-Gespräches einen Bruch sah, stimmte er zu:
Dahn hat Recht mit der weggewünschten Stelle, aber es war mir ein Bedürfniß, meinen persönlichen
Abscheu und Ekel, auch mit Durchbrechung der Harmonie, in diesem im XVI. Jahrhundert überhaupt unmöglichen Traum auszusprechen.
Für den Leser hat das überraschend Fremde dieser Szene allerdings noch einen zusätzlichen Effekt: man behält sie
besonders gut im Gedächtnis. Und wirkt sie nicht sogar - als eine jederzeit und sogar heute vorstellbare - 'realer' als das historische
Theaterstück, das um sie herum aufgeführt wird?