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Kurzes Intermezzo
Die westdeutsche Wirtschaft stand am 8. Mai besser da, als viele glauben.
Die Vorstellung, es habe am 8. Mai 1945 eine ‚Stunde Null’ gegeben, trifft für die (west-)deutsche Industrie am allerwenigsten zu. Weder hatte ihre Kapazität unter Kriegsverlusten entscheidend gelitten, noch bahnte sich ein Wechsel in den Führungspositionen an, noch veränderte sich ihre Unternehmenskultur.
von Werner Abelshauser, in: Financial Times Deutschland, 6./7./8. Mai 2005, S. 2.
Schon im Oktober 1945 legte die US-Luftwaffe eine Bilanz der deutschen Industriekapazität vor, die den "katastrophalen Misserfolge des strategischen Bombardements" dokumentierte. Während die Zerstörung der Großstädte auf das Untersuchungsteam "absolut Grauen erregend" wirkte, fand es schnell heraus, dass die meisten Angriffe auf Betriebe der deutschen Rüstungsindustrie nichts anderes als "kostspielige Fehlschläge" waren. Zwar zerstörten die Bomber 17 Prozent der Kapazität von 1936, doch war diese seitdem um 75 Prozent gewachsen, so daß nach den Abschreibungen ein um 20 Prozent höheres Anlagevermögen übrig blieb. Es war schwierig und verlustreich, die Rüstungsindustrie aus der Luft zu treffen. Der Schwerpunkt der alliierten Bombenangriffe lag deshalb seit März 1942 bewusst auf der – vom Völkerrecht geächteten – Flächenbombardierung von Wohngebieten, um so die deutsche Kriegswirtschaft mittelbar zu schwächen. Nur dort, wo Werk und Stadt im Gemenge lagen, wie Krupp in Essen oder die BASF im Raum Ludwigshafen/Mannheim traf diese neue Strategie auch direkt die Kriegswirtschaft – als "Kollateralschäden" der Angriffe auf die Zivilbevölkerung.
Selbst am Ende der Demontage verfügten die meisten deutschen Unternehmen noch über höhere Kapazitäten als vor dem Krieg – nicht zuletzt auch in qualitativer Hinsicht. Die Anlagen waren jünger, moderner und produktiver als je zuvor. Auch das Know how und die Qualifikation der Mitarbeiter hatten sich während des Krieges noch verbessert. Vor allem verfügte nun die ehemalige Rüstungsindustrie über das Wissen und die Praxis der standardisierten Massenproduktion (‚Fordismus’). Unter Einsatz von Zwangsarbeit und staatlichen Subventionen hatte sich die deutsche Industrie ein zweites Standbein in der Produktion geschaffen und öffnete sich für die Zeit nach 1945 die Option, den Wettbewerb auch auf den bis dahin unerreichbaren Märkten für Serienwaren aufzunehmen.
Wichtigste Produktionsweise blieb freilich die diversifizierte Qualitätsproduktion. Damit ist jene Maßschneiderei von Maschinen, Anlagen und anderen Investitionsgütern gemeint, die im westeuropäischen Wiederaufbau heiß begehrt waren. Ihr Erfolg war (und ist) auf den Einsatz wissenschaftsgestützter, anwendungsorientierter Technologien ebenso angewiesen wie auf kooperative Spielregeln und Organisationsformen der Wirtschaft. Es wundert daher nicht, daß - wenigstens im Westen -nahezu alle Komponenten des institutionellen Rahmens der historisch gewachsenen Unternehmenskultur, zum Teil gegen heftigen Widerstand der Besatzungsmächte, erhalten blieben. Dies gilt für die Regeln der corporate governance ebenso wie für das Finanzsystem (Rekonzentration der Großbanken), das Ausbildungswesen (Duales System) und – seit der Koreakrise – den verbandskoordinierten Interessenausgleich. Selbst die im Unternehmerlager umstrittene Einführung der qualifizierten Mitbestimmung paßt in dieses Muster.
Zunächst schien der 8. Mai 1945 tief in die soziale Zusammensetzung der Eliten und in die Organisation der deutschen Wirtschaft einzugreifen. Die Vereinigten Staaten bestanden nach 1945 ausdrücklich auf der Anklage gegen deutsche Industrielle, deren Häresie vom liberalen Glaubensbekenntnis des Kapitalismus sie für den Aufstieg und die Verbrechen des NS-Regimes mitverantwortlich machten. Stellvertretend für alle wurde in Nürnberg gegen den Flick-Konzern, gegen die IG Farbenindustrie und gegen die Kruppwerke verhandelt. Die deutschen Großbanken, gegen die ebenfalls ermittelt worden war, saßen nicht auf der Anklagebank, obwohl die Militärregierung auch gegen sie schwere Vorwürfe erhob. Schon während der Ermittlungen hatte sich der Wind der Weltpolitik gedreht und ließ blockinterne Auseinandersetzungen über die reine Lehre des Kapitalismus in den Hintergrund treten.
Was im Kalten Krieg allein zählte, waren wirtschaftliche Effizienz und die Fähigkeit, nach besten Kräften zur wirtschaftlichen Stabilisierung und militärischen Verteidigung des eigenen Lagers beizutragen. Anfang 1951 – auf dem Höhepunkt des Koreakrieges – kamen nicht nur die Verurteilten der Nürnberger Industriellenprozesse frei. Auch die Organisation der westdeutschen Wirtschaft und der Kreislauf der wirtschaftlichen Eliten setzten dort wieder ein, wo sie der Eingriff der Besatzungsmächte 1945 für eine Zeit lang unterbrochen hatte. Schon vorher hatten die Besatzungsmächte die strengen Regeln der Entnazifizierung des öffentlichen Dienstes nicht auf die Wirtschaft übertragen. Der Wiederaufbau und die Stabilisierung Westeuropas hatten Vorrang. Dies kam vor allem jenen rund 6000 jüngeren Managern zugute, die mit Fanatismus, Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit Albert Speers "Selbstverwaltung der Wirtschaft" zu einem "Rüstungswunder" verholfen hatten. Viele dieser Nachwuchstalente des Regimes ("Speers Kindergarten") machten nun Karriere in der Nachkriegswirtschaft – unter ihnen so illustre Wirtschafts"wunder"kapitäne wie Carl Borgward, Fritz-Aurel Goergen, Max Grundig, Helmut Horten, Ernst–Wolf Mommsen, Josef Neckermann, Heinrich Nordhoff, Willy Ochel, Hanns Martin Schleyer, Hans-Günther Sohl und Karl Winnacker.
In der DDR hatte zu diesem Zeitpunkt der Umbau zu einer sozialistischen Wirtschaft gerade erst begonnen. Die Frage, warum die DDR-Wirtschaft soviel weniger erfolgreich gewesen ist als die westdeutsche, obwohl sie doch aus derselben Konkursmasse des "Dritten Reiches" hervorgegangen war und dieselben "Erbanlagen" in sich trug, ist oft mit ihren schlechteren Ausgangsbedingungen beantwortet worden. Gewiß lag die relative Demontagelast der ostzonalen Unternehmen mit durchschnittlich 15 Prozent des Anlagevermögens von 1945 rund dreimal höher als im Westen. Doch hatte das mitteldeutsche Industrierevier zuvor auch mehr von den Rüstungsinvestitionen profitiert und Know how und Qualifikationsniveau blieben im allgemeinen erhalten.
Wichtiger war die systematische Vernachlässigung und schließlich Verdrängung des mitteldeutschen Unternehmertums. Schon bald nach Kriegsende waren die "Industriekapitalisten", d.h. vor allem die kleinen und mittleren Unternehmer, die nicht vor der Roten Armee geflohen waren, Ziel von Kampagnen zur Sozialisierung der Privatwirtschaft. Es gab in einem sozialistischen Weltbild, das von der historischen Überlegenheit zentraler Planung und Lenkung der Wirtschaft überzeugt war, keinen Platz für den Unternehmer als Spezialisten für Entscheidungen unter Unsicherheit, der Informationen sammelt, Daten, Konzepte und Ideen beurteilt und deren Wert für Produktionsprozesse und Vermarktung in besonderem Maße zu erkennen in der Lage ist. Es wurde deshalb nicht nur der "Unternehmer" als soziale Figur verdrängt. Darüber hinaus geriet auch die Funktion des Unternehmers ins Abseits, sei es, weil sie im sozialistischen Wirtschaftssystem als anachronistisch galt, sei es, weil sie im sozialen System der Produktion der DDR sehr zum Schaden der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen auch praktisch kaum noch Ansatzpunkte fand. Hier und in der Diskontinuität des sozialen Systems der Produktion lagen ernsthafte Engpässe der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR und blieben es nach 1990 auch in der Wirtschaft der neuen Länder.
Im Westen dagegen standen deutsche Unternehmen – und mit ihnen die Unternehmer – seit 1947 wieder hoch im Kurs. Für den Wiederaufbau Westeuropas dringend gebraucht, erfüllten sie ihre Aufgabe zu eigenen Bedingungen. Selbst die 1945 verfügte Zerschlagung der großen Chemie- und Stahltrusts bedeutete keine wirkliche Zäsur, hatte man sie doch in den Zentralen der Megakonzerne für die Nachkriegszeit selbst geplant.