Der Historiker Werner
Abelshauser über ökonomische Lehren der Vergangenheit und
ihre unverändert aktuellen Botschaften für die
Herausforderungen der Globalisierung. von Werner Abelshauser, in: Capital. Das Wirtschaftsmagazin 23/2005, S. 22-26.
Erst
im siebten Jahr der Weltwirtschaftskrise fasste John Maynard Keynes
(1883-1946) den Mut, die Klassiker der Wirtschaftstheorie
herauszufordern und seine Revolution auszurufen. Nur in Krisenzeiten,
so meinte der Autor der General Theory, seien die
Menschen bereit, grundlegend neue Therapien auszuprobieren. Erst dann
würden sie sich ein wenig aus dem Griff der klassischen Vordenker
lösen, der ansonsten kaum Raum für neues ökonomisches
Denken lässt. Keynes beklagt: Selbst Praktiker, die sich
ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, sind
gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen
Ökonomen.
Inzwischen gehört die
Keynesianische Revolution längst selbst zu den Ansichten toter
Ökonomen, die in ruhigen Zeiten die Welt beherrschen. Doch nichts
spricht dagegen, dass Keynes mit seiner Diagnose auch heute noch recht
haben könnte. Da die gegenwärtige Lage nicht einmal entfernt
an eine Weltwirtschaftskrise erinnert, steht den Menschen nicht der
Sinn nach radikal neuen Ansätzen. Es lohnt sich also, die Arsenale
des klassischen Wirtschaftsdenkens zu mustern, um sich gegen aktuelle
Herausforderungen zu wappnen oder sie wenigstens besser zu verstehen
zumal eine neue Revolution in der ökonomischen Forschung
nicht auszumachen ist.
Beispiele für den starken
Einfluss von Wirtschaftstheorien gibt es viele positive wie
negative. Das Blockdenken während des Kalten Krieges erinnert in
der Tat an einen postmortalen Vernichtungskrieg zweier Feldherren, die
ihre Heere ins Treffen führten. Die Lehren von Adam Smith
(1723-1790) und Karl Marx (1818-1883), jeweils bis zur Unkenntlichkeit
verstümmelt und ideologisch missbraucht, begründeten den
Zusammenprall zweier monolithischer Wirtschaftssysteme. Beide haben
sich seit dem Ende des Kalten Krieges fast spurlos verflüchtigt
das eine verschwand zu Gunsten unterschiedlicher
Wirtschaftskulturen, das andere schlichtweg als Folge der Niederlage.
Doch was auf den ersten Blick wie eine schwere Schlappe für den
deutschen Kapitalismusexperten Marx aussieht, könnte sich bei
näherem Hinsehen als ein Befreiungsschlag gegen die Marxisten
erweisen. Mit dem Ende seiner Moskauer Gefangenschaft wird der
Klassiker Marx in der Wirtschaftstheorie wieder denkbar. An
Ansatzpunkten dafür fehlt es bei ihm nicht.
Wo gibt es heute eine bessere
Analyse der Globalisierung als das Kommunistische Manifest
obwohl das Phänomen, das Karl Marx und Friedrich Engels
(1820-1895) dort beschreiben, 1848 noch nicht einmal in Umrissen
sichtbar war? Die Autoren prophezeiten, die fortwährende
Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung
aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und
Bewegung, die dafür sorgen, daß alle
festen eingerosteten Verhältnisse aufgelöst werden.
Denn: Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz
jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel: Überall
muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall
Verbindungen herstellen. Wer dieses Glanzstück deutscher
Prosa heute liest, muß kein Marxist sein, um sich respektvoll vor
der prognostischen Kraft theoretischen Denkens zu verneigen.
Weit stärker noch liefern
indes die Ideen der liberalen Klassiker ein Grundgerüst für
die Analyse aktueller Wirtschaftsprobleme von Adam Smith bis
Friedrich August von Hayek (1899-1992). So gibt es bis heute keine
bessere Antwort auf die Frage, warum sich Außenhandel
wirtschaftlich bezahlt macht, als das Gesetz der komparativen
Kosten, das David Ricardo (1772-1823) schon 1817 entwickelt hat.
Zwar geht die Analyse des britischen Börsenmillionärs nicht
über den Vergleich der materiellen Kosten hinaus. Ihre elementare
Aussagekraft schmälert dies aber keineswegs. Wer immer die Gesetze der
Weltwirtschaft verstehen will, wird nicht umhin kommen, von Ricardo
auszugehen auch wenn die ökonomische Theorie der
Globalisierung unter der Ägide der Neuen Wirtschaft
heute vor allem immaterielle und institutionelle Produktionsfaktoren
ins Kalkül ziehen muss. Je offensichtlicher und stärker
dies der Fall ist, desto spannender wird der Ausgang des
intellektuellen Duells, das Friedrich List (1789-1846) seit Anfang des
19. Jahrhunderts mit der liberalen Schule austrägt.
Für List, einen der ganz
wenigen deutschen Wirtschaftstheoretiker von Format, war die Kraft,
Reichtum zu schaffen, unendlich wichtiger als der Reichtum selbst. Er
setzte der Werttheorie der liberalen Klassiker seine
Theorie der produktiven Kräfte entgegen und erhebt
darin den auch heute noch aktuellen Vorwurf: Wer Schweine
erzieht, ist nach der Werttheorie ein produktives, wer Menschen
erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft. Die Frage,
ob die kurzfristige Anhäufung von Kapital oder die langfristige
Akkumulation menschlichen Vermögens (Humankapital) wichtiger
für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ist, steht noch
immer im Zentrum eines wirtschaftlichen Kulturkampfes. Dieser Kampf
strebt gegenwärtig sogar weltweit einem neuen Höhepunkt
entgegen.
Deutschland ist einer der
wichtigsten Schauplätze dieser Auseinandersetzung um die
Spielregeln der Weltwirtschaft und auch hier führen
verblichene Ökonomen ihr strenges Regiment. Im Kern geht es dabei
um die Frage, wie die Wirtschaft organisiert sein soll, um auf
den globalen Märkten erfolgreich zu bestehen. Etwa im
Finanzierungssystem, in der Führung der Unternehmen, in den
Arbeitsbeziehungen, in der Interessenpolitik, im Binnenverhältnis
der Branchen und im Ausbildungswesen, um nur die wichtigsten Bereiche
zu nennen.
Beherrscht wird dieser
organisatorische Rahmen von Institutionen, die als weithin akzeptierte
Denk- und Handlungsweisen zu Spielregeln geronnen sind. Folgende
Institutionen galten einmal als die Kardinaltugenden deutscher
Unternehmer: Autonomiebewußtsein, Selbstverwaltung,
Kooperationsbereitschaft und Soziabilität, also die Fähigkeit
zur spontanen vertrauensvollen Zusammenarbeit, um sich im Wettbewerb
auf internationalen Märkten komparative Vorteile zu sichern. Heute
sieht sich der Standort Deutschland nicht zuletzt wegen dieser
Eigenschaften wachsender Kritik ausgesetzt und muß sich eine
peinliche Überprüfung seiner Zukunftsfähigkeit gefallen
lassen. Tatsächlich unterscheidet sich die deutsche
Marktwirtschaft wesentlich vom Standardkapitalismus amerikanischer
Prägung, der seit zehn Jahren weltweit die Pace macht.
Die Divergenz ist
grundsätzlicher Art. In der deutschen Marktwirtschaft gibt weder
das Individuum noch der Staat den Ton an. Die Ökonomie ist
vielmehr in die dichte, historisch gewachsene Landschaft von
Institutionen und Organisationen gebettet, deren Akteure in der
Zivilgesellschaft (den Hegelschen Korporationen) zwischen den beiden
Polen Individuum und Staat zu Hause sind. Der englische Begriff der
business coordinated market economy, der genau diese
deutsche und kontinentaleuropäische korporative Marktwirtschaft
umschreibt, verkürzt zwar ein wenig die Realität, meint aber
dasselbe.
In Deutschland verbindet sich
mit diesem autonomen, selbstverwalteten Status der Wirtschaft
traditionell ein hoher ethischer Anspruch an unternehmerisches Handeln.
Gustav von Schmoller (1838-1917), der führende
Wirtschaftswissenschaftler des Kaiserreiches, sah gerade darin die
sittliche Bedeutung korporativer Marktwirtschaft, dass
sie nicht durch Börse und Spekulation zustandekomme,
sondern durch Einsicht in die Notwendigkeit und den Sieg
gemeinsamer Interessen über Eigennutz und kurzfristigen Egoismus.
Generationen deutscher Unternehmer, von Alfred Krupp bis Berthold
Beitz, von den Rathenaus bis Alfred Herrhausen, von Hanns Martin
Schleyer bis Reinhard Mohn, haben dies ebenso gesehen.
Die meisten ihrer
angesächsischen Kollegen sind ganz anderer Ansicht. Vor dem
Hintergrund ihrer historischer Erfahrungen misstrauen sie der
Kraft unternehmerischer Verantwortungsethik. Adam Smith setzte lieber
auf die unsichtbare Hand des Marktes er war überzeugt,
dass Kaufleute selten auch nur zu Lustbarkeiten und Zerstreuungen
zusammenkämen, ohne dass ihre Unterhaltung mit einer
Verschwörung gegen das Publikum ende.
Smith Epigonen halten
es heute sogar wieder mehr mit der zynischen Paradoxie der
Mandevilleschen Bienenfabel. Bernard de Mandeville (1670-1733) zufolge
verwandeln sich selbst unmoralische Motive der Akteure nach dem Motto
private vices, public benefits über den
Marktmechanismus in öffentliche Vorteile. In Deutschland konnten
sich solche Ideen bisher nicht durchsetzen aus ethischen, aber
noch viel mehr aus praktischen Gründen. Die deutschen Tugenden
erweisen sich auf wichtigen Märkten den angelsächsischen weit
überlegen.
Im Ergebnis
unterscheiden sich die beiden klassischen Lehrmeinungen nicht allzuweit
voneinander. Es liegt auch unter den Bedingungen der korporativen
Marktwirtschaft im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse, dem
Unternehmer zu erlauben, seine eigenen Ziele im Rahmen der bestehenden
Wirtschaftsordnung zu verfolgen und dabei der Logik
einzelwirtschaftlicher Zusammenhänge Rechnung zu tragen. Darin
sind sich alle wirtschaftswissenschaftlichen Denkschulen einig
gleichgültig, ob sie sich auf Smith oder List, auf Hayek oder
Keynes berufen. Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) hat mit Recht darauf
hingewiesen, dass es aus ethischer wie aus praktischer
Perspektive allein darauf ankomme, die Besorgung des
besonderen Interesses als eines Gemeinsamen zu verstehen. Auch
in der Wolle gefärbte Liberale mögen ihm da im Prinzip nicht
widersprechen. Umstritten ist freilich, wer das gemeinsame Interesse
besorgen soll, die unsichtbare Hand des Marktes oder die ordnende Hand
der Institutionen selbst, die den Handlungsrahmen der Unternehmer
absteckt.
Beide klassischen Denkschulen
wollen und können nicht auf die Dynamik verzichten, die Handelnde
im Wirtschaftsprozess auslösen, indem sie ihren eigenen Vorteil
verfolgen. Die Frage ist nur, ob es dem eigenen Nutzen mittel- und
langfristig nicht dienlicher ist, wenn sich Akteure selbst gewisse
Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit auferlegen. Sei es, um
Marktbeziehungen zu stabilisieren oder um in den Genuss niedrigerer
Transaktionskosten zu kommen. Welche Strategie mehr Erfolg verspricht,
richtet sich im wesentlichen nach der Produktionsweise, die zur
Verfügung steht, und nach den Märkten, die man damit
erreichen kann. In Deutschland leben zwei Drittel der Wirtschaft von
der Kunst der nachindustriellen Maßschneiderei, mit der sie die
meisten lukrativen Märkte für diversifierte
Qualitätsprodukte beherrschen. Hier liegt seit langem die
Grundlage unseres Reichtums. Damit das auch so bleibt, empfiehlt es
sich, Lists Theorie der produktiven Kräfte der
Smithschen Werttheorie vorzuziehen.
Ob wir es wollen oder nicht:
Die Klassiker fordern von uns ihren Tribut, solange alte Probleme im
neuen Gewand zyklisch immer wiederkehren. Es hat etwas beruhigendes,
dass wir das Rad nicht immer wieder neu erfinden müssen.
Revolutionen sind auch in den Wirtschaftswissenschaften nicht unbedingt
wünschenswert, haben sie doch in der Realität meist wenig
erfreuliche Ursachen wie ja schon Keynes richtig feststellte.