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Kommentar zu "Goering's Atlas"
"Görings Atlas"
Das Handwerkszeug des Rüstungsdiktators
von Werner Abelshauser
In den frühen Morgenstunden des 21. April 1945 nutzte der Marschall des "Dritten Reiches" die letzte Chance, um das nahezu eingeschlossene Berlin in Richtung Süden zu verlassen. Zuvor hatte er den "Waldhof Karinhall", seinen privaten Wohnsitz in der Schorfheide, geräumt und zur Sprengung vorbereitet. Alles was Göring für die – wie er glaubte – ihm zufallende Nachfolge Hitlers für wichtig hielt – von den Handakten aus der Vierjahresplanbehörde bis zu seiner Kunstsammlung zweifelhafter Herkunft – rollte schon Tage zuvor auf den letzten freien Schienenwegen in die "Alpenfestung". Der Aufenthalt des Hitlerstellvertreters in seinem Landhaus am Obersalzberg bei Berchtesgaden sollte jedoch ebenso kurz wie erfolglos bleiben. Am 23. April scheiterte sein Versuch, "legal" die Nachfolge des Reichskanzlers anzutreten, kläglich. Im Gewahrsam der SS überlebte er zwei Tage später im Bunker seines Hauses nur knapp einen gezielten Bombenangriff der Royal Air Force. Am 28. April brachte ihn dann ein SS-Kommando nach Schloß Mauterndorf südlich von Salzburg, wo ihn das Kriegsende einholte.
Was von Görings Landhaus und Sonderzug nach dem Luftangriff und Plünderungen französischer Truppen noch übrig war, wurde Anfang Mai von US-Soldaten der 101. Luftlandedivision sichergestellt. Unter seinen geheimen Papieren fanden sie auch den Atlas, auf dem die materiellen Machtgrundlagen des "Dritten Reiches" akribisch verzeichnet waren. Er zählt zu den symbolischen Insignien einer Macht, die Göring längst aus den Händen geglitten war. In den letzten Kriegsjahren spielte es kaum noch eine Rolle, daß der preußische Ministerpräsident und Innenminister, Präsident des preußischen Staatsrats, Reichsforst- und –jägermeister, Vorsitzende des Reichsverteidigungsrats, Vorsitzende des Reichsforschungsrats und Oberkommandierende der Luftwaffe 1936 von Hitler auch zum "Rüstungsdiktator" ernannt und mit wirtschaftlicher Generalvollmacht ausgestattet worden war. Seitdem herrschte er als "Beauftragter für den Vierjahresplan" und Gründer der nach ihm benannten Reichswerke - wenigstens dem Namen nach - über die gesamte Rüstungs- und Kriegswirtschaft. Nicht wirtschaftlicher Sachverstand hatte den hochdekorierten Kampfflieger des Ersten Weltkriegs in diese Position gebracht, sondern Hitlers Wunsch, in ihm einen loyalen und entschiedenen Sachwalter seiner Ziele zu finden. Göring sollte die widerstrebenden Interessen der Paladine des "Dritten Reiches" zu Gunsten eigener – Hitlers, aber auch Görings - Machtansprüche im Gleichgewicht halten. Nach einer Serie von Niederlagen, von der verlorenen "Schlacht um England" bis zum Fall von Stalingrad, hatte der Reichsmarschall den Nimbus des energischen Macht- und Tatmenschen freilich bald verloren. Auch wenn er nach außen hin weiter "Rüstungsdiktator" blieb, war dies nur noch Etikettenschwindel: wo Göring draufstand, war immer häufiger Speer drin. Vor diesem Hintergrund hatte der Atlas für Göring am Ende eher die Funktion eines symbolischen Besitztitels auf eine zentrale Pfründe nationalsozialistischer Macht, denn eines praktischen Handwerkzeugs der Kriegswirtschaft.
Die Bedeutung, die der Erwerb strategischer Ressourcen jenseits der deutschen Grenzen im außenpolitischen und militärischen Denken Hitlers einnahm, läßt sich kaum überbewerten. Rohstoffe bedeuteten ihm weit mehr als bloße Hilfsmittel der Kriegsführung, sondern zählten von Anfang an zu seinen originären Kriegszielen – vor allem im Osten. In der geheimen Denkschrift zum Vierjahresplan äußerte sich Hitler im August 1936 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise skeptisch über die Möglichkeit, natürliche Versorgungslücken dauerhaft über den Weltmarkt oder durch industrielle Ersatzstoffe schließen zu können. Die "endgültige Lösung" sah er vielmehr "in einer Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes". Es war ihm deshalb wichtig, "diese Frage dereinst zu lösen". Dem entsprach die abschließende Aufgabenstellung seiner Denkschrift: In vier Jahren müsse die deutsche Armee einsatzfähig und die Wirtschaft kriegsfähig sein.
Görings Anstrengungen, Hitlers Aufgabenstellung gerecht zu werden, blieben nicht ohne sichtbare Folgen. Die Erschließung heimischer (Braun-)Kohle- und Erzlagerstätten, der Ausbau der Schwerindustrie (Reichswerke), das Reichsbohrprogramm zur Erschließung deutscher Ölquellen, die Forcierung der chemischen Treibstoff- (Leuna) und Gummisynthese (Buna), der Aufbau der Serienproduktion von Panzern, Kriegsschiffen und Kampfflugzeugen, der Ausbau der Stromerzeugung – all dies dokumentiert der Atlas einducksvoll. Der wirtschaftliche Wert dieser Programme stand freilich auf tönernen Füßen. Nach dem Motto "Koste es, was es wolle" waren Kapazitäten entstanden, deren Rendite sich nur unter kriegswirtschaftlichen Bedingungen "rechnen" konnte. Genau darin bestand aber die Geschäftsgrundlage; es sollten Investitionen in die "Endlösung" der Ressourcenfrage sein.
Die Ergebnisse dieser Expansionsstrategie schlagen sich im Atlas sichtbar nieder. Bei aller Kurzatmigkeit der Planung entstanden im "großdeutschen" Raum auch Anlagen, die über den Krieg hinaus Bestand haben sollten. Vor allem im Fahrzeugbau (Panzer, Lastwagen, Lokomotiven), auf den Werften, im Flugzeugbau und in der Geschützproduktion zog spätestens 1941/42 eine neue Produktionsweise ein, die ebenso gut der Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit als wirtschaftliche Grundlage dienen konnte: die "fordistische" standardisierte Massenproduktion. Auch dort, wo die neuen "Serienwerke" 1945 verloren gingen, wie etwa das in Markstädt östlich von Breslau gelegene Berthawerk des Krupp-Konzerns, gelangte das mühsam und blutig erworbene Know-how in der Regel in den Westen, um dort neue Anwendungen zu finden. Der Atlas macht auch deutlich, wo außerhalb Deutschlands die Schwerpunkte der Unterstützung der deutschen Kriegsmaschine lagen: in den westlichen Besatzungsgebieten, wo unter der Regie Albert Speers und der Kollaboration faschistischer Vasallen weitgehend ungestört Rüstungsgüter hergestellt und Rohstoffe ausgebeutet wurden.
Dort, wo Lebensraum vorzugsweise erobert werden sollten, – im Osten – ging die Rechnung paradoxerweise am wenigsten auf. Der Griff nach den Ressourcen bestimmte dort weitgehend die strategische Angriffsplanung. Im Kaukasus schienen bis Sommer 1942 die Ölfelder von Baku und sogar die Quellen des Nordirak in die Reichweite der deutschen Kriegswirtschaft zu rücken. Im Gebiet des Dnepr, im Donez-Becken, am Asowschen Meer und auf der Krim lagen im Prinzip viele der kriegswichtigen Rohstoffe und Produktionsstätten, nach denen die deutsche Kriegswirtschaft verlangte. In Wirklichkeit dokumentiert der Atlas hier aber lediglich die Illusion einer industrielle Variante Potemkinscher Dörfer. Die Rote Armee hatte bei ihrem Abzug im Spätsommer 1941 die Rohstofflagerstätten unbrauchbar gemacht und fast alle Industrieanlagen bis auf die letzte Schraube demontiert. Kaum waren aber einige Fabriken und Hüttenwerke im April 1943 wieder in Gang gekommen, wobei die Maschinen mühsam aus dem Westen herangeschafft werden mußten, erzwangen die vorrückenden sowjetischen Truppen im Herbst schon wieder ihre Räumung. Nach dem Verlust von Nikopol und Kriwoj Rog mußte die deutsche Eisenerzeugung seit Februar 1944 verstärkt auf Erzeinfuhren aus Schweden und Spanien zurückgreifen. Beide Länder sind – wie auch Italien und die Schweiz - aus naheliegenden Gründen nicht im Atlas erfaßt, spielten aber für die Aufrechterhaltung der deutschen Kriegswirtschaft keine geringere Rolle als die westlichen Besatzungsgebiete.
1944 gehörte das Kartenwerk nicht mehr zum täglichen Handwerkszeug des "Rüstungsdiktators", wohl aber zu den Unterlagen der regelmäßigen kriegswirtschaftlichen Lagebesprechungen zwischen Speer und seinem obersten Kriegsherrn. Gerade weil Hitler der Frage der strategischen Rohstoffe höchste Priorität beimaß, bestimmte sie häufig, wenn auch nicht immer vorteilhaft, seine militärischen Entscheidungen. Die Bedeutung, die der Atlas als historische Quelle hat, geht damit weit über die engere Kriegswirtschaft hinaus.
Was den Nachrichtendienst der amerikanischen Militärregierung bewogen haben mag, die Karten des Reichsmarschalls für den eigenen Bedarf zu reproduzieren, ist schwer zu sagen. "Goering’s Atlas" bedeutete für die Militärregierung aber gewiß mehr als nur eine weitere, interessanten Trophäe fürs Kriegsmuseum. Im Prinzip waren die amerikanischen Behörden in Deutschland zwar schon gut über die in Deutschland und Europa (noch) verfügbaren Ressourcen informiert. Die US-Luftwaffe hatte schon vor Kriegsende damit begonnen, den Zustand der deutschen Industrie einer akribischen Untersuchung zu unterziehen, deren wesentliche Ergebnisse im Dezember 1945 vorlagen. Da jedoch das Resultat dieser Feldforschung über die Auswirkungen des Bombenkrieges auf die deutsche Kriegsindustrie nicht den Vorstellungen der Auftraggeberin entsprach, wurden die Ergebnisse des United States Strategic Bombing Survey freilich nicht an die große Glocke gehängt. Immerhin wußte man nun in Berlin, daß die in Mitteldeutschland neugeschaffenen Kapazitäten, wie sie in Görings Atlas verzeichnet waren, nicht dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Dies dürfte den Wert des Kartenwerks für die interalliierten Verhandlungen über das künftige deutsche Industrieniveau und die Verteilung der Reparationsgüter noch erhöht haben. Während die wirtschaftliche Lage Europas ungeachtet deutscher Reparationen immer verzweifelter wurde, lag das wirtschaftliche Herz Europas still, obwohl es für den Kreislauf der europäischen Wirtschaft von entscheidender Bedeutung war. Die Botschaft, die der Atlas der amerikanischen Militärregierung vermittelte, hat sicher ihren Teil dazu beigetragen, daß sich im Laufe des Jahres 1946 die amerikanische Europastrategie dramatisch wandelte. Hatte man in Washington bisher versucht, Westeuropa zu Lasten der deutschen Wirtschaft wieder aufzubauen, sollte dies nunmehr mit Hilfe der westdeutschen Industrie gelingen, über deren Potential Görings Atlas eindrucksvoll Auskunft gab.
W. Abelshauser (Hg.): "Görings Atlas". Das Handwerkszeug des Rüstungsdiktators, in: "Goering's Atlas". Das Handwerkszeug des Wirtschaftsdiktators: Geheimes Kartenmaterial aus dem Büro des Beauftragten für den Vierjahresplans Reichsmarschall Hermann Göring, Braunschweig 2004, Vorspann.