[Vorrede zum Ersten Band]
Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem beschriebenen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in diesem
Büchlein erzählen, sondern einige sonderbare Abfällsel, die so zwischendurch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise ...
Mit der Erklärung, nicht vom gewöhnlichen Leben in Seldwyla erzählen zu wollen, sondern von Ausnahmefällen, übernimmt
Keller geradezu musterhaft das Programm des 'Poetischen Realismus'. Seit dem Aufkommen der Realismus-Forderung in den 1830er Jahren wird in
Deutschland darüber debattiert, wie die getreue Abbildung der Wirklichkeit sich mit dem Merkmal der Schönheit vereinbaren lasse,
das man für die 'Schöne Literatur' für unabdingbar hielt. Die Wirklichkeit sei leider in der Regel nicht schön, so wurde argumentiert,
sie aber zu beschönigen vertrage sich nicht mit der Idee des Realismus.
Die gefundene Lösung: Die Dichter müssten das Leben dort aufsuchen, wo es noch schön sei, oder - wie Friedrich Theodor Vischer
es in seiner "Aesthetik" (1857) formulierte -, die Dichter müssten sich an die grünen Stellen der Wirklichkeit halten. Immer
wieder wird die Liebe als eine solche 'grüne Stelle' genannt, oder es wird empfohlen, die Menschen nicht in ihrer Wochentagsexistenz, sondern
an ihren Sonntagen aufzusuchen. Das Schöne soll sich also aus der richtigen Auswahl der Lebensmomente ergeben, ohne dass das Lebensbild
deshalb über die Wahrscheinlichkeit hinausgehoben erscheint.

Ob Keller mit seinen Novellen ein solches wahrscheinliches Lebensbild entwerfen kann, ist allgemein nicht zu beantworten. Theodor Fontane nannte
ihn wegen gewisser Stilzüge vom Ansatz her einen 'Märchenerzähler' (siehe unter GESTALTUNG zum
5. Teil), für andere
war er ein fast schon das Hässliche bevorzugender Realist. Tatsache ist, dass man beides in seinen Werken findet: einen Zug zum Hübschen und
Lieblichen, der in seiner Überdeutlichkeit allerdings manchmal schon wie zitiert wirkt, und die ungeschminkte Darstellung unschöner Lebensmomente,
die sogar ins Boshafte übergehen kann. Nachfolgend wird auf diese Mischung, die zu beachten sich auch didaktisch lohnt, besonders hingewiesen.