Politische Kommunikation in Diktaturen
Der Essay befasst sich mit der Frage, ob „politische“ Kommunikation im Sinne der SFB-Definition in Diktaturen überhaupt möglich ist. Eine entscheidende Voraussetzung, die angstfreie Kommunikation, war hier nicht gewährleistet. Gleichzeitig maßen die Diktaturen aber der Kommunikation mit der Bevölkerung große Bedeutung bei. Der Essay baut auf den Ergebnissen des Projektes B 11 und den Vorarbeiten zum Funktionieren des sowjetischen Wirtschaftssystems und der Bedeutung korrupter Praktiken auf. Dabei nimmt er vergleichend andere europäische Diktaturen des 20. Jahrhunderts in den Blick.
Der Diktaturenvergleich hat bisher vor allem die repressiven Elemente in den Vordergrund gerückt und sich für Dissens und Resistenz der Bevölkerung interessiert. Alltagsstrategien der Anpassung sind bezogen auf einzelne Diktaturen, aber kaum vergleichend als politisch bedeutsame Mechanismen des Erhalts und der Stabilität von Diktaturen untersucht worden. Der Essay geht von der Hypothese aus, dass keine der hier in den Blick zu nehmenden „europäischen“ Diktaturen gezwungen war, die Masse der Bevölkerung allein durch Repression in Schach zu halten, sondern durch politische Kommunikation Gemeinschaft stiftende Werte (Einheit des Volkes, Volksgemeinschaft, Paternalismus) vermitteln konnte. Sie stützten sich dadurch auf eine erhebliche Bereitschaft der „schweigenden Mehrheit“ [etwa: NSDAP = Sprachrohr derer, die kein Gehör zu finden glaubten] zur aktiven Beteiligung bzw. wohlwollenden Duldung. Die Nachhaltigkeit dieser bewusst, häufig aber auch unbewusst übernommenen Einstellungen und Prägungen wurde dabei erst nach dem Ende der Diktaturen sichtbar.
Es sind die Mechanismen und die Medien zu untersuchen, mit denen die Diktaturen die Themen der politischen Kommunikation zu bestimmen und zu kontrollieren versuchten. Offenbar hing der Bestand der Diktaturen entscheidend davon ab, Themen mit einem Tabu zu belegen (etwa NS: Holocaust innerhalb des Reiches, obwohl er zugleich im Osten öffentlich vollzogen wurde; Sowjetunion: Hungersnot 1932/33, korrupte Praktiken als Funktionsvoraussetzung der Kommandowirtschaft). Eine Bestandsvoraussetzung für die Diktatur war die Bereitschaft der Bevölkerung zur Nichtbeachtung (misrecognition) entscheidender Fakten und Praktiken, auf denen das Regime beruhte und die die Masse der Bevölkerung zugleich praktizierte (DDR: das umfassende Überwachungssystem der Stasi; Sowjetunion: korrupte Praktiken als Funktionsvoraussetzung der Kommandowirtschaft). Die Frage nach politischer Kommunikation in Diktaturen ist deshalb vor allem auch eine Frage nach dem Schweigen, erfolgreichen Tabuisierungen von Themen im öffentlichen und wohl auch im privaten Bereich. Als Hypothese für den Verfall von Diktaturen ist dann zu prüfen, ob der Kontrollverlust über die politische Kommunikation etwa in den „friedlichen Revolutionen“ nicht entscheidender als das „Auflehnen“ der Bevölkerung gegen die Diktaturen war. Welche Rolle spielten Rituale (in den sozialistischen Diktaturen etwa die Wahlen) zur Herstellung kollektiver Verbindlichkeit?
Unter „politischer Kommunikation“ wird zweierlei verstanden:
1. die Herstellung bzw. Bewahrung einer wie auch immer gearteten „Übereinstimmung“ zwischen Herrschenden und Beherrschten über Kommunikation. Das ist als „politisch“ anzusehen, weil es eine unabdingbare Voraussetzung zur Existenz der Diktatur war. „Kontrollverlust“ über die Themen der Kommunikation konnte in kürzester Zeit in Vertrauensverlust und Machtverlust umschlagen, egal welche Instrumente des Terrors (Militär, Geheimdienst) zur Verfügung standen.
2. Aushandlungsprozesse und damit Verschiebungen im Raum des Politischen. Da die Kommunikation über längere Zeiträume kaum statisch geblieben sein kann, muss gefragt werden, ob die Räume des „Sagbaren“ bei der Etablierung der Regime „ausgehandelt“ wurden, wann etwa eine (vermutlich unsichtbare/unbewusste) „Kontrolle“ der Kommunikation erreicht war, und ob sich, wenn ja über welche Mechanismen, die Inhalte der Kommunikation veränderten. Offenbar gab es Bereiche, in denen auch Kritik an bestehenden Verhältnissen geduldet wurde (Ventilfunktion?). Wie wurde diese dann kanalisiert? Reproduzierte die Bevölkerung vorrangig die vom Regime vorgegebenen Sprachmuster (Kommunikation als staatliche Veranstaltung) oder veränderte sie (einzelne, Gruppen) über Kommunikation zeitweilig oder dauerhaft die Grenzen des Sagbaren?
Offensichtlich instrumentalisierten die Menschen die Sprachregelungen des Regimes und das dahinter stehende paternalistische Grundverständnis, wenn sie sich der Sprache und der Argumentationsvorgaben zur Durchsetzung persönlicher Interessen bedienten. In welchem Maße sie diese Denkfiguren teilten, kritisch reflektierten oder gewissermaßen in Form von „Eigensinn“ umfunktionierten, ist klärungsbedürftig und zugleich schwer zu fassen. In jedem Fall brach die Bevölkerung die Kommunikation bis zum Zusammenbruch der Regime nicht ab, vielmehr scheint die Zahl der Briefe zugenommen zu haben. Zu klären ist, welche Bedeutung der „Institutionalisierung“ der Kommunikation mit der Bevölkerung in den sozialistischen Diktaturen zukam, die eine Prüfung und Beantwortung jeder Eingabe in einer bestimmten Frist garantierten.
Der Blick auf „Kommunikation“ muss langfristige kulturelle Prägungen der Bevölkerung beachten, die unterschiedliche Ausgangsbedingungen und Funktionsvoraussetzungen für die Diktaturen mit sich brachten. Diese spielten bei der Errichtung der Diktatur eine Rolle, sie wirkten nach deren Ende weiter. Dadurch ist der Vergleich trotz der Beschränkung auf Europa im 20. Jahrhundert vielschichtig. Im Zentrum steht der bedingt kontrastierende Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, der – abhängig von der Literaturlage – auch Italien und ggf. Spanien und Portugal einbeziehen soll. Der Blick auf „die Diktaturen des 20. Jahrhunderts“ beinhaltet den langfristigen Ländervergleich zwischen Deutschland und Russland, der wiederum durch die Brüche 1945 bzw. 1953 auch den länderinternen Vergleich Nationalsozialismus – DDR und Sowjetunion unter Stalin und nach Stalin vornehmen muss. Für die Zeit nach 1945 verspricht aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Prägungen wiederum der Vergleich zwischen den verschiedenen sozialistischen Diktaturen interessante Aufschlüsse, wobei zumindest Polen und Ungarn einbezogen werden sollen.
Der Essay rückt die politische Kommunikation nach Errichtung der Diktaturen in den Vordergrund. In allen Fällen ging aber eine Phase voraus, in der die öffentliche Kommunikation gewaltsam unter die Kontrolle des Regimes gebracht wurde. Zu jedem Zeitpunkt gab es Repressionen gegen die öffentliche Äußerung bestimmter abweichender Meinungen.
In Bezug auf die Kriterien des SFB wird angenommen, dass Kommunikation zur Stabilisierung der Diktaturen Breitenwirkung entfalten und Verbindlichkeit erlangen musste. Nach dem Ende der Regime zeigte sich zudem die Nachhaltigkeit bestimmter über Kommunikation vermittelter Einstellungen. Die Bezugnahme auf überindividuelle Einheiten (das Volk, Volksgemeinschaft, Einheit des Landes = Sowjetpatriotismus) in der Kommunikation von beiden Seiten ist ausgeprägt. Offenbar wurde auch Wirklichkeit in erheblichem Maße kommunikativ erzeugt. Unklar bleibt im Moment, in welchem Maße die Thematisierung von Regeln des Zusammenlebens, der Machtverhältnisse und der Grenzen des Sag- und Machbaren erfolgte. Dazu wird der Essay eine Position beziehen.