Wirtschaftsgeschichte Universität Bielefeld
 
 
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vdi-Nachrichten, Nr. 39 vom 24. September 2004, S. 1 u. 4

Reformen: Der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser hat die Anfänge der Agenda 2010 in der Regierungszeit des Kanzlers Helmut

Schmidt entdeckt.

Interview mit Werner Abelshauser, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld

vdi:

In Ihrem neuen Buch berichten Sie, Helmut Schmidt und seine beiden letzten Finanzminister Hans Matthöfer und Manfred Lahnstein hätten Anfang der 80er Jahre Positionen vertreten, die sehr an das erinnern, was heute unter "Hartz" firmiert. Wie weit gehen die Parallelen?

WA:

Die Regierung Schmidt hatte spätestens 1979 verstanden, dass es unter Globalisierungsbedingungen nicht mehr möglich war, Arbeitslosigkeit national, also mit schuldenfinanzierter staatlicher Arbeitsbeschaffung zu bekämpfen. Sie hat deshalb ein neues Konzept von Reformen entwickelt, das der heutigen Agenda 2010 gleicht wie ein Ei dem anderen. Sie riet zum Beispiel den Gewerkschaften, mittelfristig real stagnierende Lohnabschlüsse hinzunehmen und wollte dafür im Gegenzug die Arbeitnehmer an den wirtschaftlichen Erträgen der Unternehmen beteiligen. Vor allem aber beabsichtigte sie, Korrekturen an den sozialen Sicherungssystemen vorzunehmen, die sie für unbedingt notwendig hielt, um den Anstieg der Lohnnebenkosten wirkungsvoll einzudämmen.

vdi:

Was war damit konkret gemeint?

WA:

Beispielsweise, dass die Arbeitslosenversicherung stärker nach sozialer Bedürftigkeit differenziert werden sollte. Es wurde auch über Darlehenskomponenten nachgedacht. Die Betreuung durch die Arbeitsämter sollte effektiver ablaufen und die bis dahin ineffizienten Zumutbarkeitsregeln mit mehr Leben erfüllt werden. Ähnlich wie heute wollte die Regierung im Gesundheitswesen die Eigenverantwortlichkeit stärken und das Prinzip der Selbstbeteiligung ausbauen. Ziel war auch, alle Anbieter gesundheitlicher Leistungen unter Wettbewerbs- und Kostendruck zu stellen. Das Ausbildungsplatzproblem war ebenfalls schon akut und sollte durch Flexibilisierung der Regeln gelöst werden. Um mehr Risikokapital für Investitionen zu mobilisieren, plante die Regierung den Verkauf öffentlichen Eigentums, und die Kreditanstalt für Wiederaufbau sollte Zinshilfeprogramme für innovative kleine Unternehmen einrichten.

vdi:

Im Vergleich zu heute waren Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gering. Warum sah Schmidt die Lage so dramatisch?

WA:

Die Arbeitslosigkeit lag im zyklischen Durchschnitt nur knapp über 5%, was nach der klassischen Definition fast noch als Vollbeschäftigung galt. Aber es war schon klar, daß sich etwas zusammenbraute, weil der Sockel der Arbeitslosigkeit von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus anstieg. Auch über die Staatsverschuldung waren viele Menschen beunruhigt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch vergleichsweise gering war und erst nach der Wiedervereinigung zum Problem wurde. In der Endphase der Regierung Schmidt wuchs gleichzeitig die Einsicht, daß die Politik wenig Macht über die wirtschaftliche Entwicklung hatte. Bei seinem Regierungsantritt, 1974, glaubte Schmidt noch, alles sei machbar, wenn man es nur technokratisch richtig anpacke. Dieses Gefühl ging spätestens 1979 verloren.

vdi:

Aus welchen Gründen?

WA:

In den siebziger Jahren kehrte die Weltwirtschaft auf die Agenda der deutschen Politik zurück. Bis dahin hielten in den meisten Nationalstaaten die Dämme der Kapitalkontrollen und anderer Schutzmaßnahmen vor globalem Wettbewerbsdruck. Besonders nach der zweiten Ölpreiskrise (1979) wurde die Bundesrepublik von den Turbulenzen der Weltwirtschaft erfasst. Vor allem die alten Industrien - Stahlindustrie, Werften, Textilindustrie - gerieten unter dem Druck der Billiglohnkonkurrenz in die Krise. Hinzu kam eine rücksichtslose Hochzinspolitik der Vereinigten Staaten, die sich nach dem Motto "Rette-sich-wer-kann" am Kapitalmarkt Vorteile verschafften. Die Regierung Schmidt hat die Bundesrepublik in dieser Weltwirtschaftskrise im internationalen Vergleich zwar gut auf Kurs gehalten, schnitt aber im Vergleich zur vorangegangenen Wirtschaftswunderzeit schlecht ab. Wenn der Kanzler dafür die Weltwirtschaftskrise verantwortlich machte, wurde ihm das von vielen nicht abgenommen und als "Weltwirtschaftsoper" verspottet.

vdi:

Welche Auswirkungen hatte die Wirtschaftspolitik der USA auf die Situation in Deutschland?

WA:

Die Hochzinspolitik zwang die Bundesbank, ebenfalls die Zinsen hochzuhalten, was die Arbeitslosigkeit erhöhte. Gleichzeitig setzten die USA die Bundesrepublik unter Druck, sich als Lokomotive vor die Weltwirtschaft zu setzen und mehr Geld zur Ankurbelung der Konjunktur auszugeben. Dadurch wuchs die Staatsverschuldung. Der expandierende Eurodollarmarkt, entzog sich jeder Kontrolle und machte die nationale Wirtschaftspolitik weitgehend unwirksam.

vdi:

Was beabsichtigte Helmut Schmidt genau mit dem Abbau von Sozialleistungen?

WA:

Er wollte den Sozialstaat funktionsfähig halten. 1981 hat er dies vor der SPD-Fraktion auf einen auch heute noch aktuellen Nenner gebracht: ,Das soziale Netz muss gesichert werden, damit es belastbar bleibt; es muss entlastet werden von überflüssigem und von zu teurem Rankenwerk’. Durch die Konfrontation mit den "Sozialhysterikern", wie Schmidt intern die große Koalition der in seinen Augen verantwortungslosen Sozialpolitiker nannte, handelte sich Schmidt wachsende Probleme mit der eigenen Partei ein und verlor seinen Rückhalt in der IG-Metall und anderen Gewerkschaften, die bis dahin seine wichtigsten Verbündeten waren.

vdi:

Aus heutiger Sicht klingt das wie Wasser auf die Mühlen der Neoliberalen. Aber Schmidt hatte doch wohl andere Intentionen?

WA:

Schmidt wollte sicher keine neoliberale Wirtschaft nach amerikanischem Muster. Es ging seiner Regierung vielmehr um die Erhaltung und Stärkung der gewachsenen deutschen Wirtschaftskultur, die sich auch in der Weltwirtschaftskrise der 70er Jahre als wettbewerbsfähig erwiesen hatte. Die Erfahrung seiner Regierungszeit hatte ihn allerdings gelehrt, wie gefährlich unter Globalisierungsbedingungen der Wirtschaftswunderspeck am sozialen Systems der Produktion sein konnte. Eine offene Wirtschaft wie die deutsche, die fast ein Drittel des Sozialprodukts in der Außenwirtschaft erarbeitet, muß sich immer wieder aufs neue auf ihre Stärken besinnen. Dazu gehören funktionsfähige Sozial- und Lenkungssysteme. Vor allem müssen sich die Akteuren bewußt sein, daß die gewachsene Organisation der deutschen Wirtschaft nur dann effizient sein kann, wenn sie zur Kooperation bereit sind. Nur so sind ihre komparativen institutionellen Vorteile auf dem Weltmarkt umzusetzen.

vdi:

Was bedeutete die Wende von 1982 für diese Reformdebatte?

WA:

Weder konnte die Regierung Schmidt ihre Agenda umsetzen, noch waren die Liberalen in der Lage, ihre Vorstellungen innerhalb der Regierung Kohl zu realisieren. Es ist auf diesem Gebiet 20 Jahre lang nichts geschehen. Diese lange Stagnation erklärt, warum Reformen in Deutschland heute so schmerzhaft sind.

Das neue Buch von Werner Abelshauser - Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. Verlag C.H. Beck, München 2004. 527 S., 19,90 € – ist gerade erschienen. In seine Recherchen hat er unter anderem die Akten der letzten Regierung unter Helmut Schmidt einbezogen, die nach dem Auseinanderbrechen der SPD/FDP-Koalition durch das konstruktive Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 von der CDU/CSU/FDP-Regierung unter Helmut Kohl abgelöst wurde.