Rede Werner Abelshausers
anläßlich der Verleihung des A.SK Social Science Award an Sir Antony Atkinson in der Französischen  Friedrichsstädter Kirche am Berliner Gendarmenmarkt am 4. Dezember 2007

                                                          

Der A.SK Social Science Award des WZB

im wissenschaftlichen Kontext

 

„Aller Anfang ist schwer.“ Dieses alte chinesische Sprichwort gilt auch für den A.SK Social Science Award. Angela und Shu Kai Chan haben den Preis 2007 gestiftet. Er wird im Zweijahresrhythmus vom Wissenschaftszentrum Berlin vergeben. Ein Preis, der zum ersten Mal verliehen wird, muß zunächst einmal seine Position im Koordinatensystem der Sozialwissenschaften bestimmen. Die Stifter haben die Auswahl der preiswürdigen Personen an den Stiftungsauftrag gebunden, der am ausführlichsten in der Monographie des Stifters „Sozialer Kapitalismus“ niedergelegt ist.[1] Demnach will der Preis Ideen für radikale Reformen am wirtschaftlichen und politischen System ermutigen. Sie seinen nötig, um den tief greifenden Umwälzungen gerecht zu werden, die bestehende Systeme, wie den Industriekapitalismus oder den Staatskommunismus schon lange obsolet machen. Die Radikalität der Reformideen, die der Preis fördern will, legitimieren die Stifter aus der täglichen Herausforderung an die Praxis von Wirtschaft und Politik. Sie wissen aber auch um die revolutionäre Kraft wissenschaftlichen Denkens, die in der Vergangenheit immer wieder vollständig neue Verhältnisse geschaffen hat. In dieser Tradition ist der A.SK Social Science Award in einen dreifachen wissenschaftlichen Kontext eingebettet. Sein Anspruch läßt sich idealiter aus wirtschaftswissenschaftlicher, wissenschaftstheoretischer und universalhistorischer Perspektive begründen.

            In seiner wirtschaftswissenschaftlichen Analyse geht der Stiftungsauftrag von einem Umbruch der wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlagen der Menschen aus, der die Zäsur der industriellen Revolution des späten 18. Jahrhunderts weit übertrifft und neue wirtschaftliche und politische Institutionen notwendig macht. Die nachindustrielle Epoche mit ihren Kennzeichen der Verwissenschaftlichung der Produktionsweise und der weltweiten Verflechtung der Märkte verlangt nach einem radikalen Umbau der Industriegesellschaft, weil diese den neuen Herausforderungen nicht mehr gerecht wird. Die Analyse der Stifter spiegelt sich in dem neuen Paradigma der Wirtschaft wieder, das vor allem von Douglass C. North, einem der Begründer der New Institutional Economics, entwickelt worden ist.[2] Der Nobelpreisträger hat diese neue Epochenzäsur als „Zweite Wirtschaftliche Revolution“ hervorgehoben und an sie weit reichende Konsequenzen für den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft geknüpft. Das umfassende wirtschaftstheoretische und wirtschaftspolitische Instrumentarium, das die Institutionenökonomik daraus ableitet, ist geeignet, solche Reformen zu identifizieren, die dieser Umwälzung gerecht werden.

            Der Stifter hat das akademische Echo auf diese institutionelle Revolution ganz aus der Nähe verfolgen können, als er in den dreißiger Jahren in Deutschland Volkswirtschaft studierte. Er konnte dort den institutionenökonomischen Fragen der einst als „Kathedersozialisten“ verspotteten sozial-konservativen wirtschaftswissenschaftlichen Ordinarien in seinem Studium gar nicht ausweichen. Aber auch die Debatte um die Reform des Wirtschaftsliberalismus ließ ihn nicht unberührt. Sie beherrschte die akademische Szene jener Zeit und brachte unter anderem das Konzept der Soziale Marktwirtschaft hervor. Sowohl die „Kathedersozialisten“ mit ihrer Sehnsucht  nach sozialem Kapitalismus als auch die Väter der Sozialen Marktwirtschaft haben das Denken und Handeln des Stifters seitdem wesentlich beeinflusst. ‚Weder Kapitalismus noch Kommunismus’ lautet eine dieser Anregungen, Franz Oppenheimers Forderung nach Aufhebung der „Bodensperre“ eine andere, die sich in seinen eigenen Reformüberlegungen wieder finden.[3]

            Die leitende Idee des A.SK Social Science Award steht auch in einem wissenschaftstheoretischen Kontext. Seit der bahnbrechenden Arbeit von Ludwik Fleck[4] aus dem Jahre 1935, die später von Thomas S. Kuhn[5] wieder aufgenommen wurde, sind die wissenschaftssoziologischen Zusammenhänge in der Entwicklung des Wissenschaftsbetriebs besser bekannt. Der Zyklus der Entwicklung „wissenschaftlicher Tatsachen“ vom Stil eines herrschenden „Denkkollektiv“ zu einem anderen führt – wie Kuhn es formulierte – zunächst in die „Krise des herrschenden Paradigmas“, dann zum revolutionären Paradigmenwechsel und schließlich zu einem neuen wissenschaftlichen Denkstil, dessen Grundannahmen das siegreiche Denkkollektiv erneut mit Zähnen und Klauen verteidigt. Wissenschaftssoziologische Erkenntnisse dieser Art unterstreichen die Persistenz wissenschaftlichen Denkens, deren Auflockerung großer Anstrengung bedarf. Aus der Sicht der Stifter steht der Wissenschaftsbetrieb in den Disziplinen Ökonomie und Politik gegenwärtig in einer Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit,[6] in der die Auslobung des A.SK Social Science Award zum Durchbruch eines realistischeren „Denkstils“ in neuen ‚scientific communities’ beitragen kann. 

            Vor allem aber geht es den Stiftern um die Konsequenzen aus einer universalhistorischen Gesetzmäßigkeit, die den Fortschritt der menschlichen Zivilisation im vergangenen Jahrtausend an den Rhythmus revolutionärer Umwälzungen gebunden und dabei jeweils auch die „Spielregeln“ der Weltgesellschaft erneuert hat. Der Stiftungsauftrag greift in der Tat bis ins 16. Jahrhundert zurück, um die revolutionären Grundlagen des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts in der Geschichte zu belegen. Eugen Rosenstock-Huessy hat diesem Prinzip in seiner epochalen Studie „Out of Revolution“ am prominentesten Ausdruck verliehen. Sie ist 1938, also während der Studienzeit des Stifters in den USA erschienen, die deutsche Ausgabe bereits 1931.[7] Rosenstock sieht in den großen europäischen Revolutionen - von der Papstrevolution des 11./12. Jahrhunderts bis zur Zweiten Wirtschaftlichen Revolution am Ende des 19. Jahrhunderts – Ereignisse von globaler Reichweite: Weltereignisse, deren wirtschaftliche und soziale Anatomie nicht nur eine ‚weltweit’ neue Semantik des wirtschaftlichen und politischen Diskurses durchsetzte, sondern auch neue global diffundierende Produktionsweisen und politische Prinzipien. Es ist gerade dieser universalhistorische und langfristige analytische Ansatz, der dem Stiftungsauftrag der A.SK Academic Foundation seinen besonderen Reiz verleiht.

            Die Frankfurter Allgemeine hat den A.SK Award einen „Preis für Revolutionäre“ genannt und vermutet, Shu Kai Chan wolle den Kapitalismus neu erfinden.[8] Falsch ist diese Interpretation nicht; gerade auch im wissenschaftlichen Kontext. Wie wir gehört haben, ist Revolutions-Semantik dem wissenschaftlichen Diskurs keineswegs fremd. Um Revolution im eigentlichen Sinne geht es den Stiftern dennoch nicht: die Bastille der Industriegesellschaft ist längst gestürmt. Gefragt sind vielmehr neue Ideen für mehr Gerechtigkeit in Wirtschaft und Politik sowie ihre menschenwürdige Durchsetzung in nachindustrieller Zeit. Kein schlechter Auftrag an die Sozialwissenschaften.

 



[1] Shu Kai Chan, Social Capitalism, New York: Vantage, 2002 (dtsch. Sozialer Kapitalismus, Marburg: Tectum, 2004).

[2] Douglass C. Structure and Change in Economic History, New York: Norton, 1981; Ders., Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge: CUP, 1990.

[3] Franz Oppenheimer, Großgrundeigentum und soziale Frage, Jena: Fischer 19222. Typisch auch eine andere Arbeit des akademischen Lehrers Ludwig Erhards: Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Stuttgart 19623.

[4] Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel 1935.

[5] Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: UCP, 1962 (dtsch. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 19722).

[6] S. dazu auch Werner Abelshauser, Von der Industriellen Revolution zur Neuen Wirtschaft. Der Paradigmenwechsel im wirtschaftlichen Weltbild der Gegenwart, in: Wege der Gesellschaftsgeschichte, hrsg. v. Jürgen Osterhammel, Dieter Langewiesche und Paul Nolte (=Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 22), Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2006, S. 201-218.

[7] Eugen Rosenstock-Huessy, Out of Revolution. Autobiographie of Western Man (1938, 1969), Providence, NJ, Oxford: Berg, 1993. S. auch den ‚Vorläufer’ dieser Arbeit: Ders., Die europäischen Revolutionen: Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena 1931.

[8] Petra-Monika Jander, Ein reicher Chinese erfindet den Kapitalismus neu, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 47 vom 25. November 2007, S. 45.