Dresden, den 6. Oktober 1895
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Meine liebe einzige Bertha!
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... Mama ist zum ersten Mal seit Großmama Struves Tod wieder in Dresden,
und ich merke, daß es sie sehr bewegt. ... Am ersten Tag mittags,
als wir in den Table-d'hôte-Saal gingen, übersahen wir die lange
Tafel, und Mama sagte zu mir, daß Rudi zwischen uns sitzen sollte.
Ich weiß nicht ob er es verstanden hatte. Jedenfalls strebte er voran
und setzte sich sofort neben eine auffallende, interessant aussehende Frau,
dann kam ich, dann Mama. Kaum saßen wir, als Rudi schon die dunkle
Dame anredete. ... Er sprach sofort italienisch mit ihr. Ich würde
gar nichts dabei gefunden haben, wenn er sich nur zwischendurch auch mal
mit mir unterhalten hätte! Aber das geschah keineswegs. Mama war zum
Schluß sehr böse, und ich beruhigte sie nach besten Kräften.
[Nachmittags:] Die Unterhaltung mit der Italienerin geht weiter, und Mama
kocht bereits! Er ist eben nicht die Spur in mich verliebt und auch nicht
ritterlich. Mama macht oft bittere Bemerkungen. Sie sagte: "Ich habe ihn
mir doch anders vorgestellt."
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