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Gedanken zur deutschen Wiedervereinigung

von

Werner Abelshauser

(Ansprache im Bielefelder Rathaus am 2. Oktober 2000)

Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten kam für alle Beteiligten überraschend. Dies gilt sicher für den Fall der Mauer, wenngleich die Posaunenstöße von Leipzig und Prag nicht zu überhören waren. Überraschend schnell auch die Einigung der vier Mächte mit den beiden deutschen Staaten - nach nur drei kurzen Verhandlungsrunden. Es gibt wenige politische Ereignisse von vergleichbarer Bedeutung, die über alle Betroffenen so unerwartet hereingebrochen sind, wie das Ereignis, dessen wir heute nach 10 Jahren gedenken. Der deutsche Nationalstaat, von Bismarck in den Sattel gesetzt, von Hitler in Scherben geworfen, war - gegen alle Erwartungen - noch einmal davongekommen.

Vor diesem Faszinosum schießt die politische Phantasie hoch ins Kraut; und so wundert es nicht, daß über die Frage, wer oder was die deutsche Wiedervereinigung bewirkt habe, ein heftiger tagespolitischer Streit entflammt ist. Die Geschichtswissenschaft muß sich dieser Herausforderung stellen. Sie hat zu klären, ob die Wiedervereinigung ein zufälliges Nebenprodukt größerer Ereignisse war oder das Ergebnis langfristig angelegter Politik. Oder aber ein Drittes, zu dessen Realisierung sich notwendige und hinreichende Voraussetzungen glücklich fügen mußten. Für eine gründliche, historisch-analytische Bewertung ist es gewiß zu früh, nicht aber für den folgenden Versuch, die Debatte zu versachlichen.

Die Wiedervereinigung war gewiß ein Glücksfall der deutschen Geschichte - welcher Zeitzeuge würde dies leugnen - und doch ist sie den Deutschen nicht einfach in den Schoß gefallen. Denn ohne die Wirksamkeit bestimmter innen- und außenpolitischer Voraussetzungen wäre sie nicht denkbar gewesen. Außenpolitisch waren es die Westpolitik und die Ostpolitik der westdeutschen Bundesregierungen gleichermaßen, die notwendige Voraussetzungen schufen. Weder die eine noch die andere Doktrin der westdeutschen Außenpolitik hatte freilich die Wiedervereinigung direkt im Visier. Beide waren vielmehr dazu konzipiert, jene Handlungsspielräume wieder zu gewinnen, die durch die katastrophalen Folgen deutscher Weltmachtpolitik langfristig verloren schienen. Die westdeutsche Bereitschaft, sich vorbehaltslos in die NATO und den Prozeß der europäischen Integration einbinden zu lassen, wie sie die Regierungen Adenauer, Schmidt und Kohl erkennen ließen, rückte zwar die Wiedervereinigung selbst noch weiter in die Ferne, schuf aber auf lange Sicht im Westen die Vertrauensgrundlage, auf der die deutschlandpolitischen Entscheidungen des Jahres 1990 möglich wurden. Die Einbindung Deutschlands in den Westen führte uno actu auch zu Rückbindungen der westlichen Mächte an fundamentale deutsche Interessen, denen sich vor allem Frankreich im entscheidenden Moment nicht entziehen konnte. Auf Frankreich kam es aber an. Divide et impera war seit Jahrhunderten die Maxime französischer Deutschlandpolitik. Die Pariser Regierung hatte deshalb nach 1945 alle Ansätze deutscher Wirtschaftseinheit blockiert und strebte - wie London - seitdem eine europäische Friedensordnung auf der Basis zweier deutscher Staaten an. Erst Frankreichs Plazet zur Wiedervereinigung zwang - wie wir aus Margret Thatchers Memoiren wissen - die britische Regierung zum Einlenken. Zumal die Vereinigten Staaten in einem Machtzuwachs ihres deutschen Bundesgenossen nur Vorteile sahen.

Die mit der Ostpolitik der Regierungen Adenauer, Kiesinger und Brandt geschaffenen Voraussetzungen waren für die Öffnung der deutschen Frage nicht minder wichtig. Je mehr sich die Beziehungen zu den Staaten Ost-Mitteleuropas und zur Sowjetunion normalisierten und der westdeutsche Verzicht auf eine gewaltsame Revision der Teilung glaubhaft wurde, desto weniger eignete sich das deutsche Feindbild als Klammer für einen immer rissiger werdenden Ostblock. Die Neue Ostpolitik Willy Brandts hielt dann der osteuropäischen Opposition den Rücken frei und ließ auch im Osten die Angst vor deutscher Revanche verblassen. Am Ende - zur Regierungszeit Helmut Kohls - verlor die Vorstellung eines mächtigeren Deutschlands sogar für die Sowjetunion ihren Schrecken. Gorbatschow konnte sich von einem befreundeten Vereinigten Deutschland mehr materielle Hilfe und politische Unterstützung erwarten als von einem maroden ostdeutschen Vasallenstaat. Die deutsche Ostpolitik trug so dazu bei, den Kalten Krieg zu überwinden und erlaubte es der Sowjetunion, auf die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen innerhalb ihres Herrschaftsbereiches mit Reformen zu reagieren statt mit Repression oder gar Krieg.

Innenpolitisch haben führende Politiker der Union und der SPD in einer wirtschaftlichen und politischen Magnetisierung des Westens schon früh eine notwendige Voraussetzung der deutschen Einheit erkannt, die freilich - wenn überhaupt - erst am Ende eines langen Umweges wirksam werden konnte. Wirtschaftliche Prosperität und eine funktionsfähige, rechtsstaatliche Demokratie sollten Westdeutschland zu einem ökonomischen und politischen Magneten machen, gegen dessen Anziehungskraft der Einsatz des Machtapparats der SED auf die Dauer kein sicheres Mittel sein konnte. Daß diese Strategie nicht ohne Wirkung blieb, steht außer Zweifel, auch wenn im Westen materieller Wohlstand und politische Stabilität nationale Ambitionen eher gezügelt haben.

Jede dieser Voraussetzungen trug so auf ihre Art zur Schaffung eines permissiven Umfelds der Wiedervereinigung bei. Jede für sich stand jedoch in einem paradoxen Spannungsverhältnis zum deklarierten Verfassungsgebot. Sowohl die Westpolitik Adenauers als auch die Ostpolitik Brandts waren durchaus auch als strategische Alternativen zur Wiedervereinigung interpretierbar - und so haben es die Zeitgenossen ja auch mehrheitlich verstanden. Für den Magnetismus in der Deutschlandpolitik gilt ähnliches: je größer der Erfolg, desto entbehrlicher wurde - jedenfalls im Westen - das Ziel der Wiedervereinigung. Alle drei Strategien schufen zwar notwendige Voraussetzungen, keineswegs aber hinreichende oder gar zwingende Gründe für die Wiedervereinigung.

Diese herauszuarbeiten, war der westdeutschen Politik zu allerletzt vergönnt. Der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung, die zur Wiedervereinigung führte, muß vielmehr auf weltpolitischer Ebene gesucht werden. Die deutsche Teilung war eine Folge des Kalten Krieges. Mit dessen Ende hatte deshalb die deutsche Zweistaatlichkeit im Gleichgewichtssystem der internationalen Politik ihre zwingende Logik eingebüßt. Mehr noch: Mit dem Versagen vor den neuen wirtschaftlichen Herausforderungen am Ende der Industriegesellschaft verlor die Welt des realen Sozialismus nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch ihre gesellschaftliche Fortschrittsperspektive und den Glauben an ihre "historische" Überlegenheit. Beides zerstörte - vierzig Jahre nach ihrer Gründung - auch und gerade in der DDR die Legitimation realsozialistischer Herrschaft und das (seit 1971) auf sie gestützte Modell eines sozialistischen deutschen Nationalstaates. Dies um so mehr, als in der Bevölkerung der DDR die deutsche Frage immer offen geblieben und nationale Emotionen zwar unterdrückt, aber keineswegs verloren gegangen waren. Als ich 1983 in der Einleitung zu einer Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik schrieb "Die deutsche Frage ist offen. Sie scheint sich heute drängender zu stellen als noch vor Jahren" tat ich dies unter dem Eindruck meiner persönlichen Erfahrungen mit der DDR. Im Westen fand ich dafür wenig Verständnis. Anders in der DDR. Wer in den achtziger Jahren Gelegenheit hatte, innerhalb der DDR zu reisen und mit den Menschen zu sprechen, konnte 1990 über die Sprechchöre "Wir sind ein Volk" nicht überrascht sein. Wenn es auf dem Weg zur Wiedervereinigung Akteure gab, die dieses Ziel aktiv und mutig verfolgten, dann waren es die Menschen in der DDR, die in der weltpolitischen Konstellation der späten achtziger Jahre ihre Chance sahen und nutzten.

Von den Ereignissen zunächst nur getrieben, öffneten sich der Bundesregierung im Entscheidungsjahr 1989/90 immer größere Spielräume für deutsche Politik, um schrittweise dem Ziel der Wiedervereinigung näher zu kommen. Es galt den Kairos der internationalen Politik zu erfassen und zu nutzen, jenen Augenblick tiefster Erschütterung, der für kurze Zeit ungeahnte Chancen zu schöpferischer Gestaltung eröffnete. Niemand anderer als der deutsche Kanzler war vor diese Probe gestellt. Er hat sie bestanden. Dies spricht für ihn aber auch gegen niemanden anderen.

Diese Ausnahmesituation wird berücksichtigen müssen, wer über den Preis der Wiedervereinigung rechtet. Ich meine nicht nur jene 1.400 Mrd DM Schulden und den jährlichen Ost-Transfer von mehr als 100 Mrd. DM, die sich der Bund "vereinigungsbedingt" auflud, und die seine Handlungsfähigkeit heute begrenzen. Geschichtsmächtiger dürfte sich die rasche Einführung des Euro auswirken, die gegen deutsche Machtinteressen erfolgte und Europa seiner bis dahin erfolgreichen Ankerwährung beraubte: der Deutschen Mark. Der Euro wäre wohl früher oder später auch ohne die Kohlsche Morgengabe an Frankreich gekommen, dann aber unter anderen, möglicherweise günstigeren politischen Rahmenbedingungen. Und wo bleiben die "blühenden Landschaften"? Darüber werden wir gleich diskutieren müssen, wenn wir die Folgen betrachten. Ich will dem nicht vorgreifen.

Über allen diesen wichtigen und diskussionswürdigen wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen für die deutsche und die europäische Politik sollten wir an diesem Gedenktag aber ein wesentliches Ergebnis der Wiedervereinigung nicht vergessen - und damit möchte ich schließen: Mit dem Ende der deutschen Teilung kam für Deutschland auch das Ende der permanenten Kriegsgefahr. Diese Drohung war bitterer Ernst und hat immer auch den physischen Untergang Deutschlands impliziert. Vor allem auch in dieser Hinsicht ließe sich unsere Feier unter das Motto stellen: Wir sind noch einmal davongekommen.

Aus meiner Sicht ist dies der überzeugendste Grund, den 3. Oktober zu feiern.