Die Tage waren schön und blieben es bis in den Oktober hinein.
Eine Folge davon war, daß die halb zeltartige Veranda draußen
zu ihrem Rechte kam, so sehr, daß sich wenigstens die Vormittagsstunden
regelmäßig darin abspielten. Gegen elf kam dann wohl
der Major, um sich zunächst nach dem Befinden der gnädigen
Frau zu erkundigen und mit ihr ein wenig zu medisieren, was er
wundervoll verstand, danach aber mit Innstetten einen Ausritt
zu verabreden, oft landeinwärts, die Kessine hinauf bis an
den Breitling, noch häufiger auf die Molen zu. Effi, wenn
die Herren fort waren, spielte mit dem Kind oder durchblätterte
die von Gieshübler nach wie vor ihr zugeschickten Zeitungen
und Journale, schrieb auch wohl einen Brief an die Mama oder sagte:
»Roswitha, wir wollen mit Annie spazieren fahren,« und
dann spannte sich Roswitha vor den Korbwagen und fuhr, während
Effi hinterherging, ein paar hundert Schritt in das Wäldchen
hinein, auf eine Stelle zu, wo Kastanien ausgestreut lagen, die
man nun auflas, um sie dem Kinde als Spielzeug zu geben. In die
Stadt kam Effi wenig; es war niemand recht da, mit dem sie hätte
plaudern können, nachdem ein Versuch, mit der Frau von Crampas
auf einen Umgangsfuß zu kommen, aufs neue gescheitert war.
Die Majorin war und blieb menschenscheu.
Das ging so wochenlang, bis Effi plötzlich den Wunsch äußerte,
mit ausreiten zu dürfen; sie habe nun 'mal die Passion und
es sei doch zu viel verlangt, bloß um des Geredes der Kessiner
willen, auf etwas zu verzichten, das einem so viel wert sei. Der
Major fand die Sache kapital und Innstetten, dem es augenscheinlich
weniger paßte - so wenig, daß er immer wieder hervorhob,
es werde sich kein Damenpferd finden lassen - Innstetten mußte
nachgeben, als Crampas versicherte, »das solle seine Sorge sein«.
Und richtig, was man wünschte, fand sich auch, und Effi war
selig, am Strande hinjagen zu können, jetzt wo »Damenbad«
und »Herrenbad« keine scheidenden Schreckensworte mehr
waren. Meist war auch Rollo mit von der Partie, und weil es sich
ein paarmal ereignet hatte, daß man am Strande zu rasten
oder auch eine Strecke Wegs zu Fuß zu machen wünschte,
so kam man überein, sich von entsprechender Dienerschaft
begleiten zu lassen, zu welchem Behufe des Majors Bursche, ein
alter Treptower Ulan, der Knut hieß, und Innstetten's Kutscher
Kruse zu Reitknechten umgewandelt wurden, allerdings ziemlich
unvollkommen, indem sie, zu Effi's Leidwesen, in eine Phantasie-Livree
gesteckt wurden, darin der eigentliche Beruf beider noch nachspukte.
Mitte Oktober war schon heran, als man, so herausstaffiert, zum
erstenmal in voller Kavalkade aufbrach, in Front Innstetten und
Crampas, Effi zwischen ihnen, dann Kruse und Knut und zuletzt
Rollo, der aber bald, weil ihm das Nachtrotten mißfiel,
allen vorauf war. Als man das jetzt öde Strandhotel passiert
und bald danach, sich rechts haltend, auf dem von einer mäßigen
Brandung überschäumten Strandwege den diesseitigen Molendamm
erreicht hatte, verspürte man Lust, abzusteigen und einen
Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu machen. Effi war die erste
aus dem Sattel. Zwischen den beiden Steindämmen floß
die Kessine breit und ruhig dem Meere zu, das wie eine sonnenbeschienene
Fläche, darauf nur hier und da eine leichte Welle kräuselte,
vor ihnen lag.
Effi war noch nie hier draußen gewesen, denn als sie vorigen
November in Kessin eintraf, war schon Sturmzeit, und als der Sommer
kam, war sie nicht mehr im stande, weite Gänge zu machen.
Sie war jetzt entzückt, fand alles groß und herrlich,
erging sich in kränkenden Vergleichen zwischen dem Luch und
dem Meer und ergriff, sooft die Gelegenheit dazu sich bot, ein
Stück angeschwemmtes Holz, um es nach links hin in die See
oder nach rechts hin in die Kessine zu werfen. Rollo war immer
glücklich, im Dienste seiner Herrin sich nachstürzen
zu können; mit einemmal aber wurde seine Aufmerksamkeit nach
einer ganz anderen Seite hin abgezogen, und sich vorsichtig, ja
beinahe ängstlich vorwärts schleichend, sprang er plötzlich
auf einen in Front sichtbar werdenden Gegenstand zu, freilich
vergeblich, denn im selben Augenblicke glitt von einem sonnenbeschienenen
und mit grünem Tang überwachsenen Stein eine Robbe glatt
und geräuschlos in das nur etwa fünf Schritt entfernte
Meer hinunter. Eine kurze Weile noch sah man den Kopf, dann tauchte
auch dieser unter.
»Nein,« lachte dieser, »und ich will es auch nicht.
Auf Mohrenwäsche lasse ich mich nicht ein. Aber einer wie
Sie, Crampas, der unter der Fahne der Disziplin groß geworden
ist und recht gut weiß, daß es ohne Zucht und Ordnung
nicht geht, ein Mann wie Sie, der sollte doch eigentlich so 'was
nicht reden, auch nicht einmal im Spaß. Indessen, ich weiß
schon, Sie haben einen himmlischen Kehrmichnichtdran und denken,
der Himmel wird nicht gleich einstürzen. Nein, gleich nicht.
Aber 'mal kommt es.«
Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das
alles sei mit einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht
der Fall war. Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen
Vorträge, zu denen er überhaupt hinneigte. »Da
lob' ich mir Gieshübler,« sagte er einlenkend, »immer
Kavalier und dabei doch Grundsätze.«
Der Major hatte sich mittlerweile wieder zurechtgefunden und sagte
in seinem alten Ton: »Ja, Gieshübler; der beste Kerl
von der Welt und, wenn möglich, noch bessere Grundsätze.
Aber am Ende woher? warum? Weil er einen 'Verdruß' hat.
Wer gerade gewachsen ist, ist für Leichtsinn. Überhaupt
ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuß Pulver
wert.«
Effi hatte von diesem Gespräch wenig gehört. Sie war dicht
an die Stelle getreten, wo die Robbe gelegen, und Rollo stand neben ihr.
Dann sahen beide, von dem Stein weg, auf das Meer und warteten, ob die 'Seejungfrau'
noch einmal sichtbar werden würde.
Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was Innstetten hinderte,
sich ferner an den Ausflügen zu beteiligen, und auch Crampas
und Effi hätten jetzt um der lieben Kessiner willen wohl
verzichten müssen, wenn nicht Knut und Kruse als eine Art
Ehrengarde gewesen wären. So kam es, daß sich die Spazierritte
bis in den November hinein fortsetzten.
Ein Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauernder
Nordwest trieb Wolkenmassen heran, und das Meer schäumte
mächtig, aber Regen und Kälte fehlten noch und so waren
diese Ausflüge bei grauem Himmel und lärmender Brandung
fast noch schöner, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller
See gewesen waren. Rollo jagte vorauf, dann und wann von der Gischt
überspritzt, und der Schleier von Effi's Reithut flatterte
im Winde. Dabei zu sprechen, war fast unmöglich; wenn man dann
aber, vom Meer fort, in die schutzgebenden Dünen oder noch
besser in den weiter zurückgelegenen Kiefernwald einlenkte,
so wurd' es still, Effi's Schleier flatterte nicht mehr, und die
Enge des Wegs zwang die beiden Reiter dicht nebeneinander. Das
war dann die Zeit, wo man - schon um der Knorren und Wurzeln willen
im Schritt reitend - die Gespräche, die der Brandungslärm
unterbrochen hatte, wieder aufnehmen konnte. Crampas, ein guter
Causeur, erzählte dann Kriegs- und Regimentsgeschichten,
auch Anekdoten und kleine Charakterzüge von Innstetten, »der
mit seinem Ernst und seiner Zugeknöpftheit in den übermütigen
Kreis der Kameraden nie recht hineingepaßt habe, so daß
er eigentlich immer mehr respektiert als geliebt worden sei.«
»Ja, zu seiner Zeit. Aber er paßt doch nicht immer.
Und zu dem allen kam noch seine mystische Richtung, die mitunter
Anstoß gab, einmal weil Soldaten überhaupt nicht sehr
für derlei Dinge sind, und dann weil wir die Vorstellung
unterhielten, vielleicht mit Unrecht, daß er doch nicht ganz
so dazu stände, wie er's uns einreden wollte.«
»Nein, so weit ging er nicht. Aber es ist vielleicht besser,
davon abzubrechen. Ich möchte nicht hinter seinem Rücken
etwas sagen, was falsch ausgelegt werden könnte. Zudem sind
es Dinge, die sich sehr gut auch in seiner Gegenwart verhandeln
lassen. Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht, zu 'was Sonderbarem
aufgebauscht werden, wenn er nicht dabei ist und nicht jeden Augenblick
eingreifen und uns widerlegen oder meinetwegen auch auslachen
kann.«
»Ein Geisterseher! Das will ich nicht gerade sagen. Aber
er hatte eine Vorliebe, uns Spukgeschichten zu erzählen.
Und wenn er uns dann in große Aufregung versetzt und manchen
auch wohl geängstigt hatte, dann war es mit einemmale wieder,
als habe er sich über alle die Leichtgläubigen bloß
moquieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, daß ich
ihm auf den Kopf zusagte: 'Ach was, Innstetten, das ist ja alles
bloß Komödie. Mich täuschen Sie nicht. Sie treiben
Ihr Spiel mit uns. Eigentlich glauben Sie's grad so wenig wie wir,
aber Sie wollen sich interessant machen und haben eine Vorstellung
davon, daß Ungewöhnlichkeiten nach oben hin besser
empfehlen. In höheren Karrieren will man keine Alltagsmenschen.
Und da Sie so 'was vorhaben, so haben Sie sich 'was Apartes ausgesucht
und sind bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.'«
»Darf ich fragen warum? Hab' ich Anstoß gegeben? Oder
finden Sie's unritterlich, einen abwesenden Freund, ich muß
das trotz aller Verwahrungen einräumen, ein klein wenig zu
hecheln? Aber da thun Sie mir trotz alledem Unrecht. Das alles
soll ganz ungeniert seine Fortsetzung vor seinen Ohren haben,
und ich will ihm dabei jedes Wort wiederholen, was ich jetzt eben
gesagt habe.«
»Also ganz der Alte,« lachte Crampas. »So war er
damals auch schon, als wir in Liancourt und dann später in
Beauvais mit ihm in Quartier lagen. Er wohnte da in einem alten
bischöflichen Palast - beiläufig, was Sie vielleicht
interessieren wird, war es ein Bischof von Beauvais, glücklicherweise
'Cochon' mit Namen, der die Jungfrau von Orleans zum Feuertod
verurteilte - und da verging denn kein Tag, das heißt keine
Nacht, wo Innstetten nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich
immer nur so halb. Es konnte auch nichts sein. Und nach diesem
Prinzip arbeitet er noch, wie ich sehe.«
»Ja, wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei,
daß ein Mann, wie Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag
Ministerial-Direktor oder dergleichen werden kann (denn glauben
Sie mir, er ist hoch hinaus), daß ein Mann wie Baron Innstetten
nicht in einem gewöhnlichen Hause wohnen kann, nicht in einer
solchen Kate, wie die landrätliche Wohnung, ich bitte um
Vergebung, gnädigste Frau, doch eigentlich ist. Da hilft
er denn nach. Ein Spukhaus ist nie 'was Gewöhnliches ... Das
ist das Eine.«
»Gut denn. Also Innstetten, meine gnädigste Frau, hat
außer seinem brennenden Verlangen, es koste was es wolle,
ja, wenn es sein muß unter Heranziehung eines Spuks, seine
Karriere zu machen, noch eine zweite Passion: Er operiert nämlich
immer erzieherisch, ist der geborene Pädagog, und hätte,
links Basedow und rechts Pestalozzi (aber doch kirchlicher als
beide), eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau hingepaßt.«
