So war Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr
noch eine halbe Woche Zeit, sich einzurichten und die verschiedensten
Briefe nach Hohen-Cremmen zu schreiben, an die Mama, an Hulda
und die Zwillinge; dann aber hatten die Stadtbesuche begonnen,
die zum Teil (es regnete gerade so, dass man sich diese Ungewöhnlichkeit
schon gestatten konnte) in einer geschlossenen Kutsche gemacht
wurden. Als man damit fertig war, kam der Landadel an die Reihe.
Das dauerte länger, da sich bei den meist großen Entfernungen
an jedem Tag nur eine Visite machen ließ. Zuerst war man
bei den Borckes in Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz
und Kroschentin, wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und den
Grasenabbs den pflichtschuldigen Besuch abstattete. Noch ein paar
andere folgten, unter denen auch der alte Baron von Güldenklee
auf Papenhagen war. Der Eindruck, den Effi empfing, war überall
derselbe: mittelmäßige Menschen, von meist zweifelhafter
Liebenswürdigkeit, die, während sie vorgaben, über
Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen, eigentlich nur Effis
Toilette musterten, die von einigen als zu prätentiös
für eine so jugendliche Dame, von andern als zu wenig dezent
für eine Dame von gesellschaftlicher Stellung befunden wurde.
Man merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für Äußerliches
und eine merkwürdige Verlegenheit und Unsicherheit bei Berührung
großer Fragen. In Rothenmoor bei den Borckes und dann auch
bei den Familien in Morgnitz und Dabergotz war sie für »rationalistisch
angekränkelt«, bei den Grasenabbs in Kroschentin aber
rundweg für eine »Atheistin« erklärt worden.
Allerdings hatte die alte Frau von Grasenabb, eine Süddeutsche
(geborene Stiefel von Stiefelstein), einen schwachen Versuch gemacht,
Effi wenigstens für den Deismus zu retten; Sidonie von Grasenabb
aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer, war barsch
dazwischengefahren: »Ich sage dir, Mutter, einfach Atheistin,
kein Zollbreit weniger, und dabei bleibt es«, worauf die
Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter fürchtete, klüglich
geschwiegen hatte.
Die ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen gedauert, und
es war am 2. Dezember, als man zu schon später Stunde von
dem letzten dieser Besuche nach Kessin zurückkehrte. Dieser
letzte Besuch hatte den Güldenklees auf Papenhagen gegolten,
bei welcher Gelegenheit Innstetten dem Schicksal nicht entgangen
war, mit dem alten Güldenklee politisieren zu müssen.
»Ja, teuerster Landrat, wenn ich so den Wechsel der Zeiten
bedenke! Heute vor einem Menschenalter oder ungefähr so lange,
ja, da war auch ein 2. Dezember und der gute Louis und Napoleons-Neffe
- wenn er so was war und nicht eigentlich ganz woanders
herstammte, - der kartätschte damals auf die Pariser Kanaille.
Na, das mag ihm verziehen sein, für so was war er
der rechte Mann, und ich halte zu dem Satz: 'Jeder hat es gerade
so gut und so schlecht, wie er's verdient.' Aber dass er
nachher alle Schätzung verlor und anno siebzig so mir nichts
dir nichts auch mit uns anbinden wollte, sehen Sie, Baron,
das war, ja wie sag ich, das war eine Insolenz. Es ist ihm aber
auch heimgezahlt worden. Unser Alter da oben lässt sich
nicht spotten, der steht zu uns.«
»Ja«, sagte Innstetten, der klug genug war, auf solche
Philistereien anscheinend ernsthaft einzugehen, »der Held
und Eroberer von Saarbrücken wusste nicht, was er tat.
Aber Sie dürfen nicht zu streng mit ihm persönlich abrechnen.
Wer ist am Ende Herr in seinem Hause? Niemand. Ich richte mich
auch schon darauf ein, die Zügel der Regierung in andere
Hände zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war vollends
ein Stück Wachs in den Händen seiner katholischen Frau,
oder sagen wir lieber, seiner jesuitischen Frau.«
»Wachs in den Händen seiner Frau, die ihm dann eine
Nase drehte. Natürlich, Innstetten, das war er. Aber
damit wollen Sie diese Puppe doch nicht etwa retten? Er ist und
bleibt gerichtet. An und für sich ist es übrigens noch
gar nicht mal erwiesen«, und sein Blick suchte bei diesen
Worten etwas ängstlich nach dem Auge seiner Ehehälfte,
»ob nicht Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten
kann; nur freilich, die Frau muss danach sein. Aber wer war
diese Frau? Sie war überhaupt keine Frau, im günstigsten
Falle war sie eine Dame, das sagt alles; 'Dame' hat beinah immer
einen Beigeschmack. Diese Eugenie - über deren Verhältnis
zu dem jüdischen Bankier ich hier gern hingehe, denn ich
hasse Tugendhochmut - hatte was vom Café chantant, und
wenn die Stadt, in der sie lebte, das Babel war, so war sie das
Weib von Babel. Ich mag mich nicht deutlicher ausdrücken,
denn ich weiß«, und er verneigte sich gegen Effi, »was
ich deutschen Frauen schuldig bin. Um Vergebung, meine Gnädigste,
dass ich diese Dinge vor Ihren Ohren überhaupt berührt
habe.«
So war die Unterhaltung gegangen, nachdem man vorher
von Wahl, Nobiling und Raps gesprochen hatte, und nun saßen
Innstetten und Effi wieder daheim und plauderten noch eine halbe
Stunde. Die beiden Mädchen im Hause waren schon zu Bett,
denn es war nah an Mitternacht.
Innstetten, in kurzem Hausrock und Saffianschuhen, ging auf und
ab; Effi war noch in ihrer Gesellschaftstoilette; Fächer
und Handschuhe lagen neben ihr.
»Ja«, sagte Innstetten, während er sein
Auf- und Abschreiten im Zimmer unterbrach, »diesen
Tag müssten wir nun wohl eigentlich feiern, und ich
weiß nur noch nicht womit. Soll ich dir einen Siegesmarsch
vorspielen oder den Haifisch draußen in Bewegung setzen
oder dich im Triumph über den Flur tragen? Etwas muss
doch geschehen, denn du musst wissen, das war nun heute die
letzte Visite.«
»Gott sei Dank war sie's«, sagte Effi. »Aber das
Gefühl, dass wir nun Ruhe haben, ist, denk ich, gerade
Feier genug. Nur einen Kuss könntest du mir geben. Aber
daran denkst du nicht. Auf dem ganzen weiten Weg nicht gerührt,
frostig wie ein Schneemann. Und immer nur die Zigarre.«
»Lass, ich werde mich schon bessern und will vorläufig
nur wissen, wie stehst du zu dieser ganzen Umgangs- und Verkehrsfrage?
Fühlst du dich zu dem einen oder andern hingezogen? Haben
die Borckes die Grasenabbs geschlagen oder umgekehrt, oder hältst
du's mit dem alten Güldenklee? Was er da über die Eugenie
sagte, machte doch einen sehr edlen und reinen Eindruck.«
»Ei, sieh, Herr von Innstetten, auch medisant! Ich lerne
Sie von einer ganz neuen Seite kennen.«
»Und wenn's unser Adel nicht tut«, fuhr Innstetten fort,
ohne sich stören zu lassen, »wie stehst du zu den Kessiner
Stadthonoratioren? Wie stehst du zur Ressource? Daran hängt
doch am Ende Leben und Sterben. Ich habe dich da neulich mit unserem
reserveleutnantlichen Amtsrichter sprechen sehen, einem zierlichen
Männchen, mit dem sich vielleicht durchkommen ließe,
wenn er nur endlich von der Vorstellung los könnte, die Wiedereroberung
von Le Bourget durch sein Erscheinen in der Flanke zustande gebracht
zu haben. Und seine Frau! Sie gilt als die beste Bostonspielerin
und hat auch die hübschesten Anlegemarken. Also nochmals,
Effi, wie wird es werden in Kessin? Wirst du dich einleben? Wirst
du populär werden und mir die Majorität sichern, wenn
ich in den Reichstag will? Oder bist du für Einsiedlertum,
für Abschluss von der Kessiner Menschheit, so Stadt
wie Land?«
»Ich werde mich wohl für Einsiedlertum entschließen,
wenn mich die Mohrenapotheke nicht herausreißt. Bei Sidonie
werd ich dadurch freilich noch etwas tiefer sinken, aber darauf
muss ich es ankommen lassen; dieser Kampf muss eben
gekämpft werden. Ich steh und falle mit Gieshübler.
Es klingt etwas komisch, aber er ist wirklich der Einzige, mit
dem sich ein Wort reden lässt, der einzige richtige
Mensch hier.«
»Das ist er«, sagte Innstetten. »Wie gut du zu
wählen verstehst.«
»Hätte ich sonst dich?« sagte Effi und hing
sich an seinen Arm.
Das war am 2. Dezember. Eine Woche später war Bismarck in
Varzin, und nun wusste Innstetten, dass bis Weihnachten
und vielleicht noch darüber hinaus an ruhige Tage für
ihn gar nicht mehr zu denken sei. Der Fürst hatte noch von
Versailles her eine Vorliebe für ihn und lud ihn, wenn Besuch
da war, häufig zu Tisch, aber auch allein, denn der jugendliche,
durch Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete Landrat stand
ebenso in Gunst bei der Fürstin.
Zum 14. erfolgte die erste Einladung. Es lag Schnee, weshalb Innstetten
die fast zweistündige Fahrt bis an den Bahnhof, von wo noch
eine Stunde Eisenbahn war, im Schlitten zu machen vorhatte. »Warte
nicht auf mich, Effi. Vor Mitternacht kann ich nicht zurück
sein; wahrscheinlich wird es zwei oder noch später. Ich störe
dich aber nicht. Gehab dich wohl und auf Wiedersehen morgen früh.«
Und damit stieg er ein, und die beiden isabellfarbenen Graditzer
jagten im Fluge durch die Stadt hin und dann landeinwärts
auf den Bahnhof zu.
Das war die erste lange Trennung, fast auf zwölf Stunden.
Arme Effi. Wie sollte sie den Abend verbringen? Früh zu Bett,
das war gefährlich, dann wachte sie auf und konnte nicht
wieder einschlafen und horchte auf alles. Nein, erst recht müde
werden und dann ein fester Schlaf, das war das Beste. Sie schrieb
einen Brief an die Mama und ging dann zu Frau Kruse, deren gemütskranker
Zustand - sie hatte das schwarze Huhn oft bis in die Nacht hinein
auf ihrem Schoß - ihr Teilnahme einflößte. Die
Freundlichkeit indessen, die sich darin aussprach, wurde von der
in ihrer überheizten Stube sitzenden und nur still und stumm
vor sich hinbrütenden Frau keinen Augenblick erwidert, weshalb
Effi, als sie wahrnahm, dass ihr Besuch mehr als Störung
wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und nur noch fragte,
ob die Kranke etwas haben wolle. Diese lehnte aber alles ab.
Inzwischen war es Abend geworden und die Lampe brannte schon.
Effi stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Wäldchen
hinaus, auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war
von dem Bilde ganz in Anspruch genommen und kümmerte sich
nicht um das, was hinter ihr in dem Zimmer vorging. Als sie sich
wieder umsah, bemerkte sie, dass Friedrich still und geräuschlos
ein Kuvert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatisch gestellt
hatte. »Ja so, Abendbrot ... Da werd ich mich nun wohl setzen
müssen.« Aber es wollte nicht schmecken, und so stand
sie wieder auf und las den an die Mama geschriebenen Brief noch
einmal durch. Hatte sie schon vorher ein Gefühl der Einsamkeit
gehabt, so jetzt doppelt. Was hätte sie darum gegeben, wenn
die beiden Jahnke'schen Rotköpfe jetzt eingetreten wären
oder selbst Hulda. Die war freilich immer so sentimental und beschäftigte
sich meist nur mit ihren Triumphen; aber so zweifelhaft und anfechtbar
diese Triumphe waren, sie hätte sich in diesem Augenblicke
doch gern davon erzählen lassen. Schließlich klappte
sie den Flügel auf, um zu spielen; aber es ging nicht. »Nein,
dabei werd ich vollends melancholisch; lieber lesen.« Und
so suchte sie nach einem Buche. Das erste, was ihr zu Händen
kam, war ein dickes, rotes Reisehandbuch, alter Jahrgang, vielleicht
schon aus Innstettens Leutnantstagen her. »Ja, darin will
ich lesen; es gibt nichts Beruhigenderes als solche Bücher.
Das Gefährliche sind bloß immer die Karten; aber vor
diesem Augenpulver, das ich hasse, werd ich mich schon hüten.«
Und so schlug sie denn auf gut Glück auf, Seite 153. Nebenan
hörte sie das Ticktack der Uhr und draußen Rollo, der,
seit es dunkel war, seinen Platz in der Remise aufgegeben und
sich wie jeden Abend so auch heute wieder auf die große
geflochtene Matte, die vor dem Schlafzimmer lag, ausgestreckt
hatte. Das Bewusstsein seiner Nähe minderte das Gefühl
ihrer Verlassenheit, ja, sie kam fast in Stimmung, und so begann
sie denn auch unverzüglich zu lesen. Auf der gerade vor ihr
aufgeschlagenen Seite war von der »Eremitage«, dem bekannten
markgräflichen Lustschloss in der Nähe von Bayreuth,
die Rede; das lockte sie, Bayreuth, Richard Wagner, und so las
sie denn: »Unter den Bildern in der Eremitage nennen wir noch eins,
das nicht durch seine Schönheit, wohl aber durch sein Alter
und durch die Person, die es darstellt, ein Interesse beansprucht.
Es ist dies ein stark nachgedunkeltes Frauenporträt, kleiner
Kopf, mit herben, etwas unheimlichen Gesichtszügen und einer
Halskrause, die den Kopf zu tragen scheint. Einige meinen, es
sei eine alte Markgräfin aus dem Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts, andere sind der Ansicht, es sei die Gräfin
von Orlamünde; darin aber sind beide einig, dass es
das Bildnis der Dame sei, die seither in der Geschichte der Hohenzollern
unter dem Namen der »Weißen Frau« eine gewisse
Berühmtheit erlangt hat.«
»Das hab ich gut getroffen«, sagte Effi, während
sie das Buch beiseite schob; »ich will mir die Nerven beruhigen,
und das Erste, was ich lese, ist die Geschichte von der weißen
Frau, vor der ich mich gefürchtet habe, so lang ich denken
kann. Aber da nun das Gruseln mal da ist, will ich doch auch zu
Ende lesen.«
Und sie schlug wieder auf und las weiter: »... Ebendies alte Porträt
(dessen Original in der Hohenzollern'schen Familiengeschichte
solche Rolle spielt) spielt als Bild auch eine Rolle in
der Spezialgeschichte des Schlosses Eremitage, was wohl damit
zusammenhängt, dass es an einer dem Fremden unsichtbaren
Tapetentür hängt, hinter der sich eine vom Souterrain
her hinaufführende Treppe befindet. Es heißt, dass,
als Napoleon hier übernachtete, die 'Weiße Frau'
aus dem Rahmen herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten
sei. Der Kaiser, entsetzt auffahrend, habe nach seinem Adjutanten
gerufen und bis an sein Lebensende mit Entrüstung von diesem
'maudit château' gesprochen.«
»Ich muss es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen
zu wollen«, sagte Effi. »Lese ich weiter, so komm ich
gewiss noch nach einem Kellergewölbe, wo der Teufel
auf einem Weinfass davongeritten ist. Es gibt, glaub ich,
in Deutschland viel dergleichen, und in einem Reisehandbuch muss
es sich natürlich alles zusammenfinden. Ich will also lieber
wieder die Augen schließen und mir, so gut es geht, meinen
Polterabend vorstellen: die Zwillinge, wie sie vor Tränen
nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter Briest, der, als sich
alles verlegen anblickte, mit erstaunlicher Würde behauptete,
solche Tränen öffneten einem das Paradies. Er war wirklich
charmant und immer so übermütig ... Und nun ich! Und
gerade hier. Ach, ich tauge doch gar nicht für eine große
Dame. Die Mama, ja, die hätte hierher gepasst, die hätte,
wie's einer Landrätin zukommt, den Ton angegeben, und Sidonie
Grasenabb wäre ganz Huldigung gegen sie gewesen und hätte
sich über ihren Glauben oder Unglauben nicht groß beunruhigt.
Aber ich ... Ich bin ein Kind und werd es auch wohl bleiben. Einmal
hab ich gehört, das sei ein Glück. Aber ich weiß
doch nicht, ob das wahr ist. Man muss doch immer dahin passen,
wohin man nun mal gestellt ist.«
In diesem Augenblicke kam Friedrich, um den Tisch abzuräumen.
»Wie spät ist es, Friedrich?«
»Es geht auf neun, gnäd'ge Frau.«
»Nun, das lässt sich hören. Schicken Sie mir
Johanna.«
»Gnäd'ge Frau haben befohlen?«
»Ja, Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es ist eigentlich noch
früh. Aber ich bin so allein. Bitte, tun Sie den Brief erst
ein, und wenn Sie wieder da sind, nun, dann wird es wohl Zeit
sein. Und wenn auch nicht.«
Effi nahm die Lampe und ging in ihr Schlafzimmer hinüber.
Richtig, auf der Binsenmatte lag Rollo. Als er Effi kommen sah,
erhob er sich, um den Platz frei zu geben, und strich mit seinem
Behang an ihrer Hand hin. Dann legte er sich wieder nieder.
Johanna war inzwischen nach dem Landratsamt hinübergegangen,
um da den Brief einzustecken. Sie hatte sich drüben nicht
sonderlich beeilt, vielmehr vorgezogen, mit der Frau Paaschen,
des Amtsdieners Frau, ein Gespräch zu führen. Natürlich
über die junge Frau.
»Wie ist sie denn?«, fragte die Paaschen.
»Sehr jung ist sie.«
»Nun, das ist kein Unglück, eher umgekehrt. Die Jungen,
und das ist eben das Gute, stehen immer bloß vorm Spiegel
und zupfen und stecken sich was vor und sehen nicht viel und hören
nicht viel und sind noch nicht so, dass sie draußen
immer die Lichtstümpfe zählen und einem nicht gönnen,
dass man einen Kuss kriegt, bloß weil sie selber
keinen mehr kriegen.«
»Ja«, sagte Johanna, »so war meine vorige Madam
und ganz ohne Not. Aber davon hat unsere Gnäd'ge nichts.«
»Ist er denn sehr zärtlich?«
»O sehr. Das können Sie doch wohl denken.«
»Aber dass er sie so allein lässt ...«
»Ja, liebe Paaschen, Sie dürfen nicht vergessen ...
der Fürst. Und dann, er ist ja doch am Ende Landrat. Und
vielleicht will er auch noch höher.«
»Gewiss will er. Und er wird auch noch. Er hat so was.
Paaschen sagt es auch immer, und der kennt seine Leute.«
Während dieses Ganges drüben nach dem Amt hinüber
war wohl eine Viertelstunde vergangen, und als Johanna wieder
zurück war, saß Effi schon vor dem Trumeau und wartete.
»Sie sind lange geblieben, Johanna.«
»Ja, gnäd'ge Frau ... Gnäd'ge Frau wollen entschuldigen
... Ich traf drüben die Frau Paaschen, und da hab ich mich
ein wenig verweilt. Es ist so still hier. Man ist immer froh,
wenn man einen Menschen trifft, mit dem man ein Wort sprechen
kann. Christel ist eine sehr gute Person, aber sie spricht nicht,
und Friedrich ist so dusig und auch so vorsichtig und will mit
der Sprache nie recht heraus. Gewiss, man muss auch
schweigen können, und die Paaschen, die so neugierig und
so ganz gewöhnlich ist, ist eigentlich gar nicht nach meinem
Geschmack; aber man hat es doch gern, wenn man mal was hört
und sieht.«
Effi seufzte. »Ja, Johanna, das ist auch das Beste ...«
»Gnäd'ge Frau haben so schönes Haar, so lang und
so seidenweich.«
»Ja, es ist sehr weich. Aber das ist nicht gut, Johanna.
Wie das Haar ist, ist der Charakter.«
»Gewiss, gnäd'ge Frau. Und ein weicher Charakter
ist doch besser als ein harter. Ich habe auch weiches Haar.«
»Ja, Johanna. Und Sie haben auch blondes. Das haben die Männer
am liebsten.«
»Ach, das ist doch sehr verschieden, gnäd'ge Frau. Manche
sind doch auch für das schwarze.«
»Freilich«, lachte Effi, »das habe ich auch schon
gefunden. Es wird wohl an was anderem liegen. Aber die, die blond
sind, die haben auch immer einen weißen Teint, Sie auch,
Johanna, und ich möchte mich wohl verwetten, dass Sie
viel Nachstellung haben. Ich bin noch sehr jung, aber das weiß
ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin, die war auch so
blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie und war eine Predigerstochter
...«
»Ja, denn ...«
»Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 'ja denn'.
Das klingt ja ganz anzüglich und sonderbar, und Sie werden
doch nichts gegen Predigerstöchter haben ... Es war ein sehr
hübsches Mädchen, was selbst unsere Offiziere - wir
hatten nämlich Offiziere, noch dazu rote Husaren - auch immer
fanden, und verstand sich dabei sehr gut auf Toilette, schwarzes
Sammetmieder und eine Blume, Rose oder auch Heliotrop, und wenn
sie nicht so vorstehende große Augen gehabt hätte ...
ach, die hätten Sie sehen sollen, Johanna, wenigstens so
groß (und Effi zog unter Lachen an ihrem rechten Augenlid),
so wäre sie geradezu eine Schönheit gewesen. Sie hieß
Hulda, Hulda Niemeyer, und wir waren nicht einmal so ganz intim;
aber wenn ich sie jetzt hier hätte und sie da säße,
da in der kleinen Sofaecke, so wollte ich bis Mitternacht mit
ihr plaudern oder noch länger. Ich habe solche Sehnsucht,
und ...« - und dabei zog sie Johannas Kopf dicht an sich heran -
»... ich habe solche Angst.«
»Ach, das gibt sich, gnäd'ge Frau, die hatten wir alle.«
»Die hattet ihr alle? Was soll das heißen, Johanna?«
»... Und wenn die gnäd'ge Frau wirklich solche Angst
haben, so kann ich mir ja ein Lager hier machen. Ich nehme die
Strohmatte und kehre einen Stuhl um, dass ich eine Kopflehne
habe, und dann schlafe ich hier bis morgen früh oder bis
der gnäd'ge Herr wieder da ist.«
»Er will mich nicht stören. Das hat er mir eigens versprochen.«
»Oder ich setze mich bloß in die Sofaecke.«
»Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht.
Der Herr darf nicht wissen, dass ich mich ängstige,
das liebt er nicht. Er will immer, dass ich tapfer und entschlossen
bin, so wie er. Und das kann ich nicht; ich war immer etwas anfällig
... Aber freilich, ich sehe wohl ein, ich muss mich bezwingen
und ihm in solchen Stücken und überhaupt zu Willen sein
... Und dann habe ich ja auch Rollo. Der liegt ja vor der Türschwelle.«
Johanna nickte zu jedem Wort und zündete dann das Licht an,
das auf Effis Nachttisch stand. Dann nahm sie die Lampe. »Befehlen
gnäd'ge Frau noch etwas?«
»Nein, Johanna. Die Läden sind doch fest geschlossen?«
»Bloß angelegt, gnäd'ge Frau. Es ist sonst so
dunkel und so stickig.«
»Gut, gut.«
Und nun entfernte sich Johanna; Effi aber ging auf ihr Bett zu
und wickelte sich in ihre Decken.
Sie ließ das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht
gleich einzuschlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend
so jetzt ihre Hochzeitsreise zu rekapitulieren und alles an sich
vorüberziehen zu lassen. Aber es kam anders, wie sie gedacht,
und als sie bis Verona war und nach dem Hause der Julia Capulet
suchte, fielen ihr schon die Augen zu. Das Stümpfchen Licht
in dem kleinen Silberleuchter brannte allmählich nieder,
und nun flackerte es noch einmal auf und erlosch.
Effi schlief eine Weile ganz fest. Aber mit einem Male fuhr sie mit einem lauten
Schrei aus ihrem Schlafe auf, ja sie hörte selber noch den
Aufschrei und auch wie Rollo draußen anschlug - »wau,
wau« klang es den Flur entlang, dumpf und selber beinah
ängstlich. Ihr war, als ob ihr das Herz stillstände;
sie konnte nicht rufen, und in diesem Augenblicke huschte was an
ihr vorbei, und die nach dem Flur hinausführende Tür
sprang auf. Aber eben dieser Moment höchster Angst war auch
der ihrer Befreiung, denn statt etwas Schrecklichem kam jetzt
Rollo auf sie zu, suchte mit seinem Kopf nach ihrer Hand und legte
sich, als er diese gefunden, auf den vor ihrem Bett ausgebreiteten
Teppich nieder. Effi selber aber hatte mit der anderen Hand dreimal
auf den Knopf der Klingel gedrückt, und keine halbe Minute,
so war Johanna da, barfüßig, den Rock über dem
Arm und ein großes kariertes Tuch über Kopf und Schulter
geschlagen.
»Gott sei Dank, Johanna, dass Sie da sind.«
»Was war denn, gnäd'ge Frau? Gnäd'ge Frau haben
geträumt.«
»Ja, geträumt. Es muss so was gewesen sein ...
aber es war doch auch noch was anderes.«
»Was denn, gnäd'ge Frau?«
»Ich schlief ganz fest, und mit
einem Male fuhr ich auf und schrie ... vielleicht, dass es
ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie, mein Papa
hat es auch und ängstigt uns damit, und nur die Mama sagt
immer, er solle sich nicht so gehen lassen; aber das ist leicht
gesagt ... ich fuhr also auf aus dem Schlaf und schrie, und als
ich mich umsah, so gut es eben ging in dem Dunkel, da strich was
an meinem Bett vorbei, gerade da, wo Sie jetzt stehen, Johanna,
und dann war es weg. Und wenn ich mich recht frage, was es war
...«
»Nun was denn, gnäd'ge Frau?«
»Und wenn ich mich recht frage ... ich mag es nicht sagen,
Johanna ... aber ich glaube, der Chinese.«
»Der von oben?«, und Johanna versuchte zu lachen, »unser
kleiner Chinese, den wir an die Stuhllehne geklebt haben, Christel
und ich. Ach, gnäd'ge Frau haben geträumt, und wenn
Sie schon wach waren, so war es doch alles noch aus dem Traum.«
»Ich würd es glauben. Aber es war genau derselbe Augenblick,
wo Rollo draußen anschlug, der muss es also auch gesehen
haben, und dann flog die Tür auf, und das gute, treue Tier
sprang auf mich los, als ob es mich zu retten käme. Ach,
meine liebe Johanna, es war entsetzlich. Und ich so allein und
so jung. Ach, wenn ich doch wen hier hätte, bei dem ich weinen
könnte. Aber so weit von Hause ... Ach, von Hause ...«
»Der Herr kann jede Stunde kommen.«
»Nein, er soll nicht kommen; er soll mich so nicht sehen.
Er würde mich vielleicht auslachen, und das könnt ich
ihm nie verzeihen. Denn es war so furchtbar, Johanna ... Sie müssen
nun hier bleiben ... Aber lassen Sie Christel schlafen und Friedrich
auch. Es soll es keiner wissen.«
»Oder vielleicht kann ich auch die Frau Kruse holen; die
schläft doch nicht, die sitzt die ganze Nacht da.«
»Nein, nein, die ist selber so was. Das mit dem schwarzen
Huhn, das ist auch so was; die darf nicht kommen. Nein, Johanna,
Sie bleiben allein hier. Und wie gut, dass Sie die Läden
nur angelegt. Stoßen Sie sie auf, recht laut, dass
ich einen Ton höre, einen menschlichen Ton ... ich muss
es so nennen, wenn es auch sonderbar klingt ... und dann machen
Sie das Fenster ein wenig auf, dass ich Luft und Licht habe.«
Johanna tat, wie ihr geheißen, und Effi fiel in ihre Kissen
zurück und bald danach in einen lethargischen Schlaf.
