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DER GROSSE SCHNITT

Vor dreißig Jahren wurde die Deutsche Mark geboren; heute ist sie eine der härtesten Währungen der Welt. Begann mit ihr das Wirtschaftswunder?

von Werner Abelshauser, in: DIE ZEIT, 16. Juni 1978, S. 23.

 

 

"Es ist schon fast wie ein Wunder", kommentierte schon im August 1948 der Oberdirektor des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, "Bizonen-Kanzler" Hermann Pünder (CDU), die wirtschaftliche Entwicklung nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948. Die Legende vom "Wirtschaftswunder" war geboren. In der Erinnerung der Deutschen markiert weder die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 noch die Konstituierung des Bonner Parlaments am 7. September 1949, sondern die Währungsreform den entscheidenden Neubeginn in Wirtschaft und Staat nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.

Zu Unrecht: Als die Währungsreform am 20. Juni durchgeführt, als am 24. Juni mit dem "Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform" ein entscheidender Schritt in Richtung Marktwirtschaft gemacht und als im Oktober 1948 die ersten Lieferungen aus dem Marshallplan in deutschen Häfen gelöscht wurde, war der Wiederaufstieg der westdeutschen Wirtschaft schon seit Monaten in vollem Gange. Durch die Währungsreform wurde das Wachstum der industriellen Erzeugung nicht einmal wesentlich beschleunigt. Umgekehrt aber wäre der Währungsschnitt ohne den stetigen Wirtschaftsaufschwung seit dem Herbst 1947, der die Lager füllte, zum Scheitern verurteilt gewesen. Nicht die Währungsreform steht daher am Beginn des westdeutschen Wirtschaftsaufstiegs. Ein erfolgreicher Aufschwung hat die Geburt der D-Mark am 20. Juni 1948 erst möglich gemacht.

An jenem "Schicksalstag des deutschen Volkes" (Ludwig Erhard) wurden 93,5 Prozent des entwerteten Reichsmark-Volumens von den Westalliierten aus dem Verkehr gezogen - der radikalste Währungsschnitt der deutschen Geldgeschichte. Zur Verblüffung der Öffentlichkeit tauchten in den Läden noch am selben Tag wieder massenhaft jene Waren auf, die für Reichsmark-Besitzer vorher nicht zu haben waren. Dieser Schaufenstereffekt war es, der auch erfahrene Beobachter wie den französischen Währungsexperten Jacques Rueff - damals Vorsitzender der internationalen Reparationskommission - zu kühnen Einschätzungen hinriß: "War schon der Umfang dieses Wiederaufstiegs erstaunlich, so noch mehr seine Plötzlichkeit. Er setzte auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens auf den Glockenschlag mit dem Tag der Währungsreform ein."

In Wahrheit hatte die Glocke schon im Laufe des Jahres 1945 wieder geschlagen. Schon bald nach dem absoluten Tiefstand der Produktion im zweiten Quartal 1945 setzten systematische Bemühungen der angelsächsischen Besatzungsmächte ein, die wirtschaftliche Aktivität in ihren Zonen wieder in Gang zu bringen. Während die Briten - sei es aus Weisheit, sei es aus Unvermögen - keine offiziellen Richtlinien formuliert hatten, war die amerikanische Militärregierung am Anfang mit dem Verbot Washingtons konfrontiert, "Maßnahmen zu ergreifen, die a) die wirtschaftliche Wiederaufrichtung Deutschlands oder b) die Aufrechterhaltung oder Stärkung der deutschen Wirtschaft zum Ziele haben".

Lucius D. Clay, der amerikanische Militärgouverneur, forderte jedoch schon im Mai 1945 die Modifikation der Direktive, damit "so rasch wie möglich ein positives Programm entwickelt werden" könne. Washington gab nach - ohne jedoch die Richtlinien der amerikanischen Deutschlandpolitik offiziell zu revidieren.

Tatsächlich nahm die Produktion in beiden Zonen ohne Unterbrechung durch den Winter bis Ende 1946 schnell zu. Die industrielle Erzeugung hatte zu diesem Zeitpukt bereits mehr als vierzig Prozent des Standes von 1936 erreicht. Damit war aber bei weitem nicht alles ausgeschöpft, was die Bizonenwirtschaft aus dem Stand heraus produzieren konnte. Die Ausgangsbedingungen für einen schnellen Wiederaufbau waren wider Erwarten nicht ungünstig. 1946 gab es im Gebiet der Bizone kaum weniger Erwerbspersonen als am Vorabend des Weltkrieges. Die Kapitalausstattung war in den Jahren 1936 bis 1945 trotz Bombenkrieg sogar um zwanzig Prozent gewachsen. Das Ausmaß der Zerstörungen ging nicht über die Zahl der industriellen Anlagen hinaus, die während des Krieges neu hinzugekommen waren. Auch war die altersmäßige Zusammensetzung der Anlagen und ihr Gütegrad 1945 außerordentlich günstig - eine paradoxe Folge der gewaltigen Investitionen in die Rüstungsindustrie vor und während des Krieges.

Für den Zusammenbruch des ersten Wirtschaftsaufschwungs im Winter 1946 sind daher weder Arbeitskräftemangel noch Kapazitätsengpässe in der Industrie verantwortlich. Paradoxerweise brachen die Rekonstruktionsbemühungen der Alliierten vorerst zusammen, weil die industrielle Entwicklung zu schnell voranging - zu schnell gemessen an den Fähigkeiten des Transportsystems, die Industrie hinreichend mit Rohstoffen und Zwischenprodukten - insbesondere Kohle - zu versorgen. Während nämlich die Auswirkungen des Bombenkrieges auf Kapazität und Produktion der Industrie erstaunlich gering geblieben waren, hatten die Alliierten das Verkehrsnetz nachhaltig zerstört.

Die Überwindung der Transportkrise im Jahre 1947 erforderte daher die größte organisatorische Anstrengung, brachte aber auch den größten Erfolg der bizonalen Wirtschaftsverwaltung in der Phase der Wirtschaftslenkung. In einer umfassenden Ooperation wurde "auf Wunsch der Besatzungsmacht" ein Großteil der zentralbewirtschafteten Ressourcen in diesen Sektor geleitet.

Der Erfolg war durchschlagend. Im folgenden Winter 1947/48 konnte die Kohleversorgung erheblich verbessert werden. Die internen Lageberichte der Wirtschaftsverwaltung erinnerten im Stil nun immer häufiger an die Sondermeldungen vergangener Kriegsjahre: "Die Produktionszunahme erfolgt auf weiter Front." Der im Herbst 1947 begonnene erneute Wirtschaftsaufschwung kam nicht mehr ins Stocken - bis kurz vor der Währungsreform. Im Mai 1948 nahm die Zurückhaltung wichtiger Industriezweige im Hinblick auf die erwartete Währungsreform gefährlich zu. Ein erheblicher Teil der Produktion verschwand in die Lager.

Der Flucht in die Hortung war am 21. April 1948 eine Grundsatzrede des Direktors der Verwaltung für Wirtschaft, Ludwig Erhard, vor dem Frankfurter Wirtschaftsrat vorausgegangen, die von der Industrie unter den gegebenen Verhältnissen als Aufforderung zum Horten verstanden werden mußte. Erhard sprach im Hinblick auf Währungsreform und Marshallplanhilfe von der "entscheidenden Stunde, da sich völlig neue Perspektiven abzeichnen", und glaubte verpflichtet zu sein, seine "Bedenken gegen eine über das volkswirtschaftlich berechtigte Maß hinausreichende Entleerung der Lager und gegen die Preisgabe unserer letzten volkswirtschaftlichen Güterreserven anmelden zu müssen".

Danach mußte auch dem letzten Unternehmen klar sein, daß die Währungsreform unmittelbar vor der Tür stand und die Wirtschaftsverwaltung eine selbst über das bisher schon praktizierte Maß hinausgehende Hortbildung tolerieren würde. Aus bisher illegalen Transaktionen waren über Nacht von höchster deutscher Stelle eingesegnete "volkswirtschaftliche Güterreserven" geworden.

Kein Wunder, daß die Erwartungen der bevorstehenden Währungsreform ihre Schatten auf die amtliche Produktionsstatistik warf. War bisher schon ein beträchtlicher Teil der Produktion den Behörden verschwiegen und damit der Bewirtschaftung entzogen worden, mußte dieser Effekt jetzt die amtliche Produktionsstatistik völlig verzerren. Mißt man die Produktionsentwicklung vor und nach der Währungsreform dagegen am Energieverbrauch in der Industrie, wird deutlich, daß der oft zitierte steile Anstieg der Produktionskurfe nach dem 20. Juni 1948 nur in der amtlichen Statistik stattfand.

Die Einschätzung der Währungsreform als Schnittstelle zwischen Licht und Schatten der westdeutschen Nachkriegsgeschichte ist daher ebenso populär wie falsch. Jedenfalls findet sich dafür in der Produktionsentwicklung kein Beleg. Auch war es durch Konzentration aller Kräfte auf die Engpässe schon vorher gelungen, Produktionsapparat und Infrastruktur wieder instand zu setzen. Selbst die Erfassung von Nahrungsmitteln in der Landwirtschaft - ein besonders trostloses Kapitel der Nachkriegszeit - war soweit verbessert worden, daß noch vor der Währungsreform die Brotration von sieben- auf zehntausend Gramm erhöht werden konnte. Hilfe von außen gab es bis zu diesem Zeitpunkt kaum. Militärregierungen und deutsche Wirtschaftsverwaltung mußten die desolate Wirtschaft mit Bordmitteln wieder flottmachen. Bei den gewerblichen Erzeugnissen gelang es allerdings, die Einfuhr noch vor der Währungsreform zu erhöhen und aus Exportüberschüssen zu bezahlen.

Anders bei den Nahrungsmitteln. Vor allem die Welternährungskrise bis 1948 machte es in den Augen der US-Regierung unvermeidlich, daß "Deutschland als besiegtes Feindland sich am Ende der Schlange von Ländern, die Anspruch auf Lebensmitteltransporte haben, aufstellen" mußte. Freie Nahrungsmittelimporte wurden nicht genehmigt, obwohl Devisen vorhanden waren, sie zu bezahlen. Die amerikanischen Getreidelieferungen aus Mais, Graupen und Sojamehl charakterisierte der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Johannes Semler (CSU), ein Vorgänger Ludwig Erhards, zutreffend als "Hühnerfutter", für das die "Deutschen teuer zu zahlen hätten. Unter diesen Bedingugen blieb die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern mehr als mangelhaft, während die Produktionsgüterindustrie zum Teil schon wieder das Vorkriegsniveau erreicht hatte.

Hier schaffte die Währungsreform Abhilfe. Wer genug D-Mark hatte, konnte sich jetzt bei steigenden Preisen wieder mit den langentbehrten Konsumgütern eindecken. Hier liegt die eigentliche Faszination der Währungsreform. aber sie zeigte auch langfristige Wirkungen. Zugunsten des Konsums ging der Ausbau der Infrastruktur und Produktionsgüterindustrie jetzt nur noch langsam voran. Die Lenkungsbefugnis über knappe Ressourcen ging von der Ministerialbürokratie auf die Banken über. Die Grundlagen für die spätere Einkommens- und Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland war gelegt.