Die Rolle der Genossenschaften im Prozeß des "nation building" in Russland, 1860- 1930

    Fragestellung:

    Angesichts der hervorragenden Bedeutung der Genossenschaftsbewegung im Prozeß des „nation building“ in den ethnisch stark gemischten Gebieten Mittelosteuropas stellt sich die Frage, ob auch im russischen Vielvölkerreich, das zumindest hinsichtlich der relativen Rückständigkeit und des Zusammenlebens unterschiedlicher Ethnien auf engem Raum vergleichbare Elemente aufwies, eine Rolle der Genossenschaften im Kampf um die Herausbildung eines nationalen Bewußtseins nachweisbar ist. Dafür soll die gesamte Phase der Entwicklung von der Gründung der ersten Genossenschaften in den 1860er Jahren bis zur Einleitung der Zwangskollektivierung an der Wende zu den 1930er Jahren in den Blick genommen werden. Die detaillierte Untersuchung läßt sich allerdings auf die Phase zwischen 1905 und 1917 eingrenzen. Für die Sowjetzeit ist die Entwicklung während der Neuen Ökonomischen Politik zwischen 1922 und 1927 von Interesse.

    Im Vergleich mit Genossenschaftsbewegungen in anderen Ländern wäre es in der Tat überraschend, wenn in Rußland kein Ansatz zur Nutzung der Genossenschaften für die nationale Mobilisierung zu erkennen wäre. Die Verhältnisse im russischen Vielvölkerreich waren denen im Habsburger Reich zumindest ähnlich. Zudem waren mehrere Ethnien, etwa die Ukrainer, Polen und Juden, zwischen beiden Reichen aufgesplittert. In beiden Reichen lebten verschiedene Ethnien gemischt im gleichen Territorium, die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen waren im Vergleich mit den westlichen Teilen Europas rückständig. Ein weiterer Grund, eine Rolle der Genossenschaften im Prozeß des nation building in Rußland zu vermuten, ist in der sozialen Zusammensetzung der Ethnien zu sehen. Die fast ausschließlich „jungen“ Ethnien (Hroch) des Russischen Reiches wiesen genauso wie eini-ge des Habsburger Reiches noch keine vollständige Sozialstruktur auf und können weitgehend als Bauernethnien bezeichnet werden. Die nationale Mobilisierung dieser Ethnien setzte also voraus, die Bauern für den nationalen Gedanken zu gewinnen. Selbst für die „alte“ Nation Polen stellte sich das Problem der Einbeziehung der großen Masse der Bauern in die nationale Bewegung. In dieser Hinsicht kam den Genossenschaften eine Schlüsselrolle zu, weil sie zum einen die Bauern bezüglich ihrer wirtschaftlichen Interessen ansprachen und zum anderen einen direkten Kontakt zwischen Bil-dungselite und Bauern erlaubten, da für die Besetzung der Leitungen und Räte sowie der Positionen des Rechnungsführers und des Manager Personen mit entsprechenden Kenntnissen benötigt wurden. Die Genossenschaftsidee der Selbsthilfe stammte aus den Städten. In allen Ländern spielten sozial engagierte Vertreter der Bildungselite, darunter durchaus Adlige, beim Anstoß von Genossen-schaftsgründungen auf dem Lande zur Hebung der bäuerlichen Landwirtschaft und zur Erleichte-rung ihrer Einbeziehung in die Marktwirtschaft eine hervorragende Rolle. Hier lag der Ansatzpunkt für die nationale Bewegung. Die Bildungselite brachte mit ihrem sozialen Engagement auf dem Lande zugleich ihre Überzeugungen mit, die insofern Einfluß auf die Bauern gewinnen konnten. Wie stark die Abhängigkeit ländlicher Genossenschaftsgründungen von der Bildungselite war, läßt sich auch für Deutschland zeigen. Die deutsche Agrargenossenschaftsbewegung hing in den ersten Jahrzehnten weitgehend von Nichtbauern als Initiatoren und Funktionsträger der Genossenschaften ab.

    Die Erforschung der russischen Genossenschaftsbewegung hat bisher die Frage der nationalen Agitation vollständig ausgeklammert. Die Genossenschaften in Rußland wurden praktisch ausschließlich im Zusammenhang der sozialen oder revolutionären Bewegung oder der ideengeschichtlichen Grundlagen des Genossenschaftsgedankens betrachtet. Die einzige neuere Studie von Kotsonis verkennt das Ausmaß der Rückständigkeit der Bauern und betrachtet letztlich nur die vom Staat initiierten Kreditgenossenschaften. Die beabsichtigte Untersuchung betritt deshalb weitgehend Neuland. Obwohl sie auf einige russische und sowjetische Studien zurückgreifen kann, erweist sich – nicht anders als bei der Fallstudie über Deutschland – die Informationslage zu den Trägern der Genossenschaftsgedankens, der Aktivität der Bauern in den Genossenschaften und dem Nutzen der Genossenschaftsbewegung für die Modernisierung der Landwirtschaft als unzureichend, so daß diesen Fragen auf Basis von Archivmaterial und zeitgenössischen Publikationen der Genossenschaften nachgegangen werden soll. Die Studie für Rußland basiert dabei auf einer vergleichender Perspektive mit dem Habsburger Reich und der Provinz Posen und berücksichtigt die Ergebnisse der Studie über die Rolle der Genossenschaften bei der Modernisierung der deutschen Landwirtschaft.

    Unter den spezifischen russischen Bedingungen hatten es die Genossenschaften schwer, sich zu verbreiten. Sie trafen auf eine ausgesprochen rückständige und mittellose Bauernschaft, die überhaupt erst ab Ende der 1890er Jahre regional die Bedeutung der Genossenschaften zu erkennen schien. Das Problem wurde durch ein verbreitetes Mißtrauen gegen „outsider“ verstärkt, so daß die auf das Land kommenden Protagonisten des Genossenschaftsgedankens auf eine starke Ablehnung stießen. Die ersten Arbeitsergebnisse haben gezeigt, daß die russische Genossenschaftsbewegung bis 1913 mit etwa 40 % einen größeren Anteil der Bevölkerung als in anderen europäischen Staaten erfaßte. Zugleich bezog sie bis 1913 alle Ethnien des Vielvölkerreichs ein. Dennoch sind die Indizien für eine Rolle der Genossenschaften im Prozeß der nationalen Mobilisierung der Ethnien Rußlands bisher schwach. Daraus ergeben sich die Untersuchungsfragen, denen in dem Forschungsprojekt nachgegangen werden soll. Potentielle Erklärungen dafür, daß die Genossenschaften keine oder noch keine Rolle im russischen Kontext spielten, sind, daß sich die russischen Genossenschaften von denen in anderen Ländern unterschieden, daß noch keine von der „sozialen Frage“ unabhängige „nationale Frage“ gesehen wurde, daß die Rückständigkeit der russischen Bauern ihre Mobilisierung mit Genossenschaften ausschloß.

    In Bezug auf einen möglicherweise anderen Charakter der russischen Genossenschaften kommt dem Staatseinfluß eine bedeutende Rolle zu. Offenbar befanden sich die Genossenschaften in enger Abhängigkeit von einer finanziellen Unterstützung durch den Staat. Vor allem im Baltikum und in Russisch Polen, also den Gebieten, in denen die nationale Bewegung um die Jahrhundertwende in das Stadium der Massenbewegung eintrat, waren Genossenschaften besonders scharfen Restriktionen ausgesetzt. Während das Finanzministerium in der Förderung von Genossenschaften die einzige Möglichkeit zur wirtschaftlichen Kräftigung des Staates sah, versuchte das Innenministerium mit allen Mitteln die Gründung von Genossenschaften, die auf der Selbsttätigkeit der Bevölkerung beruhten, zu verhindern. Für das Projekt ergeben sich damit die folgenden Untersuchungsbereiche:


    Zeichnete sich bis 1917 zumindest regional ab, daß die Bauern die Genossenschaften zur eigenständigen Interessenvertretung nutzten, oder behielten die Genossenschaften ihren Charakter als „staatliche“ Organisationen?


    Unterschied sich die Aktivität der Bauern nach dem Typ der Genossenschaft?


    Wer waren die Agitatoren für Genossenschafts-​gründungen, welchen Einfluß entwickelten sie unter den Bauern und welche Konzepte verfolgten sie?



    Die Untersuchung wird auf Basis der Auswertung von regionalen Archivmaterialien durchgeführt. Um Regionen mit unterschiedlicher Dynamik zu erfassen, wurden zum Vergleich die Gebiete von Jaroslavl, Rostov am Don und Ufa ausgewählt.


    Eigene Vorarbeiten:

    The Cooperative Movement in Tsarist and Early Soviet Russia: What Role did it play in Nation Building for the different Ethnies?, in: Lorenz, Thorsten (Hrsg.), Cooperatives in Ethnic Conflicts: Eastern Europe in the 19th and early 20th Century, Berlin 2006, S. 119-157.

    (Hg. zusammen mit Charles McClelland und Hannes Siegrist): Professionen im modernen Osteuropa. Professions in Modern Eastern Europe (= Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 207), Berlin 1995.

    Das Agrargenossenschaftswesen Ostdeutschlands 1878-1928. Die Organisation des landwirtschaftlichen Fortschritts und ihre Grenzen, in: Heinz Reif (Hrsg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise, junkerliche Interessenpolitik, Modernisierungsstrategien, Berlin 1994, S. 287-322.

    Problems of East German Agriculture in Transition to the Market and Policy Consequences for the Soviet Union, in: A. Bodenstedt, S. Merl, V. A. Nutrikhin (eds), Social Problems in Rural Areas under Condition of Change. Contributions to the International Symposium in Vologda, September 1991 (= Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 190), Berlin 1993, S. 103-118.

    Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des "Kriegskommunismus" und der Neuen Ökonomischen Politik (= Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 191), Berlin 1993.

    Die Anfänge der Kollektivierung in der Sowjetunion. Der Übergang zur staatlichen Reglementierung der Produktions- und Marktbeziehungen im sowjetischen Dorf (1928-1930) (= Veröffentlichungen des Osteuropas-Institutes München, Reihe Geschichte, Bd. 52), Wiesbaden 1985.

    Der Agrarmarkt und die Neue Ökonomische Politik. Die Anfänge staatlicher Lenkung der Landwirtschaft in der Sowjetunion 1925-1928 (= Studien zur modernen Geschichte Bd. 25), München, Wien 1981.


    Ausgewählte Literatur:

    L.E. Fajn, Otechestvennaya kooperatsiya: istoricheskij opyt, Ivanovo 1994.

    Ders., Rossijskaja kooperacija: istoriko-teoreticheskij ocherk. 1861-1930, Moskva 1999.

    Ernst Fuckner, Die russische Genossenschaftsbewegung (1865-1921), Leipzig 1922.

    Avenir P. Korelin, Sel'skochozjajstvennyj kredit v Rossii v konce XIX-nachale XX v., Moskau 1988.

    Yanni Kotsonis, Making Peasants Backward. Agricultural Cooperatives and the Agrarian Question in Russia, 1861-1914, Basingstoke u.a.1999.

    Sergej N. Prokopovich, Kooperativnoe dvizhenie v Rossii. Ego teorija i praktika, Moskau 1918.

    Peter-Heinz Seraphim, Das Genossenschaftswesen in Osteuropa, Neuwied 1951.

    V.Th. Totomianz, Die Konsumvereine in Rußland, München und Leipzig 1922.

    M. I. Tugan-Baranovskij, Social'nye osnovy kooperacii, Moskau 1921.


    Projektbeginn: 01.01.2005