Nachwort Zur Übersicht Zur Synopse Zu den Einzelebenen Keine Druckfassung
 

Was bezweckt dieser Kommentar?
Die Wahlverwandtschaften gelten als das hintergründigste, am weitesten auslegbare Werk Goethes, und entsprechend viele verschiedene Deutungen gibt es von ihm. Wer sich nicht als Fachmann, sondern nur aus Bildungsneugier mit dem Roman bekannt machen möchte, hat es deshalb schwer. Natürlich, man kann ihn einfach lesen. Aber wenn schon Zeitgenossen gestöhnt haben, dass er langweilig sei, kann man heute auf große Zustimmung zu ihm nicht rechnen. Soweit Erzähltes aus jener Zeit überhaupt noch infrage kommt, ist besser an Kleist, Eichendorff, E.T.A. Hoffmann zu denken, und für Goethe würde man eher zu Dichtung und Wahrheit oder der Italienischen Reise raten.

Den Zeit- und Sachhintergrund des Romans ins Auge zu fassen, könnte deshalb ein guter Zugang sein. Die Handlung enthält viel mehr an 'Welt', als man im Lesen noch merkt. Wer sich mit diesen Dingen beschäftigt, wird vielleicht auch an der einen und anderen Episode Interesse haben, und über die Berührungen mit Goethes Leben, den Illustrationen, den Filmhandlungen, könnte man sich auch die Geschichte im Ganzen allmählich erschließen. Dass man dabei auf viele noch heute verwendbare Ansichten und Einsichten trifft, ist sicherlich das Bemerkenswerteste an diesem Werk, zeigt es doch, wie ähnlich sich viele Lebenserfahrungen über die Jahrhunderte hinweg geblieben sind.

Was bringt der Kommentar Neues?
Der einführende und erklärende Charakter der Ausführungen besagt zugleich, dass es sich hier nicht um einen Beitrag zur "Forschung" handelt. Die Deutungsbeflissenheit, die sich hinter diesem Begriff oftmals nur verbirgt, sollte allerdings sowieso mit Skepsis betrachtet werden, einige der einbezogenen Resultate sprechen da wohl für sich. Gleichwohl bringt dieser Kommentar in mehreren Punkten Neues. Obenan steht, dass hier erstmals eine landschaftswahrscheinliche Karte gezeigt wird, geeignet, den Handlungsraum wirklich vorstellbar zu machen. Für die Vergegenwärtigung der Handlung ist das nicht wenig, jedenfalls für alle die nicht, die mit Raumangaben etwas anfangen können.

Ein Zweites ist der für die Wunderlichen Nachbarskinder aufgenommene Texthinweis, dass es sich bei dem hinzugekommenen Bewerber und Verlobten der Nachbarin um einen Mann "von Stand" handelt. Das kann in seiner Hervorhebung nur bedeuten, dass das Mädchen und der Nachbarssohn nicht von Stand, also nicht adelig sind. Das erhärtet die schon früher aufgestellte These, dass nur der Hauptmann derjenige sein kann, der seine Braut an den Nachbarssohn verloren hat, und er dieser Nachbarssohn gerade nicht ist, wie mehrheitlich angenommen oder unterstellt wird. Für den Hauptmann und seine Situation ist das von großer Bedeutung, weil seine gedrückte Stimmung und sein Stolz auf die Rettung des Knaben (Teil 1, Kapitel 15) sich so überhaupt nur erklärt. Das verbreitete Hinwegsehen über die betreffende Unklarheit ist eigentlich ein Trauerspiel.

Darüber hinaus sind für mehrere Sachverhalte die zeitgeschichtlichen Gründe vollständiger als üblich erfasst, für den Krieg, in den Eduard zieht, für die wirtschaftlichen Sorgen des Hauptmanns, für die Scheidungsverhältnisse, das Bestattungswesen und noch anderes. Für das Textverständnis folgt daraus nicht viel, macht aber doch klar, dass sich Goethe bis in die Nebenumstände hinein ganz an die Wirklichkeit seiner Zeit gehalten hat.

Warum diese Darstellungsform?
Die Vorteile einer Werkerläuterung nach Ebenen - der biografischen, der lebensweltlichen, der gestaltungsbezogenen usw. - sind so offensichtlich, dass dazu nichts gesagt werden muss. Als technisches System von Prof. Dr. Jan-Torsten Milde (Hochschule Fulda) für einen Kommentar zu Goethes Werther entwickelt, sind in der gleichen Form noch Kommentare zu Fontanes Effi Briest und zu Novellen von Kleist bis Kafka erschienen. Während diese Kommentare als CDs über den Verlag C.C. Buchner (Bamberg) veröffentlicht wurden, liegt der Wahlverwandtschaften-Kommentar nur hier vor. Damit er seinen Zweck erfüllen kann, gebe ich ihn zum Herunterladen frei. Über eine kurze Nachricht (bseiler@uni-bielefeld.de), wenn Sie sich eine Kopie abholen, würde ich mich freuen.

Bielefeld, im Januar 2016 Bernd W. Seiler