Buchbesprechung


Die Datenbank des "Reichsmarschalls"

"Goering's Atlas" gibt ein Bild von Deutschlands Rohstoffen und Industriekapazitäten im Jahre 1944

(Die Welt vom 30.10.2004)

von Sven Felix Kellerhoff 

Ungeahnte Schätze liegen in öffentlich zugänglichen Bibliotheken und Archiven. Doch um sie zu heben, muß man zunächst ihren Wert erkennen. Gerade daran mangelt es häufig - was nicht weiter überrascht angesichts der oft extrem nüchternen Katalogisierung, die nun einmal typisch für Archivare und Bibliothekare ist.

Einen solchen Fund haben jetzt der Archiv-Verlag Braunschweig und der Bielefelder Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser gemacht: die Ressourcen-Karten von Hermann Göring, dem "zweiten Mann" des Dritten Reiches. Ein sorgfältiger, ausschließlich im Versand erhältlicher Reprint des überformatigen Werkes ist jetzt vorgestellt worden (178 Euro, Tel. 0531/12 22 111). Er macht das zeithistorisch bedeutende Material erstmals überhaupt für die Forschung und die Öffentlichkeit greifbar.

Und das, obwohl seit Jahrzehnten ein Exemplar von "Goering's Atlas" in den endlosen Regalen der Library of Congress in Washington liegt. Allerdings völlig unbeachtet. Nie hat sich jemand für den Band interessiert; in keiner der zahlreichen Studien zur Wirtschaftsgeschichte Nazi-Deutschlands wird er erwähnt, geschweige denn ausgewertet. Als im vergangenen Jahr ein weiteres Exemplar des deutsch-englischen Bandes im Nachlaß eines Hamburger Kaufmanns auftauchte, wußte daher zunächst keine der zuständigen Institutionen damit etwas anzufangen: weder das Bundesarchiv noch das Militärgeschichtliche Forschungsamt, weder das Institut für Zeitgeschichte noch das Westfälische Wirtschaftsarchiv.

Der Band mit dem schlichten, wenn auch vielleicht etwas martialischen Titel enthält 33 teilweise ausklappbare Karten, auf denen detailliert die genutzten Rohstoffvorkommen und die Industriekapazitäten im deutschen Machtbereich eingezeichnet sind. Allein diese Werte sind für Abelshauser eine Sensation, denn sie geben den Stand von Anfang 1944 wieder. Bisher hatte man genaue Daten über die Wirtschaftskraft von Hitlers Reich nur auf dem Stand von 1938 und war für alle weiteren Angaben auf Schätzungen angewiesen. Der Wirtschaftshistoriker hat dennoch die Größenordnungen der Angaben in "Goering's Atlas" mit den verfügbaren Zahlen verglichen und hält sämtliche Angaben für plausibel.

Die Bedeutung des Fundes geht aber weit über diese neuen Detailinformationen hinaus. Denn erstens weist viel daraufhin, daß identische oder jedenfalls auf denselben Daten beruhende Karten die Grundlage für die Rüstungsbesprechungen zwischen Hitler und Speer waren. Die entsprechenden Protokolle sind erhalten, Speers Karten dagegen verschollen.

Zweitens hat dieses Kartenwerk direkt "Geschichte gemacht". Abelshauser ist überzeugt, daß der Wechsel in der Europapolitik der USA 1946 wesentlich von diesem Kartenwerk beeinflußt wurde. Damals, als der Kalten Krieg in der Viermächtestadt Berlin sich schon ankündigte, entschied die Regierung Truman, den wirtschaftlichen Wiederaufbau Westeuropas unter Einschluß Westdeutschlands voranzutreiben - und nicht, wie es etwa die Sowjets in ihrer Zone taten, auf Kosten der Kriegsverlierer.

Für diese Deutung spricht neben anderen Indizien der verworrene Weg, den die Karten genommen haben: Entdeckt wurden sie in Görings Salonwagen im Bahnhof Berchtesgaden. Dorthin hatte sich der "Reichsmarschall" aus dem umkämpften Berlin gerettet, und von hier aus wollte er am 23. April 1945 Hitler ablösen. Bei sich hatte er wichtige Unterlagen, die er als Grundlage für seinen Anspruch nutzen wollte, Deutschland nach Hitlers Ende zu regieren - eben auch die jetzt erstmals publizierten Karten. Dazu kam es nicht, weil Hitler den abtrünnigen Paladin umgehend von der SS verhaften ließ und Göring wenige Tage später in den Gewahrsam von US-Truppen geriet.