Hopp oder topp. Die Innovationsmaschine der korporativen Marktwirtschaft
von Werner Abelshauser, in: Berliner Republik 1/2004, S. 48-57.
Innovationen fallen nicht wie
Manna vom Himmel. Sie lassen sich auch nicht in politischen Kampagnen
kurzfristig stimulieren. Vielmehr sind sie das Ergebnis langfristig
akkumulierter Fähigkeiten in Wissenschaft, Wirtschaft und
Gesellschaft. Es geht um innovationsorientierte Denk- und
Handlungsweisen, die sich in einem institutionellen Rahmen für
Wirtschaft und Gesellschaft, einem konkreten sozialen System der
Produktion niederschlagen, das im besten Fall zu einer reibungslos
funktionierenden Innovationsmaschine wird. Mit
Innovationsfähigkeit ist die Kunst gemeint, mit Hilfe von
Neuerungen seien es Erfindungen, andere wissenschaftliche
Einsichten oder kreative Denk- und Verhaltensweisen neue
Märkte und neue Spielregeln zu schaffen, deren Durchsetzung die
Produktivität und die Lebenschancen der Menschen verbessern. Mit
Innovationsfähigkeit verbindet sich die Hoffnung auf ein besseres
Leben und andere Arten von Fortschritt. Sie gehört
also zu den Grundvoraussetzungen jeder Gesellschaft, die auf dem
Glauben an die eigene Gestaltungsmöglichkeit der Zukunft
gegründet ist.
Deutschland verfügt seit
langem über eine Innovationsmaschine erster Güte. Umso
schmerzlicher wird empfunden, daß seine Innovationsfähigkeit
und die damit eng verbundene Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit im
In- und Ausland gegenwärtig stark in Zweifel gezogen werden. Es
fehlt der deutschen Wirtschaft auch nach Meinung der Kritiker nicht an
Innovationsfähigkeit im allgemeinen, sondern an Neuerungskraft
auf bestimmten Märkten, von denen alle Welt annimmt, sie seien die
zukunftsträchtigen. Sie werden gemeinhin der new economy
zugerechnet. An der Antwort auf die Frage, wie dieser
Innovationsschwäche abgeholfen werden könnte, scheiden sich
die Geister. Die einen setzen auf Reformen des bestehenden sozialen
Systems der Produktion. Sie wollen es von sklerotischen
Verhärtungen, Überdehnungen und von allerlei Wildwuchs
befreien, die sich auf jahrzehntelangem Erfolgskurs angehäuft
haben. Die anderen halten dieses System für obsolet. Sie
plädieren dafür, es gegen ein neues Produktionsregime und
neue gesellschaftliche Spielregeln auszutauschen, für die in der
Regel die USA als Vorbild dienen. Die meisten Teilnehmer an der
laufenden Diskussion sehen das Rezept aber in einer bunten Mischung aus
Reformen und radikalen Neuerungen, die sie ohne viel Federlesen zu
einem Brei zusammenrühren. Nur wenn diese Verwirrung
überwunden ist, lassen sich klare Entscheidungsgrundlagen für
Innovationspolitik schaffen.
Die Kernfrage ist
zunächst, ob die deutsche Innovationsmaschine noch den
Herausforderungen der Zeit gerecht wird. Daran könnte man auf den
ersten Blick zweifeln, sind doch die meisten Bestandteile des
herrschenden sozialen Systems der Produktion samt seinen
gesellschaftlichen Spielregeln mehr als hundert Jahre alt (Abbildung).
Vor dem Hintergrund der Ende der siebziger Jahre einsetzenden und
seitdem hartnäckig anhaltenden Massenarbeitslosigkeit wird dem
deutschen Produktionsregime immer häufiger die Fähigkeit
abgesprochen, sich neuen, innovativen Produktmärkten anzupassen,
deren Dynamik unter Globalisierungsbedingungen ein hohes Maß an
Flexibilität unternehmerischer Entscheidungsprozesse notwendig
mache. Noch vor zehn Jahren überwog freilich in der
öffentlichen Diskussion, wie unter vielen Fachleuten bis heute,
der Glaube an die wirtschaftliche und soziale Überlegenheit des
Rheinischen Kapitalismus (Michel Albert). Gleichzeitig
wuchs aber auch die Skepsis, ob es nicht unter den politischen,
medialen und kulturellen Einflüssen seines amerikanischen
Konkurrenten dennoch den Rückzug antreten müsse. Gerade jene
Eigenschaften des Modell Deutschland, die früheren
Reformern im Ausland als Vorbild dienten, - also der (zu) langfristige
Charakter unternehmerischer Entscheidungshorizonte und die kooperative
Verfassung, die allen Komponenten des deutschen Produktionsregimes
eigen sind - scheinen der deutschen Wirtschaft heute eine kurzfristige
Anpassung an neue Verhältnisse zu erschweren. Das System hat
Stärken und Schwächen, die sich gegenseitig bedingen. Was es
durch Kooperation, Stabilität und Nachhaltigkeit gewinnt und durch
diese komparativen institutionellen Kostenvorteile auf vielen
Märkten wettbewerbsfähig macht, steht ihm in hochinnovativen
Märkten bei raschen Anpassungsmanövern im Wege. Seine
Bestandteile sind dabei so eng miteinander verzahnt, daß sich
selektive Erneuerungsstrategien von selbst verbieten: Alles oder
nichts.
Dies gilt in besonderer Weise
für die Herrschafts- und Lenkungsverhältnisse in den
Unternehmen (corporate governance); für das Finanzsystem, dessen
Schwerpunkt im Universalbankensystem für eine angeblich
mangelhafte Versorgung der new economy mit Risikokapital verantwortlich
gemacht wird; für das System der industrial relations, dessen
deutsches Flaggschiff, die Mitbestimmung, rasche Entscheidungen der
Unternehmensführung verhindere; für die Organisation der
Unternehmen auf der Branchenebene (Branchensystem), wo ein zu hohes
Maß an Verbandskoordinierung zum Wettbewerbshindernis und zur
Überregulierung des Arbeitsmarktes führt; und
schließlich auch für das System der dualen Berufsausbildung,
das all dies durch Standardisierung der Qualifikationen und durch
langlebige Betriebsbindung noch verstärke und verstetige.
Stellt man aber die Frage nach
der Art der Herausforderungen, denen das System gerecht werden soll,
ändert sich die Perspektive. Die beiden zentralen
Herausforderungen, denen Wirtschaft und Gesellschaft zu Beginn des 21.
Jahrhunderts gegenüberstehen, Globalisierung der Märkte und
Verwissenschaftlichung der Produktion, standen nämlich auch vor
mehr als hundert Jahren Pate, als die derzeitige Innovationsmaschine
Gestalt annahm. Nahezu alle Wirtschaftshistoriker stimmen darin
überein, daß der Globalisierungsprozeß schon im
späten 19. Jahrhundert einsetzte und lediglich durch die
Katastrophen des 20. Jahrhunderts unterbrochen und zeitweise aus dem
öffentlichen Bewußtsein verdrängt wurde.
Übereinstimmung herrscht auch darüber, daß der Aufstieg
nicht-materieller Produktionsfaktoren und die Schlüsselrolle von
Wissenschaft und Forschung für die Innovationskraft und
fähigkeit nachindustrieller Volkswirtschaften ebenfalls
schon im späten 19. Jahrhundert begonnen hat. Nicht wenige
Ökonomen sehen in dieser zweiten wissenschaftlichen Revolution in
Verbindung mit neuen institutionellen Rahmenbedingungen den Beginn
einer großen wirtschaftlichen Epochenwende, die den Einschnitt
der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts weit in den Schatten
stellt und das Ende des industriellen Zeitalters schon vor hundert
Jahren einleitete.
Deutschland daran gibt
es ebenfalls keinen Zweifel gehörte zusammen mit den USA
zu den Pionieren dieser neuen Entwicklung und wird noch heute stark von
ihr geprägt. Dafür stehen seine extreme Weltmarktorientierung
und die Dominanz der Neuen Industrien, deren Wertschöpfung im
wesentlichen immaterieller Art ist. Vor diesem historischen Hintergrund
gibt es wenig Grund zur Annahme, das in Deutschland gewachsene soziale
System der Produktion sei weniger innovationsfördernd als das
amerikanische und auf die gegenwärtigen, aus historischer
Perspektive gar nicht so neuen Herausforderungen nicht vorbereitet.
Ebenso eindeutig
läßt sich aber auch eine gewisse Schwäche auf
Märkten für hochinnovative Produkte ausmachen, also dort, wo
der Ergebnisstrom der Grundlagenforschung rasch in gewinnbringende
wirtschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten umgesetzt
werden müßte, wie auf dem Markt für Informations-, Bio-
oder Gen-Technologien. Paradefall dafür ist das peinliche
Scheitern der Einführung eines Mautsystems auf deutschen
Autobahnen, das sich auf hochinnovative Informationstechnologie
stützen sollte. Das Management der beiden federführenden
Weltkonzerne - DaimlerChrysler und Deutsche Telekom ist
offenbar nicht in der Lage, flexibel auf diesen für ihre
Reputation tödlichen Flop zu reagieren und sich voll auf die
Problemlösung zu konzentrieren, wie dies in US-Firmen
selbstverständlich wäre. Dabei ist es nicht die
Mitbestimmung, die die Handlungsfreiheit der Konzerne beschränkt.
Es fehlt auch nicht an technischen Problemlösungen. Das
Mißmanagement resultiert ganz offenbar aus mangelnder
Vertrautheit im Umgang mit hochkomplexen und hochinnovativen
Produktionsweisen.
In Deutschland
unterstützt das soziale System der Produktion vielmehr den Typus
der diversifizierten Qualitätsproduktion (Streeck). Bei dieser
(nach)industriellen Maßschneiderei für den Weltmarkt handelt
es sich wie bei den hochinnovativen Technologien auch - um
Produktionsprozesse, die ihre Wertschöpfung immer weniger aus der
materiellen Stoffumwandlung gewinnen, wie in der klassischen alten
Industrie. Sie lebt von integriertem Wissen über Bedürfnisse
am Markt, Problemlösungen durch Forschung und Entwicklung,
Herstellungsverfahren, Anwendungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten
sowie von integrierten Dienstleistungen, die zur zeitgerechten
Bereitstellung, Finanzierung und zur Sicherung anderer qualitativer
Eigenschaften beitragen. Die Stärken der deutschen Wirtschaft
liegen dabei vorzugsweise dort, wo auf der Grundlage bereits
etablierter Technologien und Spielregeln wirtschaftliche und
gesellschaftliche Verfahrensinnovationen entwickelt werden, deren
Markterfolg auf den Fähigkeiten zu diversifierter
Qualitätproduktion und vertrauensbildender Soziabilität
beruht. Damit ist der Kern der Neuen Wirtschaft, wie sie in Deutschland
schon früh entstanden ist und immer noch zahlreiche Märkte
beherrscht, definiert. Sie unterscheidet sich von der new economy
lediglich in ihren Anwendungen und Märkten, nicht aber in der
Fähigkeit zur Innovation. Eingebettet ist diese
Produktionsweise in eine Organisation der korporativen Marktwirtschaft,
in der weder das Individuum noch der Staat den Ton angibt, sondern eine
dichte Landschaft von Institutionen und Organisationen, deren Akteure
in der Zivilgesellschaft (den hegelschen Korporationen) zwischen
diesen beiden Polen zu Hause sind. Als historischer Kompromiss aus
sozialkonservativem Wohlfahrtsstaat, katholischer Soziallehre und
sozialdemokratischer Reformpolitik entstanden, steht die deutsche
Wirtschaftsordnung nach wie vor für gesellschaftliche
Stabilitität und wirtschaftliche Möglichkeiten. Sie
öffnet langfristige Horizonte für unternehmerische
Entscheidungen, sorgt für einen hohen Stand der Qualifikationen
und der Einsatzbereitschaft der Arbeitskraft und stellt auch sonst den
kollektiven Input bereit, den dieses Produktionsmuster (beispielsweise
aus der Grundlagenforschung) nötig hat. Die hohe Verdichtung und
Vernetzung des institutionellen Rahmens, aber auch die Fähigkeit
zur marktwirtschaftlichen Soziabilität, auf deren Grundlage sich
Vertrauen akkumuliert und Kosten sinken, sind in langen Zeiträumen
gewachsene Ressourcen, die ihre Entstehung den Besonderheiten der
deutschen gewerblichen Entwicklung verdanken.
Dieses System verfügt
auch heute noch über beachtliche Innovationskraft. Das zeigt sich
sowohl am Spezialisierungsindex für Patente als auch an den Salden
der Handelsbilanz. Die deutsche Exportwirtschaft entfaltet ihre Dynamik
und Durchsetzungsfähigkeit zu allererst im Fahrzeugbau, im
Maschinenbau und in der Chemischen Industrie, während sie auf dem
Markt für moderne Büromaschinen und andere IT-Komponenten
deutliche Abstriche machen muß. Auch wenn die deutsche
Exportwirtschaft - anders als die amerikanische oder japanische - kein
einziges Weltmarktsegment völlig beherrscht, überrascht doch
die Breite und Tiefe ihrer internationalen Stellung. Diese Breite weist
auf eine Differenzierungsstrategie hin, die sich auf relativ stark
spezialisierte Branchen mit hoher Produktivität konzentriert. Sie
ist deshalb im Wettbewerb und in konjunkturellen Schwankungen besonders
widerstandsfähig. Dies zeigt sich in der Gegenwart daran,
daß die deutsche Exportwirtschaft ihren Rang behaupten kann,
obwohl sich die Zahl der Wettbewerber auf dem Weltmarkt im vergangenen
Jahrzehnt stark vermehrt hat. Der Exporterfolg, der seit den
frühen fünfziger Jahren ungebrochen anhält, beruht
freilich noch immer auf den komparativen institutionellen
Kostenvorteilen, die die deutsche Wirtschaft auf Märkten für
diversifizierte Qualitätsprodukte hat.
Dies gilt z. B. für den Maschinenbau, der in vielen
wettbewerbsfähigen Export-Cluster eine entscheidende
Stellung einnimmt. Deutschland verfügte über deutlich mehr
wettbewerbsfähige Branchen des Maschinenbaus als die USA. Gerade
umgekehrt liegen die Verhältnisse auf dem Markt für
internationale Dienstleistungen, wo das Management großer und
komplexer Systeme ebenso zählt wie die Verfügbarkeit
über die Fähigkeiten gut ausgebildeter Freiberufler. Noch
ungleichgewichtiger stehen sich die nationalen Branchen dort
gegenüber, wo die Verwendung elektronischer Bauteile auf dem
Vormarsch ist, wie vor allem bei Bürogeräten und
Telecom-Produkten. Befürchtungen, dieser Rückstand könne
sich rasch ausweiten, haben sich indessen bis heute nicht
erhärtet. Im Gegenteil, gerade der Maschinenbau hat in der
Produktion von Maschinen für Erzeugnisse der new economy einen
neuen Markt erschlossen und stellt mit einer überproportionalen
Zunahme der Patentanmeldungen seine Innovationsfähigkeit unter
Beweis. Gerade im Vergleich zu den USA scheint die deutsche Wirtschaft
ihren Rückstand aufzuholen und wenn auch auf verschiedenen
Wegen die innovative Produktmodernisierung voranzutreiben.
Deutsche Firmen setzen dabei
wie nicht anders zu erwarten zu höheren Anteilen
auf Technologie und Innovation sowie auf ein kundennahes Produktdesign.
Oft neigen sie dabei zu overengineering und stellen die Qualität
(zu Lasten des Preises) stärker in den Vordergrund als dies im
Wettbewerb nötig wäre. Amerikanische Unternehmen streben
häufiger als deutsche die Preisführerschaft auf den
Märkten an. Sie dominieren nur noch partiell das e-business und
haben die Führung in der Anwendung von Methoden der
computergestützten Verknüpfung von Konstruktion,
Arbeitsplanung und Fertigung inzwischen an ihre deutschen Konkurrenten
abgegeben, obwohl diese CAD-Systeme ihren Ursprung in amerikanischen
Softwareschmieden der Luft- und Raumfahrtindustrie hatten. Gerade
dieses Beispiel zeigt, daß die Stärken der deutschen Neuen
Wirtschaft vor allem dort liegen, wo bereits etablierte Technologien
in wirtschaftliche und gesellschaftliche Verfahrensinnovationen
umgesetzt werden können, deren Erfolg nicht zuletzt auf der
Fähigkeit zu diversifierter Qualitätproduktion und
vertrauensbildender Soziabilität beruht. Damit könnte die
deutsche Neue Wirtschaft gut leben.
Die entscheidende Frage
für die Zukunft ist freilich, ob das deutsche Produktionsregime
seine Stärken immer wieder aufs Neue entfalten kann, wenn auf die
Phase der Basisinnovationen im jeweiligen Produktzyklus die
Verfahrensinnovationen folgen, neuentwickelte Technologien also das
Stadium erreichen, in dem es auf ihre Umsetzung in konkrete
wirtschaftliche Verwendungszwecke ankommt. Dann könnte es seine
komparativen Vorteile voll entfalten. Es wäre aber auch denkbar,
daß die deutsche Wirtschaft den Anschluß an die Gestaltung
neuer Produktzyklen auf Dauer verliert, wenn sie immer weniger in der
Lage ist, selbst neue Produktzyklen zu entwickeln. Im ersten Fall
würde das deutsche Produktionsregime seine Stärken immer
wieder aufs Neue beweisen können. Verbleibende Schwächen
wären dann um so leichter über kompensatorische Strategien
auszugleichen, etwa durch Direktinvestitionen im Ausland, um die
Arbitrage unterschiedlicher komparativer institutioneller und
materieller Vorteile auszunutzen.
Im zweiten Fall stünde
die Erneuerung des institutionellen Rahmens der deutschen Wirtschaft
endgültig auf der Tagesordnung. Vor dem Hintergrund der
gegenwärtigen Diskussion stellte sich dann aber die Frage, ob das
deutsche Produktionsregime wirklich obsolet geworden ist, oder ob es
vielmehr systemimmanenter Reformen bedarf, um es an neue
Erscheinungsformen von Entwicklungen anzupassen, auf die es im Prinzip
seit langem ausgerichtet ist. Ausgeschlossen scheint dagegen, nur
einzelne Subsysteme gegen systemfremde `Module´ auszutauschen,
weil das Gesamtsystem in seinen einzelnen Komponenten eng miteinander
verzahnt ist und gerade aus diesen Synergien einen guten Teil seines
Erfolges herleitet.
Für den Mißerfolg
unternehmerischer Reformstrategien, die auf Importe aus dem
US-Produktionsregime setzen, wie dies in zahlreichen transnationalen
Unternehmen der Fall ist, gibt es bereits jetzt deutliche Anzeichen.
Nach einer ersten Phase bedingungsloser Anpassung an amerikanische
Usancen der corporate governance, der Finanzierung oder der industrial
relations beginnen deutsche Multis darüber nachzudenken, ob gerade
hier die Ursache für akute Probleme liegen könnte, die sie
gegenwärtig besonders hart treffen. Den deutschen
Großbanken, ein Zweig der Neuen Wirtschaft, der die Flucht aus
dem Portfolio der eigenen, historisch gewachsenen Branchenkultur in
den vergangenen Jahren forcierte, hat diese Strategie ebenfalls nicht
gutgetan. Was hier eingetreten ist, könnte auch der
Gesamtwirtschaft drohen, wenn sie ihr Portfolie durch selektive
Reformen überdehnt. Es ist den deutschen Banken trotz gewaltiger
Anstrengungen weder gelungen, erfolgreich im Investmentbanking
Fuß zu fassen, noch waren sie in der Lage, den Spagat zwischen
den Wirtschaftskulturen auszuhalten, ohne ihr traditionelles
Kerngeschäft zu vernachlässigen. Ein Wechsel des sozialen Systems der
Produktion müßte daher tiefer in die Identität der
deutschen Gesellschaft eingreifen, als dies den meisten Kritikern
bewußt ist, wenn sie eine Erneuerung an Haupt und Gliedern
fordern. Beispiellos wäre ein solcher Bruch in der deutschen
Wirtschaftsgeschichte aber nicht. Die Wilhelminische Epoche vermittelt
uns eine Vorstellung, wie ein Produktionsregime (die liberale
Marktwirtschaft) nach einer lange schwelenden Krise durch ein anderes
(die korporative Marktwirtschaft) rasch abgelöst werden kann,
aber auch von den Zerreißproben, denen eine Gesellschaft dann
ausgesetzt ist.
Es gibt allerdings keinen
Anlaß, die Fähigkeit der korporativen Marktwirtschaft, sich
auch die neueren Entwicklungen der Wissens- und
Informationsgesellschaft kreativ zu eigen zu machen, grundsätzlich
in Zweifel zu ziehen. Dafür spricht nicht nur die eigene
historische Erfahrung. Es gibt auch andere Beispiele, die zeigen,
daß ein ausgeprägter Sozialstaat, in dem kooperative
Arbeitsbeziehungen herrschen und der Staat eine zentrale Rolle auf dem
Gebiet der produktiven Ordnungspolitik spielt, durchaus in der Lage
ist, dem amerikanischen Modell auf seiner ureigenen Domäne Paroli
zu bieten. Finnlands Aufstieg zu einem der weltweit führenden
Anbieter von Informationstechnologien hat im vergangenen Jahrzehnt
deutlich werden lassen, daß es von sehr unterschiedlichen
Ausgangspunkten und institutionellen wie organisatorischen Varianten
der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung herkommend
möglich ist, einen hohen Stand der Technik und
Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Die Skandinavier mußten
dazu weder den Preis sozialer Ungleichheit entrichten, den das
kalifornische Vorbild zu fordern scheint, noch sich der
autoritären politischen Mittel bedienen, die Singapur und andere
südostasiatische Tiger-Staaten anwenden, um im
Wettbewerb der globalen new economy zu bestehen. Es ist ihnen im
Gegenteil gelungen, die Charakteristika des eigenen sozialen
Produktionssystems in komparative Wettbewerbsvorteile umzuwandeln. Ein
gewerkschaftlicher Organisationsgrad von 80 Prozent wie in
Finnland - muß nicht zwangsläufig im Widerspruch zu den
Gesetzmäßigkeiten der Neuen Wirtschaft stehen, sondern kann
ihr die Stabilität der Arbeitsbeziehungen garantieren, die eine
flexible Gestaltung unternehmerischer Strategien auf innovativen
Märkten erleichtert. Den Gewerkschaften bleiben im Gegenzug die
Sicherheit des Sozialstaates und die beschäftigungs- und
lohnpolitischen Vorteile einer wachsenden Wirtschaft. Eine
vergleichsweise hohe Belastung mit Steuern und Abgaben ist solange
produktiv und politisch erträglich, wie sie ein attraktives Niveau
sozialer Leistungen und eine hohe Lebensqualität für alle
Bürger ermöglicht, darüber hinaus aber auch noch die
Infrastruktur garantiert, die Menschen und Märkte brauchen, um
leistungsfähig zu sein. Der Sozialstaat muß nicht
zwangsläufig der Weiterentwicklung der Neuen Wirtschaft im Wege
stehen. Er kann ihr im Gegenteil auch neue Märkte öffnen, wie
das finnische Beispiel der Verbindung von Gesundheitswesen und
Informationstechnologie zeigt.
So sehr aber Finnland und
Deutschland sich im Muster des sozialen Produktionssystems
ähnlich sind, so sehr unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht.
Finnland hat seinen Aufstieg in die Weltspitze der
Informationstechnologie mit einem Cluster von mehr als 3000
IT-Unternehmen und zwei veritablen Weltunternehmen Nokia und
Linux im vergangenen Jahrzehnt aus der Position absoluter
Rückständigkeit und relativer Armut zuwege gebracht.
Deutschlands Problem liegt dagegen eher im Mangel an ökonomischen
Anreizen zu Reformen, der aus saturiertem Wohlstand und
Besitzstandsdenken resultiert. Die Voraussetzungen für Reformen
sind jedenfalls gegeben.
Das Wichtigste, das deutsche
Politik gegenwärtig braucht, ist deshalb ein klares Bild des
Portfolios der deutschen Wirtschaft. Was diese Wirtschaft leisten kann
und was nicht, ist weniger von heroischen Entscheidungen der Politik
(oder der wirtschaftlichen Eliten) abhängig, als von den
historisch gewachsenen Erfahrungen auf Märkten und mit
Organisationen, die als Unternehmens- oder Wirtschaftskultur die
Handlungsspielräume erfolgversprechender Strategien in den
Unternehmen und in der Wirtschaftspolitik abstecken. Aus der
Unternehmensforschung wissen wir, daß der Versuch, gegen die
eigene Unternehmenskultur aus einem gewachsenen Portfolio
auszubrechen, um auf schwächeren Märkten besser zu
reüssieren, fehlschlagen kann und in der Vergangenheit oft genug
gescheitert ist. Seit den 1990er Jahren konzentrieren sich deshalb die
meisten Konzerne auf ihr Kerngeschäft, um ihre Stärken
optimal nutzen zu können. Der Deutschland AG mit ihrer
mächtigen Wirtschaftskultur wäre dies auch zu empfehlen.
Langfristig akkumulierte Institutionen lassen sich zwar rasch
zerschlagen, neue Spielregeln und Organisationsformen der Wirtschaft
aber nur langsam aufbauen. Der Erfolg einer solchen Radikaloperation
bliebe zudem ungewiß.
Solange die deutsche
Innovationsmaschine nicht definitiv den Geist aufgibt, bietet sich
deshalb keine Alternative zu dem Versuch, sie von den in Jahrzehnten
angehäuften Schlacken und Lasten zu befreien und mit neuen, nicht
zuletzt auch demographischen Entwicklungen kompatibel zu halten. Dies
sollte den Blick der Reformer zunächst auf Fehlentscheidungen der
1970er Jahre lenken, die sich am anachronistischen industriellen
Weltbild der Wirtschaftswunderzeit orientierten.
Spätestens jetzt muß die schon damals fällige
Neuorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik an
nachindustriellen Verhältnisse nachgeholt werden.
Staatliche Innovationspolitik sollte zu Hause beginnen, d.h. mit der
Neubestimmung der Rolle des Staates in der Wirtschaft. Auch wenn die
deutsche Innovationsmaschine nicht ohne Einbettung in den kollektiven
Güterstrom produktiver Ordnungspolitik denkbar ist, so
heißt dies nicht, jeden historisch gewachsenen Wildwuchs
staatlichen Einflusses in der Wirtschaft bedingungslos zu akzeptieren.
Viele der wirtschaftlichen Aktivitäten des Staates, der Gemeinden
und der Gebietskörperschaften sind im 19. Jahrhundert unter
spezifischen Bedingungen entstanden, die inzwischen obsolet geworden
sind, so daß eine Fortsetzung dieses Engagements heute nicht mehr
ohne weiteres notwendig erscheint. Dies gilt für die
öffentliche Stromversorgung ebenso wie für den Verkehrs- und
Kommunikationssektor, die Banken und Sparkassen, das Gesundheitswesen,
die öffentliche und private Sicherheit und das weite Feld der
Bildung, Ausbildung und Forschung. Je mehr sich die
gesamtwirtschaftliche Nachfrage als Folge des sektoralen
Strukturwandels in diese in Deutschland traditionell weitgehend unter
staatlicher Regie stehende Sektoren der Wirtschaft verschoben hat und
immer noch zunimmt, desto weniger ist der Staat in der Lage, auf der
Angebotsseite angemessen zu reagieren. Die öffentliche Hand wird
durch vielerlei Beschränkungen daran gehindert, ihre
wirtschaftliche Tätigkeit den Marktbedingungen flexibel anzupassen
und deren Kapazität der steigenden Nachfrage entsprechend
auszuweiten. Die rechtlichen und mentalen Überreste eines
kameralistischen Rechnungswesens, fehlende Managementpraxis, ein
schwach entwickeltes Kostenbewußtsein, rechtliche und politische
Widerstände gegen eine freie Preisgestaltung für
öffentliche Güter und Dienstleistungen, vor allem aber
politische Grenzen der Finanzierung zusätzlicher Stellen aus
Steuern lassen den öffentlichen Sektor ungeeignet erscheinen,
gerade in den dynamischsten Bereichen der Wirtschaft weiterhin Regie
zu führen.
Privatisierung scheint in den
meisten Fällen ein probates Mittel zu sein, um Abhilfe zu schaffen
vorausgesetzt, sie findet ihre Grenzen dort, wo die
wirtschaftliche Rolle des Staates noch immer wichtig für die
Funktionsfähigkeit und Effizienz des sozialen Systems der
Produktion ist. Dies gilt beispielsweise für die Sparkassen, deren
Bindung an das Gemeinwohlprinzip und an regionale Aufgabenstellungen
nach wie vor unverzichtbar erscheint, um die flächendeckende
Finanzierung von Investitionen in einer so stark
mittelstandsorientierten und dezentralisierten
Volkswirtschaft, wie der deutschen, zu gewährleisten. Vor allem
aber läßt sich ein auf diversi-fizierte Qualitätsarbeit
ausgerichtetes Produktionsregime kaum ohne eine Ausbildungs- und
Forschungslandschaft denken, deren unbeschränkter Zugang
wirtschaft-liche Chancengleichheit und volle Mobilisierung und
Ausschöpfung des menschlichen Vermögens garantiert.
Elite-Universitäten bedarf es dazu nicht: die deutsche
Innovationsmaschine ist vielmehr auf einen hohen Qualitätsstand
der Ausbildung in der Breite angewiesen. Ist dieser erst gesichert,
könnten aber auch Elite-Universitäten nichts schaden. Auch
die Spitzenforschung gehört hierzulande seit langem zu den
institutionellen Grundlagen der der Innovationsfähigkeit des
sozialen Systems der Produktion.
Für einen Kurs, der sich
auf eine Entschlackung des institutionellen Rahmens konzentriert, seine
Eigenarten aber erhält und seine Wettbewerbsfähigkeit noch
betont, spricht auch die Realität einer globalen Wirtschaft, die
nach dem Ende des großen Antagonismus der Wirtschaftssysteme in
Ost und und West immer stärker von divergenten kulturellen
Faktoren bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund spricht vieles gegen
die Vorstellung, es gäbe nur einen Weg, der langfristig die
Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt sichert, weil er eine
homogene best practice unternehmerischen Handelns darstellt, in der
sich das liberale Ideal deregulierter Märkte und
uneingeschränkter unternehmerischer Prärogative
niederschlägt. Wir wissen vielmehr aus historischer Erfahrung,
daß unterschiedliche Marktbedingungen nach institutionellen
Varianten auf der Angebotsseite geradezu verlangen. Institutionell
starke, hoch regulierte Produktionsregime, wie sie in den meisten
europäischen Ländern bestehen, müssen daher im
Wettbewerb nicht zwangsläufig schlechter abschneiden als
Volkswirtschaften mit schwachen Institutionen, wie die USA, die sich in
Hinsicht auf ihre Organisation und Lenkungsfähigkeit vor allem auf
Märkte und Hierarchien verlassen. Deutsche Wirtschaftspolitik
sollte sich daher am Anfang des 21. Jahrhundert nicht in der Imitation
von Innovationsregimen erfolgreicher Wettbewerber erschöpfen,
sondern die eigenen komparativen institutionellen Vorteile kreativ
ausbauen.