Effi und die Geheimrätin Zwicker waren seit fast drei Wochen
in Ems und bewohnten daselbst das Erdgeschoß einer reizenden
kleinen Villa. In ihrem zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen
gemeinschaftlichen Salon mit Blick auf den Garten stand ein Polysanderflügel,
auf dem Effi dann und wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann
einen Walzer spielte; sie war ganz unmusikalisch und beschränkte
sich im wesentlichen darauf, für Niemann als Tannhäuser
zu schwärmen.
Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten
die Vögel, und aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein
'Lokal' befand, hörte man, trotz der frühen
Stunde, bereits das Zusammenschlagen der Billardbälle. Beide
Damen hatten ihr Frühstück nicht im Salon selbst, sondern
auf einem ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies bestreuten
Vorplatz eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem Garten
hinunter führten; die Marquise, ihnen zu Häupten, war
aufgezogen, um den Genuß der frischen Luft in nichts zu
beschränken, und sowohl Effi wie die Geheimrätin waren
ziemlich emsig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann wurden
ein paar Worte gewechselt.
Effi fühlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde,
wenig angenehm berührt und schien antworten zu wollen, aber
in eben diesem Augenblicke trat das aus der Umgegend von Bonn stammende
Hausmädchen, das sich von Jugend an daran gewöhnt hatte,
die mannigfachsten Erscheinungen des Lebens an Bonner Studenten
und Bonner Husaren zu messen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus,
um hier den Frühstückstisch abzuräumen. Sie hieß
Afra.
»Eine hübsche Person,« sagte die Zwicker. »Und
so quick und kasch, und ich möchte fast sagen von einer
natürlichen Anmut. Wissen Sie, liebe Baronin, daß mich
diese Afra ... übrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige
Afra gegeben haben, aber ich glaube nicht, daß unsere davon
abstammt...«
»Ja, Sie haben recht. Es ist eine Ähnlichkeit da. Nur
unser Berliner Hausmädchen ist doch erheblich hübscher
und namentlich ihr Haar viel schöner und voller. Ich habe
so schönes flachsenes Haar, wie unsere Johanna hat, überhaupt
noch nicht gesehen. Ein bißchen davon sieht man ja wohl,
aber solche Fülle ...«
Die Zwicker lächelte. »Das ist wirklich selten, daß
man eine junge Frau mit solcher Begeisterung von dem flachsenen
Haar ihres Hausmädchens sprechen hört. Und nun auch
noch von der Fülle! Wissen Sie, daß ich das rührend
finde? Denn eigentlich ist man doch bei der Wahl der Mädchen
in einer beständigen Verlegenheit. Hübsch sollen sie
sein, weil es jeden Besucher, wenigstens die Männer, stört,
eine lange Stakete mit griesem Teint und schwarzen Rändern
in der Thüröffnung erscheinen zu sehen, und ein wahres
Glück, daß die Korridore meistens so dunkel sind. Aber
nimmt man wieder zu viel Rücksicht auf solche Hausrepräsentation
und den sogenannten ersten Eindruck, und schenkt man wohl gar
noch einer solchen hübschen Person eine weiße Tändelschürze
nach der andern, so hat man eigentlich keine ruhige Stunde mehr
und fragt sich, wenn man nicht zu eitel ist und nicht zu viel
Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht Remedur geschaffen werden
müsse. Remedur war nämlich ein Lieblingswort von Zwicker,
womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle Geheimräte
haben solche Lieblingsworte.«
»Das ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den
Geheimräten sagen. Innstetten hat sich auch dergleichen angewöhnt,
lacht aber immer, wenn ich ihn darauf hin ansehe, und entschuldigt
sich hinterher wegen der Aktenausdrücke. Ihr Herr Gemahl
war freilich schon länger im Dienst und überhaupt wohl
älter ...«
»... Und ich kann mir namentlich nicht denken, daß es gerade
Ihnen, liebe Freundin, beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen
und Befürchtungen durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, daß
ich diesen Punkt hier so offen berühre, gerade das, was die
Männer einen 'Charme' nennen, Sie sind heiter, fesselnd,
anregend und, wenn es nicht indiskret ist, so möcht' ich, angesichts
dieser Ihrer Vorzüge, wohl fragen dürfen, stützt
sich das, was Sie da sagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie
persönlich erlebt haben?«
»Schmerzliches?« sagte die Zwicker. »Ach, meine
liebe, gnädigste Frau, Schmerzliches, das ist ein zu großes
Wort, auch dann noch, wenn man vielleicht wirklich manches erlebt
hat. Schmerzlich ist einfach zu viel, viel zu viel. Und dann hat
man doch schließlich auch seine Hülfsmittel und Gegenkräfte.
Sie dürfen dergleichen nicht zu tragisch nehmen.«
»Ich kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was
Sie anzudeuten belieben. Nicht, als ob ich nicht wüßte,
was Sünde sei, das weiß ich auch; aber es ist doch
ein Unterschied, ob man so hineingerät in allerlei schlechte
Gedanken oder ob einem derlei Dinge zur halben oder auch wohl
zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen Hause ...«
»Überlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker saß
immer in Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort
höre, giebt es mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt
diese Vergnügungsörter in der Umgegend unseres lieben, alten
Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem. Aber schon die bloßen
Namen der dabei in Frage kommenden Ortschaften umschließen
eine Welt von Angst und Sorge. Sie lächeln. Und doch, sagen
Sie selbst, liebe Freundin, was können Sie von einer großen
Stadt und ihren Sittlichkeitszuständen erwarten, wenn Sie
beinah' unmittelbar vor den Thoren derselben (denn zwischen Charlottenburg
und Berlin ist kein rechter Unterschied mehr), auf kaum tausend
Schritte zusammengedrängt, einem Pichelsberg, einem Pichelsdorf
und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist zu viel. Sie
können die ganze Welt absuchen, das finden Sie nicht wieder.«
»Und das alles,« fuhr die Zwicker fort, »geschieht
am grünen Holze der Havelseite. Das alles liegt nach Westen
zu, da haben Sie Kultur und höhere Gesittung. Aber nun gehen
Sie, meine Gnädigste, nach der andern Seite hin, die Spree
hinauf. Ich spreche nicht von Treptow und Stralau, das sind Bagatellen,
Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur Hand nehmen
wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen wie
Kiekebusch, wie Wuhlheide - Sie hätten hören sollen,
wie Zwicker das Wort aussprach - Namen von geradezu brutalem Charakter,
mit denen ich Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich
sind das gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich hasse
diese Landpartien, die sich das Volksgemüt als eine Kremserpartie
mit 'Ich bin ein Preuße' vorstellt, in Wahrheit aber schlummern
hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn ich sage soziale
Revolution, so meine ich natürlich moralische Revolution,
alles andere ist bereits wieder überholt, und schon Zwicker
sagte mir noch in seinen letzten Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn
frißt seine Kinder.' Und Zwicker, welche Mängel und
Gebrechen er haben mochte, das bin ich ihm schuldig, er war ein
philosophischer Kopf und hatte ein natürliches Gefühl
für historische Entwicklung ... Aber ich sehe, meine liebe
Frau von Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur noch
mit halbem Ohr zu; natürlich, der Postbote hat sich drüben
blicken lassen, und da fliegt denn das Herz hinüber und nimmt
die Liebesworte vorweg aus dem Brief heraus ... Nun, Böselager,
was bringen Sie?«
Effi hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen
Brief zwischen den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche
Scheu, ihn zu öffnen. Eingeschrieben und mit zwei großen
Siegeln und ein dickes Couvert. Was bedeutete das? Poststempel:
»Hohen-Cremmen«, und die Adresse von der Handschrift
der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine
Zeile.
Sie nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die
Längsseite des Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer
eine neue Überraschung. Der Briefbogen, ja, das waren eng
beschriebene Zeilen von der Mama, darin eingelegt aber waren Geldscheine
mit einem breiten Papierstreifen drum herum, auf dem mit Rotstift,
und zwar von des Vaters Hand, der Betrag der eingelegten Summe
verzeichnet war. Sie schob das Konvolut zurück und begann
zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl zurücklehnte.
Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus ihrem
Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm
den Brief wieder auf.
Und nun erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie
sichtlich froh war, einen Halt gewinnen und sich an dem Polysanderflügel
entlang fühlen zu können. So kam sie bis an ihr nach
rechts hin gelegenes Zimmer, und als sie hier, tappend und suchend,
die Thür geöffnet und das Bett an der Wand gegenüber
erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.
