Langfassung des Artikels
„Ein reicher Chinese erfindet den Kapitalismus neu“ in der Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung vom 25. November 2007, S. 45.
Ein Kapitalist denkt revolutionär
Die Stifter des A.SK
Social Science Award
von Petra-Monika Jander
Santa Ana, Costa Rica. Anfang September 2007 stiftet
ein bis dahin völlig unbekanntes chinesisches Ehepaar dem Wissenschaftszentrum
Berlin sechs Millionen Euro. Es will den weltweit am höchsten dotierten Preis in
Sozialwissenschaft vergeben, um radikales, ja revolutionäres Umdenken in
Wirtschaft und Politik zu fördern. Die Stifter sind weit über achtzig und haben
ihr Vermögen in Hongkong, Brasilien, den USA und Costa Rica gemacht, wo sie seit
1997 ihren Lebensabend verbringen. Beide, Angela und Shu Kai Chan, sind nach
1945 zu erfolgreichen Unternehmern geworden. Zuvor hatte Shu Kai in Deutschland
Ökonomie studiert. Das mag seine Entscheidung für Berlin erklären. Wie aber werden
Kapitalisten zu Revolutionären?
Seine
Eltern hatten es Shu Kai Chan nicht in die Wiege gelegt, ein erfolgreicher Geschäftsmann
zu werden. Vater Wai-Chow war zwar im Kabinett der Republik China für die
Finanzen der südlichen Provinzen verantwortlich und trug den alt-ehrwürdigen
Titel des „Salzministers“. Für seinen jüngsten Sohn hatte er aber die Offizierslaufbahn
im Auge. Angesichts des Bürgerkrieges, den die Republikaner zunächst mit den
Kommunisten gegen die reaktionäre Ching-Dynastie und dann gegen die Kommunisten
führen mußten, war das sicher keine schlechte Idee. Zumal Shu Kais Onkel
Chi-Tong der Republik als General diente. Zu Hause wußte schon der Elfjährige
den kugelfesten Mercedes-Benz des Vaters zu schätzen und verfügte über eine
30köpfige Leibgarde. Von Anfang an lernte er auch Deutsch auf der Schule.
Goethes ‚Leiden des jungen Werther’ im Original zu lesen, half ihm bei seiner
ersten Schülerliebe, diente aber auch der Vorbereitung auf seine Aufnahme an
der Preußischen Kriegsakademie.
Der Stiftungsauftrag „Der rasche Fortschritt
der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung macht Wirtschaftssysteme
wie Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus obsolet. Mehr noch: Der
Fortschritt hat den meisten Menschen nichts gebracht. Sie leben weiterhin in
Armut. Wenn wir eine neue politische Philosophie und ein neues Wirtschaftssystem
fänden, könnten wir den Wohlstand der Menschen erhöhen und zugleich viele
Probleme in der Welt lösen. Der A.SK-Preis soll dabei helfen.“ |
1935 war es dann soweit. Über
Saigon, Singapur, Kairo und Marseille dauerte es Wochen, bis der Sechzehnjährige
in Begleitung seiner Mutter Pick-Chun und eines sprachkundigen Privatsekretärs
europäischen Boden betrat. In der Ersten Klasse des französischen Luxusliners
lernte er mit Messer und Gabel umzugehen und dabei auch noch einen Frack zu
tragen. In Berlin, wo seine Mutter standesgemäß im Hotel Adlon residierte,
erwartete ihn jedoch eine Enttäuschung. Da jeweils nur ein einziger Chinese in
der Kriegsakademie Aufnahme finden konnte, machte der Sohn des Generalissimus Chiang
Kai-shek das Rennen. Aus Frust begann er, Politische Ökonomie zu studieren, wie
die Volkswirtschaftslehre damals hieß. Zuerst schrieb er sich an der Berliner
Friedrichs-Wilhelm-Universität ein, der heutigen Humboldt-Universität. Daneben lernte
er die Hochschulen von Leipzig, Wien, Frankfurt a. M. und Marburg kennen. Überall
herrschte noch immer die historische Schule der Nationalökonomie, die einst
Bismarcks Sozialversicherung wissenschaftlich begründete. Wegen dieser Neigung
zur Sozialreform wurden ihre sozialkonservativen Professoren als ‚Kathedersozialisten’
verspottet. In die dreißiger Jahre fiel aber auch die Reformzeit des
Wirtschaftsliberalismus, die nach 1949 als Soziale Marktwirtschaft ihren
Durchbruch feiern sollte. Beide Richtungen machten, obwohl im Ansatz
grundverschieden, großen Eindruck auf den angehenden Nationalökonomen. Einem
seiner akademischen Lehrer, dem ‚Kathedersozialisten’ Gerhard Albrecht,
schickte er nach 1945 aus Dankbarkeit von den USA aus sogar Care-Pakete.
Nach Kriegsausbruch mußte er überstürzt
nach China zurückkehren. Als Dozent an der Universität Tschungking, der
Kriegshauptstadt Chinas, verarbeitete er das in Deutschland Gelernte zu einem
Manuskript. Gedruckt wurde sein Buch ‚Sozialer Kapitalismus’ freilich erst 60
Jahre später. Shu Kai hatte zunächst Wichtigeres zu tun. 1941 heiratete er in
Hongkong die Kaufhaus-Erbin Angela Kwok. Damit erschloss sich ihm das
Wirtschaftsimperium seiner Schwiegereltern, das außer der Kaufhauskette Wing On
auch Versicherungen, Druckereien und Banken umfasste. Schon vor Kriegsende
orientierte er sich neu. Er spekulierte auf die Niederlage Japans und damit auf
die Wiederbelebung des Hongkonger Immobilienmarktes, der unter der japanischen
Besatzung verfallen war. Er verkaufte den Schmuck seiner Frau und die als
‚Notgroschen’ gehaltenen Goldbarren, um in diesen Markt einzusteigen. Er sollte
Recht bekommen. Während der Goldpreis nach dem Abzug der Japaner fiel, boomte
der Immobilienmarkt. Und noch eine Geschäftsidee sollte sich bewähren. Mit einem
elterlichen Startkapital von 10.000 US-Dollar gründete er ein Unternehmen zum
Export von Pflanzenöl aus Seetang und importierte im Gegenzug heiß begehrte
US-Waren. Vor dem Hintergrund weltweiter Lebensmittelknappheit sollte sich dies
bald auszahlen. Aus dem Gelehrten wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann.
Über seine Geschäfte „Ich habe als
Geschäftsmann nie in sozialen Kategorien gedacht. Es geht immer nur um eines:
Man sucht ein preiswertes Objekt, das Gewinn verspricht, und kauft es.“ |
Die nächste Station hieß São Paulo. Während
des Koreakrieges suchte der vorsichtige Geschäftsmann für seine wachsende
Familie einen sicheren Hafen. Er fand ihn nach vergeblichen Anläufen über
Australien schließlich in Brasilien. Hier gründete er 1953 mit seiner Frau auf grüner
Wiese eine Baumwollspinnerei. Sie glich einer Lizenz zum Gelddrucken, weil
Brasilien und der Weltmarkt hungrig nach Textilien waren. Das Paar häufte immer
mehr Vermögen an. Angela konnte sich ganz ihren sechs Kindern widmen.
Das sollte sich dramatisch ändern,
als der Tod einer Verwandten ihren Eintritt in den Vorstand des väterlichen
Unternehmens notwendig machte. Die Familie kehrte nach Hongkong zurück, wo
Angela Chan die Mode- und Einkaufsabteilung der Kaufhauskette übernahm. Das 1907
gegründete Wing On war in der Kronkolonie eine Institution wie heute Harrods in
London. Es besaß aber auch Filialen und Produktionsbetriebe in Australien und
den USA, wo es das gesamte Sortiment chinesischer Waren feilbot. Als Angela in
den Vorstand eintrat, mußte sie freilich erst einmal alte Zöpfe abschneiden. Gegen
die an den USA und Großbritannien orientierte Mode setzte sie verstärkt auf
europäisches Design und kaufte Modelle aus Italien, Frankreich und Deutschland.
Obwohl in ganz Hongkong nur zwei Frauen an der Spitze großer Unternehmen standen,
hatte sie nie Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Im Gegenteil: sie mußte
immer mehr Verantwortung übernehmen. Nach dem Tod ihres Bruders war sie die
letzte ihrer Familie aus der zweiten Generation. Sie übernahm den
geschäftsführenden Vorsitz des Vorstandes und blieb bis 1996
Vorstandsvorsitzende der Kaufhauskette. Neben unternehmerischen Aufgaben nahm
sie auch zahlreiche repräsentative Pflichten wahr. Etwa beim Besuch von
Princess Margaret und anderen Prominenten, die die Kulisse des Kaufhauses gern
für ihren Auftritt in der Kronkolonie nutzten.
Ihr Mann leitete unterdessen den
Roxy-Filmpalast, der über 1.700 Menschen fasste. Seine glanzvollen Premieren
zogen regelmäßig Schauspieler aus aller Welt an. Liz Taylor und Richard Burton gehörten
ebenso zu seinen Stars wie Gina Lollobrigida. Auch im gesellschaftlichen Leben Hongkongs
spielten die Chans eine prominente Rolle. Die Metropole am Perlfluss wurde aber
auch zur Drehscheibe seiner weltweiten Immobilien- und Börsengeschäfte. In San
Francisco, Houston und Seattle kaufte er Shopping Malls und Apartment Centers.
Dabei blieb er immer ein konservativer Anleger, der nur mit gegenwärtigen
Erträgen kalkulierte und keine Wechsel auf die Zukunft zog. Glück gehörte auch
zu seinem Erfolgsrezept. Er brachte seine Hongkonger Unternehmen zur rechten
Zeit an die Börse und verdiente damit an einem Tag ein Vermögen. Auch setzte er
Anfang der siebziger Jahre rechtzeitig auf den Anstieg des japanischen Yen. Je
reicher er wurde, desto mehr wuchsen seine Skrupel, einfach so weiterzumachen.
Was er in Deutschland studiert hatte, die Sehnsucht nach ‚sozialem
Kapitalismus’, beherrschte immer mehr sein Denken.
Über den Kapitalismus von heute „Das kapitalistische
System schafft heute mehr Anreize zur Spekulation als zur Investition. Wer
das Kapital hat, um teure Grundstücke und Häuser zu kaufen, macht große
Gewinne. Die Folge sind steigende Preise. Der Rest der Bevölkerung kann sich
dann das eigene Haus nicht leisten und lebt in ärmlichen Verhältnissen.
Sollten wir ein solches System wirklich wollen?“ |
Daneben begann Shu Kai wieder wissenschaftlich
zu arbeiten und widmete sich der Kunst der Kalligraphie, um seine Kreativität
zu stärken. Auf Wunsch der chinesischen Regierung gründete er in Peking ein
Wachsfigurenkabinett nach dem Londoner Vorbild Madame Tussauds. Mit siebzig
Jahren nahm er bei einem berühmten Meister sogar das Studium der klassischen
chinesischen Malerei auf. Heute zeugt seine persönliche Bildergalerie in Costa
Rica eindrucksvoll von dieser Leidenschaft. Der Entschluss, Hongkong zu
verlassen und alle Brücken abzubrechen, fiel nach der Vereinbarung über den
Rückfall der Kronkolonie an China und wurde 1989 durch das Massaker auf dem Pekinger
Platz des Himmlischen Friedens bestärkt.
In Costa Rica reifte schließlich die
Idee für den A.SK Social Science Award. Es geht darum, revolutionäres Denken zu
fördern, um Revolutionen zu verhindern. In Deutschland, natürlich an seinem
alten Studienort Berlin, und weltweit sichtbar wird der Preis alle zwei Jahre vom
Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) vergeben. Am 4. Dezember 2007 zum ersten Mal
- an Sir Antony Atkinson, einen weltweit renommierten Ökonomen und
Armutsforscher aus Oxford. Auch Nachwuchswissenschaftler werden mit Fellowships
am WZB ausgezeichnet. Angela und Shu Kai Chan konnten am Gendarmenmarkt freilich
nicht dabei sein. Sie vertragen das Fliegen nicht mehr. Das hindert sie nicht,
an ihrer Stiftung weiter zu arbeiten und neue Projekte zu entwerfen. Arme
Bauern sollen in Nicaragua eine Chance erhalten, sich durch Arbeit einen ordentlichen
Lebensstandard zu sichern. Von Sozialromantik keine Spur. Ein kleines
Agrarforschungsinstitut soll neue, der Bodenqualität angepasste Fruchtsorten
entwickeln, die sich profitabel vermarkten lassen. In der Projekt-Siedlung
werden dann zum Beispiel japanische Kaki aus Brasilien oder Hawaianische Mongo
angebaut. Shu Kai Chan plant im Detail, wie er sich sozialen Kapitalismus in
der Wirklichkeit vorstellt. Von der Wissenschaft verspricht er sich weitere
Anregungen.
Zukunftsperspektiven „Ich möchte jetzt als
nächstes meine Reform-Ideen in die Praxis umsetzen. Unsere Stiftung wird
Grundstücke in Nicaragua kaufen, um dort das „Poor Men Farmer Project“
auszuprobieren. Arbeitslose sollen Lohn, ein Startkapital und Dividende
erhalten. Die Stiftung stellt ihnen ein Haus zur Verfügung, das sie in Raten
abbezahlen können.“ |
Ein Preis für Revolutionäre?
Ein chinesisches Ehepaar hat dem Wissenschaftszentrum Berlin, einem
anerkannten sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum, das in der Trägerschaft
des Bundes und des Landes Berlin steht, eine Stiftung über rund sechs Millionen
Euro gemacht: Der A.SK Social Science Award, benannt nach den Stiftern Angela
und Shu Kai Chan, ist der weltweit höchstdotierte Preis auf dem Gebiet der
Sozialwissenschaften. Die Stiftung hat den Auftrag, revolutionäres Umdenken zu
fördern, um Revolutionen zu verhindern.