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Liebling der Götter: Aufstieg, Glanz und Macht von Berthold Beitz

Deutschland feiert am kommenden Freitag einen seiner großen Unternehmer: Berthold Beitz war König des Reviers und Ratgeber der Politik. Er ist souveräner Erbe der Krupps.

von Werner Abelshauser, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. September 2003, S. 38-39.

 

Unter den Unternehmern und Managern, die den Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft nach den Zweiten Weltkrieg verkörpern und zu Ikonen des "Wirtschaftswunders" geworden sind, nimmt Berthold Beitz in vieler Hinsicht eine Sonderstellung ein. Er gehört nicht zu den Repräsentanten des alten Establisments, die nach 1945 mit wenigen Ausnahmen in leitenden Funktionen geblieben waren. Er kommt auch nicht – wie etwa der spätere Krupp-Generaldirektor Ernst-Wolf Mommsen - aus Albert Speers "Kindergarten", jener Gruppe junger, dynamischer und robuster Manager, die dem deutschen "Rüstungswunder" den Weg geebnet und dann auch das unternehmerische Gesicht des "Wirtschaftswunders" geprägt haben. Obwohl er ebenfalls mit beiden Beinen im Sumpf der Kriegswirtschaft steckte, ist er darin nicht untergegangen. Opportunismus, dessen Gift den Charakter seiner Generation von Wirtschaftsführern zersetzte, war ihm fremd. Im Gegenteil: Er nutzte seine Tätigkeit in der Kriegswirtschaft, um möglichst vielen Zwangsarbeitern das Überleben zu ermöglichen – eine Haltung von der er wenig Aufheben machte, die aber nach und nach von allen gewürdigt wurde. Er gehört deshalb zu den wenigen, die nach 1945 den Neuanfang der deutschen Wirtschaft auch verkörpern konnten. Sein Aufstieg vom kaufmännischen Leiter eines Rüstungsbetriebes, der im besetzten Ostgalizien nach Öl bohrte, zum Generaldirektor der Hamburger Iduna-Germania Versicherung ließ schon ahnen, daß er seine Befähigung zum Wirtschaftskapitän nicht der fachlichen Ochsentour des Managements, sondern vor allem den persönlichen Qualitäten verdankte, die einen Unternehmer ausmachen. Beitz besaß schon früh die Fähigkeit, schwierige Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen, hatte sich ein Netzwerk von Informations- und Kommunikationskanälen aufgebaut und verfügte über Charisma, das ihm hohe Durchsetzungsfähigkeit verlieh.

Für Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, der den gerade vierzigjährigen Beitz 1953 zu seinem Generalbevollmächtigten berief und damit zum Herrscher über Deutschlands weltweit bekanntestes und zeitweise auch größtes Industrieunternehmen, waren diese Eigenschaften wohl gar nicht so entscheidend. Für ihn, den introvertiert nachdenklichen und öffentlichkeitsscheuen Alleininhaber des Krupp-Konzerns verkörperte Beitz alles, was ihm selbst fehlte, um in der düsteren, politisch aufgeladenen Atmosphäre des Reviers zu bestehen: die Lockerheit und Gelassenheit im Umgang mit der Öffentlichkeit und die begründete Selbstsicherheit, dem politischen Druck, der auf der früheren "Waffenschmiede der Nation" lastete, aktiv zu widerstehen. Vor allem aber stimmte "die Chemie". Von Anfang an herrschten uneingeschränktes Vertrauen und Loyalität im Verhältnis der beiden ungleichen Persönlichkeiten.

Beitz war in der Nachkriegslandslandschaft des Reviers sicher eine Ausnahmeerscheinung. Und doch wurden er und der Krupp-Konzern seit den fünfziger Jahren mit den gleichen Problemen konfrontiert, wie sie auf die westdeutsche Wirtschaft im allgemeinen zukamen. Die Kunst, richtige unternehmerische Entscheidungen zu treffen, lag in der gleichzeitigen Bewältigung kurz- und langfristiger Herausforderungen, die scheinbar nach sich zum Teil wiedersprechende Strategien verlangten. Einerseits war in langfristiger Perspektive klar, daß Deutschland zu den Pionieren der nachindustriellen Neuen Wirtschaft gehörte, in der Wissen und andere immaterielle Produktionsfaktoren, aber auch offene Weltmarktorientierung den Erfolg garantierten. Auf diesen Entwicklungspfad mußten die Unternehmen zurückkehren, nachdem Weltkriege und Weltwirtschaftskrisen von ihm weggeführt hatten. Andererseits waren in der Zeit des Wiederaufbaus gerade materielle Güter gefragt, so daß das Festhalten an klassischer altindustrieller Produktion wie Kohle und Stahl ebenfalls rational erschien.

Dem Krupp-Konzern mußte dieser Spagat besonders schwer fallen. Die Montanindustrie war eng mit der Unternehmenskultur der Kruppianer verwoben. Der Wunsch Alfried Krupps, den ihm von den Siegermächten aufgezwungenen Verzicht auf ein dauerhaftes montanindustrielles Engagement zu unterlaufen und "Stahlkonzern" zu bleiben, stieß deshalb weit über Essen hinaus auf Verständnis. Aber nur ein Berthold Beitz, dessen Integrität nicht in Frage stand, war in der Lage, das Katz und Maus-Spiel um die Verkaufsauflagen zu gewinnen. Am Ende hatte er die Montangrundlage des Essener Konzerns nicht nur gefestigt, sondern durch die Akquisition des Bochumer Vereins für Gußstahlfabrikation sogar noch erweitert, bevor die alliierten Auflagen 1968, nach dem Tode des Inhabers, stillschweigend von der politischen Agenda verschwanden.

Aus ökonomischer Perspektive wäre es wohl klüger gewesen, die Auflagen rasch zu vollstrecken und den Weg in die Neue Wirtschaft ohne schwerindustriellen Ballast fortzusetzen. Spätestens nach Ausbruch der zehnjährigen Kohlenkrise (1958-1968) war offenkundig, daß Krupp für die Erhaltung seiner alten Industrien einen hohen Preis zahlen mußte. Es ging Beitz im Gleichklang mit Alfried Krupp aber hier, wie bei vielen anderen unternehmerischen Entscheidungen, nicht allein um Gewinnmaximierung. Bevor nicht die Kruppsche Unternehmenskultur wiederhergestellt war, erschien beiden der Versuch einer zukunftsorientierten Neuorganisation des Konzerns weder sinnvoll noch erfolgversprechend.

Rüstung gehörte in Essen nach einem langen Lernprozess nicht mehr zur Unternehmenskultur. Auch diesen neuen Kurs verkörperte Berthold Beitz sehr glaubhaft. Der Konzern hatte schon in den zwanziger Jahren damit begonnen, aus der Rüstungsfalle auszubrechen, die ihn an die alte Industrie zu fesseln drohte. Am Ende des Zweiten Weltkrieg hatte sich diese Befürchtung dennoch erfüllt. Umso entschlossener vollzog Beitz nun die Abkehr vom Rüstungsgeschäft. Als westdeutsche Rüstungsplaner 1955 bei Krupp anklopften, um den Konzern zur Mitarbeit beim Aufbau der Bundeswehr zu gewinnen, stießen sie dort auf besonders entschiedene Ablehnung.

Statt auf Rüstung setzte man in Essen nun auf industrielle Maßschneiderei und immaterielle Blaupausenproduktion. Das neue Flaggschiff des Konzerns war der Anlagenbau mit der Spezialisierung auf die Projektierung von Großanlagen. Sein Repertoir reichte von maßgeschneiderten Einzelmaschinen über schlüsselfertige Fabrikanlagen und kühne Brückenbauten bis hin zur Planung und Realisierung komplexer Infrastrukturprojekte. Dazu hatte sich der Konzern systematisch arrondiert und vor allem jene Teile neu hinzugefügt, die 1945 verlorengegangen waren.

Mit der Devise "Alle Arbeiten und Aufträge hereinholen, wie sie sich uns bieten" schlug Beitz weit über den Krupp-Konzern hinaus ein Leitmotiv des westdeutschen Wirtschaftswunders an. Die boomende Nachfrage auf den Rekonstruktionsmärkten Deutschlands und Europas schien alles möglich zu machen, wenn ein Unternehmen nur beherzt die Chancen ergriff. Für Beitz gab es kaum geographische, technische oder politische Grenzen, um die Erzeugnisse des Kruppschen Anlagebaus an die Kunden zu bringen. Ob dies im Interesse der westdeutschen Außenpolitik lag, wie die Unterstützung des Erhardschen Globalisierungskurses mit dem Bau eines Musterstahlwerks im indischen Rourkela, oder das Mißtrauen der Bundesregierung und der Westmächte weckte, wie im Falle des Osthandels mit der Sowjetunion oder Polen, schien Beitz nicht zu kümmern. Kein Wunder, daß seine expansiven Strategie die Konkurrenz schockierte und in England das alte Krupp-Trauma wiederbelebte. Spektakuläre technische Leistungen, wie der Bau der Tauchkugel, mit der Jacques Pickart die Tiefen des Meeres erforschte, trugen zum Mythos Krupp ebenso bei wie die typischen Produkte der Essener Kanonenschmiede vor 100 Jahren.

Mit der Kruppschen Osthandelspolitik knüpfte Beitz an eine Tradition des Hauses an, deren Wiederbelebung angesichts lukrativer Märkte hohen Gewinn versprach. Der gute Klang des Namens Krupp hatte dort unter der Last der Vergangenheit wenig gelitten. Auch ohne dies ausdrücklich zu wollen, trug Beitz deshalb zur Verständigung der Völker bei, wenn er lange vor der großen Politik das Gespräch mit Moskau und Warschau suchte. Es konnte auf die Dauer auch nicht ausbleiben, daß er bei mancher Gelegenheit die Rolle eines Sonderbotschafters übernahm, nachdem er lange für seine angebliche Nebenaußenpolitik gescholten worden war. Adenauer zweifelte noch 1958 öffentlich an der "nationalen Zuverlässigkeit des Herrn Beitz". Als Nikita Cruschtschow auf der Leipziger Frühjahrsmesse des Jahres 1959 "auf das Wohl des Hauses Krupp" sein Glas erhob, erlebte die Beitzsche Osthandelspolitik unter den Augen der Weltöffentlichkeit ihren Durchbruch. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg wuchs aber auch das Risiko politischer Unwägbarkeiten und mangelnder Absicherung im Ostgeschäft. Es war kein Zufall, daß nur wenige westdeutsche Großkonzerne bereit waren, die Kruppsche Osthandelspolitik voll mitzugehen. Die BASF, deren Kooperation Beitz anstrebte, wollte sich beispielsweise weder im Ostgeschäft engagieren, noch Partner in anderen – wie es schien – allzu riskanten Projekten des Anlagenbaus werden.

Anfang der sechziger Jahre, am Ende der günstigen Wachstumsbedingungen der Nachkriegszeit, zeigten sich erste Zeichen einer schweren Finanzkrise. Umsatzrückgänge und Krisen der Montanwirtschaft ließen zusammen mit politischen Spannungen die Bäume nicht weiter in den Himmel wachsen. Es rächte sich nun, daß der Krupp-Konzern das ungestüme Vorpreschen seines Lenkers finanziell nicht konsolidiert hatte. Seit Hitler das Unternehmen 1943 zu einer Art industriellem Erbhof umgewandelt hatte, besaß es die Rechtsform eines Tante Emma-Ladens. Ohne öffentliche Berichtspflicht fehlte aber der Druck, wenigstens intern eine aussagefähige Konzernbilanz aufzustellen. Der Blindflug hatte Folgen. Die Summe der Verbindlichkeit an der Gesamtbilanz stieg zwischen 1963 und 1967 von 30 auf 70 vH. Allein 270 Gläubigerbanken mußten bei Laune gehalten werden, um die Liquidität des Konzern zu garantieren. 1967 konnten nur noch staatliche Millionenbürgschaften den Verlust von 100.000 Arbeitsplätzen abwenden. Der Preis dafür war hoch. Alfried Krupp und sein Generalbevollmächtigter mußte ihre wirtschaftliche Entscheidungsgewalt an einen "Verwaltungsrat" abgeben, der die Sanierung durchführen und den Konzern in eine Aktiengesellschaft oder GmbH umzuwandeln hatte.

Bei der Bewältigung dieser Krise wandelte sich Berthold Beitz von einem Wirtschaftskapitän, wie ihn das Wirtschaftswunder in großer Zahl hervorbrachte, in eine Unternehmerpersönlichkeit von großem Format. Es gelang ihm die auch für ihn persönlich demütigende Situation sowohl für den Konzern als auch auch für sich selbst zum Guten zu wenden. Er überzeugte Arndt von Bohlen und Halbach mit Geld und guten Worten von der Notwendigkeit, auf sein Erbe zu verzichten und öffnete damit den Weg zur Gründung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. An deren Spitze nahm er nach dem Tod des Firmenchefs als dessen Testamentvollstrecker weiter Einfluß auf den Kurs des Konzerns. 1970 gelang es ihm sogar, Hermann Josef Abs als Vorsitzender des Aufsichtsrats der neugegründeten Fried. Krupp GmbH nachzufolgen und erneut an die Spitze des Konzern zu treten.

Kein Wunder, daß Abs in seinem Nachfolger und langjährigen Weggefährten den "Liebling der Götter" sah, dem letzten Endes alles gelang, was er anpackte. Mit der Stiftungslösung, die bis heute annähernd eine halbe Milliarde Euro für gemeinnützige Zwecke mobilisiert, gleichzeitig und vor allem aber die Kapitalgrundlage des Konzerns verbreitert hat, schien Beitz das Vermächtnis Alfred Krupps zu erfüllen. Der "Kanonenkönig" hatte in seinem Generalregulativ von 1872 die Einheit des Unternehmens ausdrücklich in den Dienst des Gemeinwohls gestellt. Für den Historiker Lothar Gall könnte der Stiftungsgedanke sogar darüber hinaus zu einem Zukunftsmodell werden, das dem Gemeinwohlpostulat des Grundgesetzes neue Impulse geben könnte.

Nach einer Kapitalbeteiligung des Iran und den Fusionen mit Hoesch und Thyssen fiel der Anteil der Stiftung an der heutigen ThyssenKrupp AG zwar auf unter 20 vH, doch vertritt Beitz damit noch immer den mit Abstand größten Einzelaktionär des größeren Konzerns. Es ist nicht zuletzt ihm zu verdanken, daß Ikonen der alten Industrie, wie Hoesch, Thyssen und Krupp ihren Weg in die Neue Wirtschaft gefunden haben und heute den Löwenanteil ihrer Wertschöpfung in der immateriellen Produktion verdienen.