Am andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Innstetten empfing
sie am Bahnhof, mit ihm Rollo, der, als sie plaudernd durch den
Tiergarten hinfuhren, nebenher trabte.
»Ich dachte schon, du würdest nicht Wort halten.«
»Aber Geert, ich werde doch Wort halten, das ist doch das
Erste.«
»Sage das nicht. Immer Wort halten ist sehr viel. Und mitunter
kann man auch nicht. Denke doch zurück. Ich erwartete dich
damals in Kessin, als du die Wohnung mietetest, und wer nicht
kam, war Effi.«
»Ja, das war was anderes.«
Sie mochte nicht sagen »ich war krank«, und Innstetten
hörte drüber hin. Er hatte seinen Kopf auch voll anderer
Dinge, die sich auf sein Amt und seine gesellschaftliche Stellung
bezogen. »Eigentlich, Effi, fängt unser Berliner Leben
nun erst an. Als wir im April hier einzogen, damals ging es mit
der Saison auf die Neige, kaum noch dass wir unsere Besuche
machen konnten, und Wüllersdorf, der Einzige, dem wir näher standen
- nun, der ist leider Junggeselle. Von Juni an schläft dann
alles ein, und die heruntergelassenen Rouleaus verkünden einem
schon auf hundert Schritt 'Alles ausgeflogen'; ob wahr oder nicht,
macht keinen Unterschied ... Ja, was blieb da noch? Mal mit Vetter
Briest sprechen, mal bei Hiller essen, das ist kein richtiges
Berliner Leben. Aber nun soll es anders werden. Ich habe mir die
Namen aller Räte notiert, die noch mobil genug sind, um ein
Haus zu machen. Und wir wollen es auch, wollen auch ein Haus machen,
und wenn der Winter dann da ist, dann soll es im ganzen Ministerium
heißen: 'Ja, die liebenswürdigste Frau, die wir jetzt
haben, das ist doch die Frau von Innstetten'.«
»Ach, Geert, ich kenne dich ja gar nicht wieder, du sprichst
ja wie ein Courmacher.«
»Es ist unser Hochzeitstag, und da musst du mir schon
was zugute halten.«
Innstetten war ernsthaft gewillt, auf das stille Leben, das er
in seiner landrätlichen Stellung geführt, ein gesellschaftlich
angeregteres folgen zu lassen, um seinet- und noch mehr um Effis
willen; es ließ sich aber anfangs nur schwach und vereinzelt
damit an, die rechte Zeit war noch nicht gekommen, und das Beste,
was man zunächst von dem neuen Leben hatte, war genauso wie
während des zurückliegenden Halbjahres, ein Leben im
Hause. Wüllersdorf kam oft, auch Vetter Briest, und waren
die da, so schickte man zu Gizickis hinauf, einem jungen Ehepaare,
das über ihnen wohnte. Gizicki selbst war Landgerichtsrat,
seine kluge, aufgeweckte Frau ein Fräulein von Schmettau.
Mitunter wurde musiziert, kurze Zeit sogar ein Whist versucht;
man gab es aber wieder auf, weil man fand, dass eine Plauderei
gemütlicher wäre. Gizickis hatten bis vor kurzem in
einer kleinen oberschlesischen Stadt gelebt, und Wüllersdorf
war sogar, freilich vor einer Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten
kleinen Nestern der Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch
den bekannten Spottvers:
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Schrimm
Ist schlimm,
Rogasen
Zum Rasen,
Aber weh dir nach Samter
Verdammter -
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Solche Beängstigungen blieben ihr auch. Aber sie kamen doch
seltener und schwächer, was bei der Art, wie sich ihr Leben
gestaltete, nicht wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr
nicht nur Innstetten, sondern auch ferner stehende Personen begegneten,
und nicht zum wenigsten die beinah zärtliche Freundschaft,
die die Ministerin, eine selbst noch junge Frau, für sie
an den Tag legte - all das ließ die Sorgen und Ängste
zurückliegender Tage sich wenigstens mindern, und als ein
zweites Jahr ins Land gegangen war und die Kaiserin bei Gelegenheit
einer neuen Stiftung die »Frau Geheimrätin« mit
ausgewählt und in die Zahl der Ehrendamen eingereiht, der
alte Kaiser Wilhelm aber auf dem Hofball gnädige, huldvolle
Worte an die schöne, junge Frau, »von der er schon gehört
habe«, gerichtet hatte, da fiel es allmählich von ihr ab.
Es war einmal gewesen, aber weit, weit weg, wie auf einem andern
Stern, und alles löste sich wie ein Nebelbild und wurde Traum.
Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten
sich des Glücks der Kinder, Annie wuchs heran - »schön
wie die Großmutter«, sagte der alte Briest -, und wenn
es an dem klaren Himmel eine Wolke gab, so war es die, dass
es, wie man nun beinahe annehmen musste, bei Klein-Annie
sein Bewenden haben werde; Haus Innstetten (denn es gab nicht
einmal Namensvettern) stand also mutmaßlich auf dem Aussterbeetat.
Briest, der den Fortbestand anderer Familien obenhin behandelte,
weil er eigentlich nur an die Briests glaubte, scherzte mitunter
darüber und sagte: »Ja, Innstetten, wenn das so weitergeht,
so wird Annie seinerzeit wohl einen Bankier heiraten (hoffentlich
einen christlichen, wenn's deren dann noch gibt), und mit Rücksicht
auf das alte freiherrliche Geschlecht der Innstetten wird dann
Seine Majestät Annies Haute-finance-Kinder unter dem Namen
'von der Innstetten' im Gothaischen Kalender oder, was weniger
wichtig ist, in der preußischen Geschichte fortleben lassen«
- Ausführungen, die von Innstetten selbst immer mit einer
kleinen Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von
Effi dagegen mit Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz
sie war, so war sie's doch nur für ihre Person, und ein eleganter
und welterfahrener und vor allem sehr, sehr reicher Bankierschwiegersohn
wäre durchaus nicht gegen ihre Wünsche gewesen.
Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende Frauen
das tun; als aber eine lange, lange Zeit - sie waren schon im
siebenten Jahre in ihrer neuen Stellung - vergangen war, wurde
der alte Rummschüttel, der auf dem Gebiete der Gynäkologie
nicht ganz ohne Ruf war, durch Frau von Briest doch schließlich
zu Rate gezogen. Er verordnete Schwalbach. Weil aber Effi seit
letztem Winter auch an katarrhalischen Affektionen litt und ein
paar Mal sogar auf Lunge hin behorcht worden war, so hieß
es abschließend: »Also zunächst Schwalbach, meine
Gnädigste, sagen wir drei Wochen, und dann ebenso lange Ems.
Bei der Emser Kur kann aber der Geheimrat zugegen sein. Bedeutet
mithin alles in allem drei Wochen Trennung. Mehr kann ich für
Sie nicht tun, lieber Innstetten.«
Damit war man denn auch einverstanden, und zwar sollte Effi, dahin
ging ein weiterer Beschluss, die Reise mit einer Geheimrätin
Zwicker zusammen machen, wie Briest sagte, »zum Schutz dieser
letzteren«, worin er nicht ganz Unrecht hatte, da die Zwicker,
trotz guter vierzig, eines Schutzes erheblich bedürftiger
war als Effi. Innstetten, der wieder viel mit Vertretung zu tun
hatte, beklagte, dass er, von Schwalbach gar nicht zu reden,
wahrscheinlich auch auf gemeinschaftliche Tage in Ems werde verzichten
müssen. Im Übrigen wurde der 24. Juni (Johannistag)
als Abreisetag festgesetzt, und Roswitha half der gnädigen
Frau beim Packen und Aufschreiben der Wäsche. Effi hatte
noch immer die alte Liebe für sie, war doch Roswitha die
Einzige, mit der sie von all dem Zurückliegenden, von Kessin
und Crampas, von dem Chinesen und Kapitän Thomsens Nichte
frei und unbefangen reden konnte.
»Sage, Roswitha, du bist doch eigentlich katholisch. Gehst
du denn nie zur Beichte?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich bin früher gegangen. Aber das richtige hab ich
doch nicht gesagt.«
»Das ist sehr unrecht. Dann freilich kann es nicht helfen.«
»Ach, gnädigste Frau, bei mir im Dorfe machten es alle
so. Und welche waren, die kicherten bloß.«
»Hast du denn nie empfunden, dass es ein Glück
ist, wenn man etwas auf der Seele hat, dass es runter kann?«
»Nein, gnädigste Frau. Angst habe ich wohl gehabt, als
mein Vater damals mit dem glühenden Eisen auf mich los kam;
ja, das war eine große Furcht, aber weiter war es nichts.«
»Nicht vor Gott?«
»Nicht so recht, gnädigste Frau. Wenn man sich vor seinem
Vater so fürchtet, wie ich mich gefürchtet habe, dann
fürchtet man sich nicht so sehr vor Gott. Ich habe bloß
immer gedacht, der liebe Gott sei gut und werde mir armem Wurm
schon helfen.«
Effi lächelte und brach ab und fand es auch natürlich,
dass die arme Roswitha so sprach, wie sie sprach. Sie sagte
aber doch: »Weißt du, Roswitha, wenn ich wiederkomme,
müssen wir doch noch mal ernstlich drüber reden. Es
war doch eigentlich eine große Sünde.«
»Das mit dem Kinde, und dass es verhungert ist? Ja, gnädigste
Frau, das war es. Aber ich war es ja nicht, das waren ja die anderen
... Und dann ist es auch schon so sehr lange her.«
