Rummschüttel, als er gerufen wurde, fand Effis Zustand nicht
unbedenklich. Das Hektische, das er seit Jahr und Tag an ihr beobachtete,
trat ihm ausgesprochener als früher entgegen, und, was schlimmer
war, auch die ersten Zeichen eines Nervenleidens waren da. Seine
ruhig freundliche Weise aber, der er einen Beisatz von Laune zu
geben wusste, tat Effi wohl, und sie war ruhig, solange Rummschüttel
um sie war. Als er schließlich ging, begleitete Roswitha
den alten Herrn bis in den Vorflur und sagte: »Gott, Herr
Geheimrat, mir ist so bange; wenn es nu mal wiederkommt, und es
kann doch; Gott, - da hab ich ja keine ruhige Stunde mehr. Es
war aber doch auch zuviel, das mit dem Kind. Die arme gnädige
Frau. Und noch so jung, wo manche erst anfangen.«
Den zweiten Tag danach traf ein Brief in Hohen-Cremmen ein, der
lautete: »Gnädigste Frau! Meine alten freundschaftlichen
Beziehungen zu den Häusern Briest und Belling, und nicht zum
wenigsten die herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau Tochter hege,
werden diese Zeilen rechtfertigen. Es geht so nicht weiter. Ihre
Frau Tochter, wenn nicht etwas geschieht, das sie der Einsamkeit
und dem Schmerzlichen ihres nun seit Jahren geführten Lebens
entreißt, wird schnell hinsiechen. Eine Disposition zu Phtisis
war immer da, weshalb ich schon vor Jahren Ems verordnete; zu diesem
alten Übel hat sich nun ein neues gesellt: ihre Nerven zehren
sich auf. Dem Einhalt zu tun, ist ein Luftwechsel nötig.
Aber wohin? Es würde nicht schwer sein, in den schlesischen
Bädern eine Auswahl zu treffen, Salzbrunn gut, und Reinerz
wegen der Nervenkomplikation noch besser. Aber es darf nur Hohen-Cremmen
sein. Denn, meine gnädigste Frau, was Ihrer Frau Tochter
Genesung bringen kann, ist nicht Luft allein; sie siecht hin,
weil sie nichts hat als Roswitha. Dienertreue ist schön,
aber Elternliebe ist besser. Verzeihen Sie einem alten Manne dies
Sicheinmischen in Dinge, die jenseits seines ärztlichen Berufes
liegen. Und doch auch wieder nicht, denn es ist schließlich
auch der Arzt, der hier spricht und seiner Pflicht nach, verzeihen
Sie dies Wort, Forderungen stellt ... Ich habe so viel vom Leben
gesehen ... aber nichts mehr in diesem Sinne. Mit der Bitte, mich
Ihrem Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, in vorzüglicher Ergebenheit
Doktor Rummschüttel.«
Frau von Briest hatte den Brief ihrem Manne vorgelesen; beide
saßen auf dem schattigen Steinfliesengange, den Gartensaal
im Rücken, das Rondell mit der Sonnenuhr vor sich.
Der um die Fenster sich rankende wilde Wein bewegte sich
leis in dem Luftzuge, der ging, und über dem Wasser standen
ein paar Libellen im hellen Sonnenschein.
»Ach, Luise, was soll ich sagen. Dass ich trommle, sagt
gerade genug. Du weißt seit Jahr und Tag, wie ich darüber
denke. Damals, als Innstettens Brief kam, ein Blitz aus heiterem
Himmel, damals war ich deiner Meinung. Aber das ist nun schon
wieder eine halbe Ewigkeit her; soll ich hier bis an mein Lebensende
den Großinquisitor spielen? Ich kann dir sagen, ich hab
es seit langem satt ...«
»Mache mir keine Vorwürfe, Briest; ich liebe sie so
wie du, vielleicht noch mehr, jeder hat seine Art. Aber man lebt
doch nicht bloß in der Welt, um schwach und zärtlich
zu sein und alles mit Nachsicht zu behandeln, was gegen Gesetz
und Gebot ist und was die Menschen verurteilen und, vorläufig
wenigstens, auch noch - mit Recht verurteilen.«
»Ich kann's aushalten. Der Raps steht gut, und im Herbst
kann ich einen Hasen hetzen. Und der Rotwein schmeckt mir noch.
Und wenn ich das Kind erst wieder im Hause habe, dann schmeckt
er mir noch besser ... Und nun will ich das Telegramm schicken.«
Effi war nun schon über ein halbes Jahr in Hohen-Cremmen;
sie bewohnte die beiden Zimmer im ersten Stock, die sie schon
früher, wenn sie zu Besuch da war, bewohnt hatte; das größere
war für sie persönlich hergerichtet, nebenan schlief
Roswitha. Was Rummschüttel von diesem Aufenthalt und all
dem andern Guten erwartet hatte, das hatte sich auch erfüllt,
soweit sich's erfüllen konnte. Das Hüsteln ließ
nach, der herbe Zug, der das so gütige Gesicht um ein gut
Teil seines Liebreizes gebracht hatte, schwand wieder hin, und
es kamen Tage, wo sie wieder lachen konnte. Von Kessin und allem,
was da zurücklag, wurde wenig gesprochen, mit alleiniger
Ausnahme von Frau von Padden und natürlich von Gieshübler,
für den der alte Briest eine lebhafte Vorliebe hatte. »Dieser
Alonzo, dieser Preziosa-Spanier, der einen Mirambo beherbergt und
eine Trippelli großzieht - ja, das muss ein Genie sein,
das lass ich mir nicht ausreden.« Und dann musste
sich Effi bequemen, ihm den ganzen Gieshübler mit dem Hut
in der Hand und seinen endlosen Artigkeitsverbeugungen vorzuspielen,
was sie, bei dem ihr eigenen Nachahmungstalent, sehr gut konnte,
trotzdem aber ungern tat, weil sie's allemal als ein Unrecht gegen
den guten und lieben Menschen empfand. - Von Innstetten und Annie
war nie die Rede, wiewohl feststand, dass Annie Erbtochter
sei und Hohen-Cremmen ihr zufallen würde.
»Solchen Winter haben wir lange nicht gehabt«, sagte
Briest. Und dann erhob sich Effi von ihrem Platz und streichelte
ihm das spärliche Haar aus der Stirn. Aber so schön
das alles war, auf Effis Gesundheit hin angesehen, war es doch
alles nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter und zehrte
still das Leben auf. Wenn Effi - die wieder wie damals an ihrem
Verlobungstage mit Innstetten ein blau und weiß gestreiftes
Kittelkleid mit einem losen Gürtel trug - rasch und elastisch
auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten Morgen zu bieten,
so sahen sich diese freudig verwundert an, freudig verwundert,
aber doch auch wehmütig, weil ihnen nicht entgehen konnte,
dass es nicht die helle Jugend, sondern eine Verklärtheit
war, was der schlanken Erscheinung und den leuchtenden Augen diesen
eigentümlichen Ausdruck gab. Alle, die schärfer zusahen,
sahen dies, nur Effi selbst sah es nicht und lebte ganz dem Glücksgefühle,
wieder an dieser für sie so freundlich friedreichen Stelle
zu sein, in Versöhnung mit denen, die sie immer geliebt hatte
und von denen sie immer geliebt worden war, auch in den Jahren
ihres Elends und ihrer Verbannung.
Sie beschäftigte sich mit allerlei Wirtschaftlichem und sorgte
für Ausschmückung und kleine Verbesserungen im Haushalt.
Ihr Sinn für das Schöne ließ sie darin immer das
Richtige treffen. Lesen aber und vor allem die Beschäftigung
mit den Künsten hatte sie ganz aufgegeben. »Ich habe
davon so viel gehabt, dass ich froh bin, die Hände in
den Schoß legen zu können.« Es erinnerte sie auch
wohl zu sehr an ihre traurigen Tage. Sie bildete stattdessen
die Kunst aus, still und entzückt auf die Natur zu blicken,
und wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die Sonnenstrahlen
auf dem Eis des kleinen Teiches blitzten oder die ersten Krokus
aus dem noch halb winterlichen Rondell aufblühten - das tat
ihr wohl, und auf all das konnte sie stundenlang blicken und dabei
vergessen, was ihr das Leben versagt oder richtiger wohl, um
was sie sich selbst gebracht hatte.
Dass im Schulhaus die Töchter ausgeflogen waren, schadete
nicht viel, es würde nicht mehr so recht gegangen sein; aber
zu Jahnke selbst - der nicht bloß ganz Schwedisch-Pommern,
sondern auch die Kessiner Gegend als skandinavisches Vorland ansah
und beständig darauf bezügliche Fragen stellte -, zu
diesem alten Freunde stand sie besser denn je. »Ja, Jahnke,
wir hatten ein Dampfschiff, und wie ich Ihnen, glaub ich, schon
einmal schrieb oder vielleicht auch schon mal erzählt habe,
beinahe wär ich wirklich rüber nach Wisby gekommen.
Denken Sie sich, beinahe nach Wisby. Es ist komisch, aber ich
kann eigentlich von vielem in meinem Leben sagen 'beinah'.«
»Ja, freilich schade. Aber auf Rügen bin ich wirklich
umhergefahren. Und das wäre so was für Sie gewesen,
Jahnke. Denken Sie sich, Arkona mit einem großen Wenden-Lagerplatz,
der noch sichtbar sein soll; denn ich bin nicht hingekommen; aber
nicht allzuweit davon ist der Herthasee mit weißen und gelben
Mummeln. Ich habe da viel an Ihre Hertha denken müssen ...«
Ja, Effi stand gut zu Jahnke. Aber trotz seiner intimen Stellung zu
Herthasee, Skandinavien und Wisby war er doch nur ein einfacher Mann,
und so konnte es nicht wohl ausbleiben,
dass der vereinsamten jungen Frau die Plaudereien mit Niemeyer
um vieles lieber waren. Im Herbst, so lange sich im Parke promenieren
ließ, hatte sie denn auch die Hülle und Fülle
davon; mit dem Eintreten des Winters aber kam eine mehrmonatige
Unterbrechung, weil sie das Predigerhaus selbst nicht gern betrat;
Frau Pastor Niemeyer war immer eine sehr unangenehme Frau gewesen
und schlug jetzt vollends hohe Töne an, trotzdem sie nach
Ansicht der Gemeinde selber nicht ganz einwandsfrei war.
»Das ist recht, Freund, das gefällt mir; mehr brauch
ich nicht zu wissen.« Und als sie das so sagte, waren sie
bis an die Schaukel gekommen. Sie sprang hinauf mit einer Behendigkeit
wie in ihren jüngsten Mädchentagen, und ehe sich noch
der Alte, der ihr zusah, von seinem halben Schreck erholen konnte,
huckte sie schon zwischen den zwei Stricken nieder und setzte
das Schaukelbrett durch ein geschicktes Auf- und Niederschnellen
ihres Körpers in Bewegung. Ein paar Sekunden noch, und sie
flog durch die Luft und, bloß mit einer Hand sich haltend,
riss sie mit der andern ein kleines Seidentuch von Brust
und Hals und schwenkte es wie in Glück und Übermut.
Dann ließ sie die Schaukel wieder langsam gehen und sprang
herab und nahm wieder Niemeyers Arm.
