Am andern Morgen nahmen beide gemeinschaftlich ihr etwas verspätetes
Frühstück. Innstetten hatte seine Mißstimmung
und Schlimmeres überwunden, und Effi lebte so ganz dem Gefühl
ihrer Befreiung, daß sie nicht bloß die Fähigkeit
einer gewissen erkünstelten Laune, sondern fast auch ihre
frühere Unbefangenheit wieder gewonnen hatte. Sie war noch
in Kessin, und doch war ihr schon zu Mute, als läge es weit
hinter ihr.
»Ich habe mir's überlegt, Effi,« sagte Innstetten,
»Du hast nicht so ganz unrecht mit allem, was Du gegen unser
Haus hier gesagt hast. Für Kapitän Thomsen war es gerade
gut genug, aber nicht für eine junge verwöhnte Frau;
alles altmodisch, kein Platz. Da sollst Du's in Berlin besser
haben, auch einen Saal, aber einen andern als hier, und auf Flur
und Treppe hohe bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Scepter und
Krone oder auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau
Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig.«
»Nein,« sagte sie, während sie das Kaffeegeschirr,
um eine aufsteigende Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geräuschvoll
zusammenrückte, »nein, so soll's auch nicht sein, nicht
heut und nicht morgen, aber doch in den nächsten Tagen. Und
wenn ich etwas finde, so bin ich rasch wieder zurück. Aber
noch eins, Roswitha und Annie müssen mit. Am schönsten
wär' es, Du auch. Aber ich sehe ein, das geht nicht. Und ich
denke, die Trennung soll nicht lange dauern. Ich weiß auch
schon, wo ich miete ...«
Effi schnitt das Kouvert auf und las: Meine liebe Effi. Seit
24 Stunden bin ich hier in Berlin; Konsultationen bei Schweigger.
Als er mich sieht, beglückwünscht er mich, und als ich
erstaunt ihn frage, wozu, erfahr' ich, daß Ministerialdirektor
Wüllersdorf eben bei ihm gewesen und ihm erzählt habe: Innstetten
sei ins Ministerium berufen. Ich bin ein wenig ärgerlich,
daß man dergleichen von einem Dritten erfahren muß.
Aber in meinem Stolz und meiner Freude sei Euch verziehen. Ich
habe es übrigens immer gewußt (schon als I. noch bei
den Rathenowern war), daß etwas aus ihm werden würde.
Nun kommt es Dir zu gute. Natürlich müßt
Ihr eine Wohnung haben und eine andere Einrichtung. Wenn Du, meine
liebe Effi, glaubst, meines Rates dabei bedürfen zu können,
so komme, so rasch es Dir Deine Zeit erlaubt. Ich bleibe acht
Tage hier in Kur, und wenn es nicht anschlägt, vielleicht
noch etwas länger; Schweigger drückt sich unbestimmt
darüber aus. Ich habe eine Privatwohnung in der Schadowstraße
genommen; neben dem meinigen sind noch Zimmer frei. Was es mit
meinem Auge ist, darüber mündlich; vorläufig beschäftigt
mich nur Eure Zukunft. Briest wird unendlich glücklich sein,
er thut immer so gleichgültig gegen dergleichen, eigentlich
hängt er aber mehr daran als ich. Grüße Innstetten,
küsse Annie, die Du vielleicht mitbringst. Wie immer Deine
Dich zärtlich liebende Mutter Luise von B.
Die Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Roswitha war
sehr glücklich. »Ach, gnädigste Frau, Kessin, nun
ja ..., aber Berlin ist es nicht. Und die Pferdebahn. Und wenn
es dann so klingelt und man nicht weiß, ob man links oder
rechts soll, und mitunter ist mir schon gewesen, als ginge alles
grad über mich weg. Nein, so was ist hier nicht. Ich glaube,
manchen Tag sehen wir keine sechs Menschen. Und immer bloß
die Dünen und draußen die See. Und das rauscht und
rauscht, aber weiter ist es auch nichts.«
Das war am Donnerstag, am Tag vor der Abreise. Innstetten war
über Land gefahren und wurde erst gegen Abend zurückerwartet.
Am Nachmittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Marktplatz,
und trat hier in die Apotheke und bat um eine Flasche Sal volatile.
»Man weiß nie, mit wem man reist,« sagte sie zu
dem alten Gehülfen, mit dem sie auf dem Plauderfuße stand
und der sie anschwärmte wie Gieshübler selbst.
»Ja, lieber Freund, ich soll wiederkommen, und es ist sogar
verabredet, daß ich spätestens in einer Woche wieder
in Kessin bin. Aber ich könnte doch auch nicht wiederkommen.
Muß ich Ihnen sagen, welche tausend Möglichkeiten es
giebt ... Ich sehe, Sie wollen mir sagen, daß ich noch zu
jung sei ..., auch Junge können sterben. Und dann so vieles
andere noch. Und da will ich doch lieber Abschied nehmen von Ihnen,
als wär' es für immer.«
»Als wär' es für immer. Und ich will Ihnen danken,
lieber Gieshübler. Denn Sie waren das beste hier; natürlich,
weil Sie der Beste waren. Und wenn ich hundert Jahre alt würde,
so werde ich Sie nicht vergessen. Ich habe mich hier mitunter
einsam gefühlt, und mitunter war mir so schwer ums Herz,
schwerer als Sie wissen können; ich habe es nicht immer
richtig eingerichtet; aber wenn ich Sie gesehen habe, vom ersten
Tage an, dann habe ich mich immer wohler gefühlt und auch
besser.«
»Und dafür wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben
ein Fläschchen mit Sal volatile gekauft; im Coupé
sind mitunter so merkwürdige Menschen und wollen einem nicht
'mal erlauben, daß man ein Fenster aufmacht; und wenn mir
dann vielleicht - denn es steigt einem ja ordentlich zu Kopf,
ich meine das Salz - die Augen übergehen, dann will ich an
Sie denken. Adieu, lieber Freund, und grüßen Sie Ihre
Freundin, die Trippelli. Ich habe in den letzten Wochen öfter
an sie gedacht und an Fürst Kotschukoff. Ein eigentümliches
Verhältnis bleibt es doch. Aber ich kann mich hineinfinden
... Und lassen Sie einmal von sich hören. Oder ich werde
schreiben.«
Damit ging Effi. Gieshübler begleitete sie bis auf den Platz hinaus. Er
war wie benommen, so sehr, daß er über manches Rätselhafte,
was sie gesprochen, ganz hinwegsah.
Als Johanna das Zimmer wieder verlassen hatte, schloß Effi
sich ein, sah einen Augenblick in den Spiegel und setzte sich
dann wieder. Und nun schrieb sie: »Ich reise morgen mit
dem Schiff, und dies sind Abschiedszeilen. Innstetten erwartet mich
in wenig Tagen zurück, aber ich komme nicht wieder ... Warum
ich nicht wiederkomme, Sie wissen es ... Es wäre das beste
gewesen, ich hätte dies Stück Erde nie gesehen. Ich
beschwöre Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu fassen; alle
Schuld ist bei mir. Blick' ich auf Ihr Haus ..., Ihr Thun
mag entschuldbar sein, nicht das meine. Meine Schuld ist sehr
schwer. Aber vielleicht kann ich noch heraus. Daß wir hier
abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, daß ich noch
zu Gnaden angenommen werden kann. Vergessen Sie das Geschehene,
vergessen Sie mich. Ihre Effi.«
Sie überflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war ihr
das »Sie«; aber auch das mußte sein; es sollte
ausdrücken, daß keine Brücke mehr da sei. Und
nun schob sie die Zeilen in ein Kouvert und ging auf ein Haus zu,
zwischen dem Kirchhof und der Waldecke. Ein dünner Rauch
stieg aus dem halb eingefallenen Schornstein. Da gab sie die Zeilen
ab.
Das Gepäck war größer, als es für einen, auf
so wenig Tage geplanten Ausflug geboten erschien. Innstetten sprach
mit dem Kapitän; Effi, in einem Regenmantel und hellgrauem
Reisehut, stand auf dem Hinterdeck, nahe am Steuer, und musterte
von hier aus das Bollwerk und die hübsche Häuserreihe,
die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der Landungsbrücke
gegenüber lag Hoppensack's Hotel, ein drei Stock hohes Gebäude,
von dessen Giebeldach eine gelbe Flagge, mit Kreuz und Krone darin,
schlaff in der stillen, etwas nebeligen Luft hernieder hing. Effi
sah eine Weile nach der Flagge hinauf, ließ dann aber ihr
Auge wieder abwärts gleiten und verweilte zuletzt auf einer
Anzahl von Personen, die neugierig am Bollwerk umher standen. In
diesem Augenblicke wurde geläutet. Effi war ganz eigen zu Mut;
das Schiff setzte sich langsam in Bewegung, und als sie die Landungsbrücke
noch einmal musterte, sah sie, daß Crampas in vorderster
Reihe stand. Sie erschrak bei seinem Anblick und freute sich doch
auch. Er seinerseits, in seiner ganzen Haltung verändert,
war sichtlich bewegt und grüßte ernst zu ihr hinüber,
ein Gruß, den sie ebenso, aber doch zugleich in großer
Freundlichkeit, erwiderte; dabei lag etwas Bittendes in ihrem Auge.
Dann ging sie rasch auf die Kajüte zu, wo sich Roswitha mit
Annie schon eingerichtet hatte. Hier, in dem etwas stickigen Raume
blieb sie, bis man aus dem Fluß in die weite Bucht des Breitling
eingefahren war; da kam Innstetten und rief sie nach oben, daß
sie sich an dem herrlichen Anblick erfreue, den die Landschaft
gerade an dieser Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf. Über
dem Wasserspiegel hingen graue Wolken, und nur dann und wann schoß
ein halb umschleierter Sonnenblick aus dem Gewölk hervor.
Effi gedachte des Tages, wo sie, vor jetzt gerade Fünfvierteljahren,
im offenen Wagen am Ufer eben dieses Breitlings hin entlang gefahren
war. Eine kurze Spanne Zeit, und das Leben oft so still und einsam.
Und doch, was war alles seitdem geschehen!
So fuhr man die Wasserstraße hinauf und war um zwei an der
Station oder doch ganz in Nähe derselben. Als man gleich
danach das Gasthaus des 'Fürsten Bismarck' passierte,
stand auch Golchowski wieder in der Thür und versäumte
nicht, den Herrn Landrat und die gnädige Frau bis an die
Stufen der Böschung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht
angemeldet, und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig
auf und ab. Ihr Gespräch drehte sich um die Wohnungsfrage;
man war einig über den Stadtteil, und daß es zwischen
dem Tiergarten und dem Zoologischen Garten sein müsse. »Ich
will den Finkenschlag hören und die Papageien auch,«
sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu.
