Siebentes Kapitel

Insofern der Architekt seinen Gönnerinnen das Beste wünschte, war es ihm angenehm, da er doch endlich scheiden
musste, sie in der guten Gesellschaft des schätzbaren Gehilfen zu wissen; indem er jedoch ihre Gunst auf sich selbst
bezog, empfand er es einigermaßen schmerzhaft, sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit dünken mochte,
so gut, ja vollkommen ersetzt zu sehen. Er hatte noch immer gezaudert, nun aber drängte es ihn hinweg; denn was er
sich nach seiner Entfernung musste gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwärtig nicht erleben.

Zu großer Erheiterung dieser halb traurigen Gefühle machten ihm die Damen beim Abschiede noch ein Geschenk
mit einer Weste, an der er sie beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid über den unbekannten
Glücklichen, dem sie dereinst werden könnte. Eine solcher Gabe ist die angenehmste, die ein liebender,
verehrender Mann erhalten mag; denn wenn er dabei des unermüdeten Spiels der schönen Finger gedenkt,
so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln, das Herz werde bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz
ohne Teilnahme geblieben sein.

Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirten, dem sie wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte.
Das weibliche Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtrünnig
macht; im äußern, geselligen Verhältnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann bestimmen,
der sie eben beschäftigt; und so durch Abweisen wie durch Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit
führen sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.

Hatte der Architekt, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine Talente vor den Freundinnen zum Vergnügen
und zu den Zwecken derselben geübt und bewiesen, war Beschäftigung und Unterhaltung in diesem Sinne und
nach solchen Absichten eingerichtet, so machte sich in kurzer Zeit durch die Gegenwart des Gehilfen eine andere
Lebensweise. Seine große Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhältnisse, besonders in Bezug auf
Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln. Und so entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich
fühlbarer Gegensatz, um so mehr, als der Gehilfe nicht ganz dasjenige billigte, womit man sich die Zeit über
ausschließlich beschäftigt hatte.

Von dem lebendigen Gemälde, das ihn bei seiner Ankunft empfing, sprach er gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche,
Kapelle und was sich darauf bezog, mit Zufriedenheit sehen ließ, konnte er seine Meinung, seine Gesinnungen darüber
nicht zurückhalten. »Was mich betrifft«, sagte er, »so will mir diese Annäherung, diese
Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, dass man sich gewisse besondere
Räume widmet, weihet und aufschmückt, um erst dabei ein Gefühl der Frömmigkeit zu hegen und zu unterhalten.
Keine Umgebung, selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefühl des Göttlichen stören, das uns überall hin
begleiten und jede Stätte zu einem Tempel einweihen kann. Ich mag gern einen Hausgottesdienst in dem Saale gehalten sehen,
wo man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit Spiel und Tanz zu ergötzen pflegt. Das Höchste, das Vorzüglichste
am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.«

Charlotte, die seine Gesinnungen schon im Ganzen kannte und sie noch mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem
Fache zur Tätigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architekt vor seiner Abreise eben gemustert hatte, in dem großen
Saal aufmarschieren ließ, da sie sich denn in ihren heitern, reinlichen Uniformen, mit gesetzlichen Bewegungen und einem natürlichen,
lebhaften Wesen sehr gut ausnahmen. Der Gehilfe prüfte sie nach seiner Weise und hatte durch mancherlei Fragen und Wendungen gar
bald die Gemütsarten und Fähigkeiten der Kinder zutage gebracht und, ohne dass es so schien, in Zeit von weniger als einer
Stunde sie wirklich bedeutend unterrichtet und gefördert.

»Wie machen Sie das nur?«, sagte Charlotte, indem die Knaben wegzogen. »Ich habe sehr aufmerksam zugehört;
es sind nichts als ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch wüsste ich nicht, wie ich es anfangen sollte, sie in so
kurzer Zeit, bei so vielem Hin- und Widerreden, in solcher Folge zur Sprache zu bringen.«

»Vielleicht sollte man«, versetzte der Gehilfe, »aus den Vorteilen seines Handwerks ein Geheimnis machen.
Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieses und noch viel mehr zu leisten vermag.
Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht fest; machen Sie sich
ihn in allen seinen Teilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht sein, gesprächsweise an einer Masse Kinder zu
erfahren, was sich davon schon in ihnen entwickelt hat, was noch anzuregen, zu überliefern ist.
Die Antworten auf Ihre Fragen mögen noch so ungehörig sein, mögen noch so sehr ins Weite gehen, wenn nur
sodann Ihre Gegenfrage Geist und Sinn wieder hereinwärts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem Standpunkte verrücken
lassen, so müssen die Kinder zuletzt denken, begreifen, sich überzeugen, nur von dem, was und wie es der Lehrende will.
Sein größter Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit in die Weite reißen läßt,
wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten weiß, den er eben jetzt behandelt.
Machen Sie nächstens einen Versuch, und es wird zu Ihrer großen Unterhaltung dienen.«

»Das ist artig«, sagte Charlotte; »die gute Pädagogik ist also gerade das Umgekehrte von der guten Lebensart.
In der Gesellschaft soll man auf nichts verweilen, und bei dem Unterricht wäre das höchste Gebot, gegen alle Zerstreuung
zu arbeiten.«

»Abwechselung ohne Zerstreuung wäre für Lehre und Leben der schönste Wahlspruch, wenn dieses löbliche
Gleichgewicht nur so leicht zu erhalten wäre!«, sagte der Gehilfe und wollte weiter fortfahren, als ihn Charlotte
aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug sich soeben über den Hof bewegte.
Er bezeigte seine Zufriedenheit, dass man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte.
»Männer«, so sagte er, »sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewöhnen müssen,
zusammen zu handeln, sich unter ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten.
Auch befördert jede Art von Uniform einen militärischen Sinn sowie ein knapperes, strackeres Betragen, und alle
Knaben sind ja ohnehin geborne Soldaten; man sehe nur ihre Kampf- und Streitspiele, ihr Erstürmen und Erklettern.«

»So werden Sie mich dagegen nicht tadeln«, versetzte Ottilie, »daß ich meine Mädchen nicht
überein kleide. Wenn ich sie Ihnen vorführe, hoffe ich Sie durch ein buntes Gemisch zu ergötzen.«

»Ich billige das sehr«, versetzte jener.
»Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach eigner Art und Weise, damit eine jede fühlen lernte,
was ihr eigentlich gut stehe und wohl zieme.
Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln.«

»Das scheint mir sehr paradox«, versetzte Charlotte; »sind wir doch fast niemals für uns.«

»O ja!«, versetzte der Gehilfe, »in Absicht auf andere Frauen ganz gewiss.
Man betrachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter, immer steht sie isoliert, immer ist sie
allein und will allein sein. Ja die Eitle selbst ist in dem Falle. Jede Frau schließt die andre aus, ihrer Natur nach;
denn von jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt.
Nicht so verhält es sich mit den Männern. Der Mann verlangt den Mann; er würde sich einen zweiten erschaffen,
wenn es keinen gäbe; eine Frau könnte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihresgleichen hervorzubringen.«

»Man darf«, sagte Charlotte, »das Wahre nur wunderlich sagen, so scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr.
Wir wollen uns aus Ihren Bemerkungen das Beste herausnehmen und doch als Frauen mit Frauen zusammenhalten und auch gemeinsam wirken,
um den Männern nicht allzu große Vorzüge über uns einzuräumen. Ja, Sie werden uns eine kleine
Schadenfreude nicht übel nehmen, die wir künftig um desto lebhafter empfinden müssen, wenn sich die Herren
untereinander auch nicht sonderlich vertragen.«

Mit vieler Sorgfalt untersuchte der verständige Mann nunmehr die Art, wie Ottilie ihre kleinen Zöglinge behandelte,
und bezeigte darüber seinen entschiedenen Beifall.
»Sehr richtig heben Sie«, sagte er, »Ihre Untergebenen nur zur nächsten Brauchbarkeit heran.
Reinlichkeit veranlasst die Kinder, mit Freuden etwas auf sich selbst zu halten, und alles ist gewonnen, wenn sie das,
was sie tun, mit Munterkeit und Selbstgefühl zu leisten angeregt sind.«

Übrigens fand er zu seiner großen Befriedigung nichts auf den Schein und nach außen getan, sondern alles
nach innen und für die unerlässlichen Bedürfnisse.
»Mit wie wenig Worten«, rief er aus, »ließe sich das ganze Erziehungsgeschäft aussprechen,
wenn jemand Ohren hätte zu hören!«

»Mögen Sie es nicht mit mir versuchen?«, fragte freundlich Ottilie.

»Recht gern«, versetzte jener; »nur müssen Sie mich nicht verraten.
Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird es überall wohl stehn.«

»Zu Müttern«, versetzte Ottilie, »das könnten die Frauen noch hingehen lassen, da sie sich,
ohne Mütter zu sein, doch immer einrichten müssen, Wärterinnen zu werden; aber freilich zu Dienern würden
sich unsre jungen Männer viel zu gut halten, da man jedem leicht ansehen kann, dass er sich zum Gebieten fähiger dünkt.«

»Deswegen wollen wir es ihnen verschweigen«, sagte der Gehilfe.
»Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns nicht.
Wieviel Menschen mögen denn das freiwillig zugestehen, was sie am Ende doch müssen?
Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier nicht berühren!

Ich preise Sie glücklich, dass Sie bei Ihren Zöglingen ein richtiges Verfahren anwenden können.
Wenn Ihre kleinsten Mädchen sich mit Puppen herumtragen und einige Läppchen für sie zusammenflicken,
wenn ältere Geschwister alsdann für die jüngern sorgen und das Haus sich in sich selbst bedient und aufhilft:
dann ist der weitere Schritt ins Leben nicht groß, und ein solches Mädchen findet bei ihrem Gatten, was sie bei
ihren Eltern verließ.

Aber in den gebildeten Ständen ist die Aufgabe sehr verwickelt.
Wir haben auf höhere, zartere, feinere, besonders auf gesellschaftliche Verhältnisse Rücksicht zu nehmen.
Wir andern sollen daher unsre Zöglinge nach außen bilden; es ist notwendig, es ist unerlässlich und
möchte recht gut sein, wenn man dabei nicht das Maß überschritte; denn indem man die Kinder für
einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn
eigentlich die innere Natur fordert. Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern gelöst oder
verfehlt wird.

Bei Manchem, womit wir unsere Schülerinnen in der Pension ausstatten, wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von
wie geringem Gebrauch es künftig sein werde. Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit
überantwortet, sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Hausfrau, der Mutter befindet!

Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich einmal diesem Geschäft gewidmet habe, dass es
mir dereinst in Gesellschaft einer treuen Gehilfin gelingen möge, an meinen Zöglingen dasjenige rein auszubilden,
was sie bedürfen, wenn sie in das Feld eigener Tätigkeit und Selbständigkeit hinüberschreiten; dass
ich mir sagen könnte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet.
Freilich schließt sich eine andere immer wieder an, die beinahe mit jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns
selbst, doch von den Umständen veranlasst wird.«

Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung!
Was hatte nicht eine ungeahnte Leidenschaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen! Was sah sie nicht alles für
Prüfungen vor sich schweben, wenn sie nur aufs Nächste, aufs Nächstkünftige hinblickte!

Der junge Mann hatte nicht ohne Vorbedacht einer Gehilfin, einer Gattin erwähnt; denn bei aller seiner Bescheidenheit
konnte er nicht unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja er war durch mancherlei Umstände
und Vorfälle aufgeregt worden, bei diesem Besuch einige Schritte seinem Ziele näher zu tun.

Die Vorsteherin der Pension war bereits in Jahren; sie hatte sich unter ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schon
lange nach einer Person umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft träte, und zuletzt dem Gehilfen, dem sie
zu vertrauen höchlich Ursache hatte, den Antrag getan, er solle mit ihr die Lehranstalt fortführen, darin als
in dem Seinigen mitwirken und nach ihrem Tode als Erbe und einziger Besitzer eintreten. Die Hauptsache schien hiebei, dass
er eine einstimmende Gattin finden müsse. Er hatte im Stillen Ottilien vor Augen und im Herzen; allein es regten
sich mancherlei Zweifel, die wieder durch günstige Ereignisse einiges Gegengewicht erhielten. Luciane hatte die
Pension verlassen, Ottilie konnte freier zurückkehren; von dem Verhältnisse zu Eduard hatte zwar etwas verlautet,
allein man nahm die Sache, wie ähnliche Vorfälle mehr, gleichgültig auf, und selbst dieses Ereignis konnte
zu Ottiliens Rückkehr beitragen. Doch wäre man zu keinem Entschluss gekommen, kein Schritt wäre geschehen,
hätte nicht ein unvermuteter Besuch auch hier eine besondere Anregung gegeben, wie denn die Erscheinung von bedeutenden
Menschen in irgendeinem Kreise niemals ohne Folgen bleiben kann.

Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, über den Wert verschiedener Pensionen befragt zu werden,
weil fast jedermann um die Erziehung seiner Kinder verlegen ist, hatten sich vorgenommen, diese besonders kennen zu lernen,
von der soviel Gutes gesagt wurde, und konnten nunmehr in ihren neuen Verhältnissen zusammen eine solche Untersuchung anstellen.
Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas anderes. Während ihres letzten Aufenthalts bei Charlotten hatte sie mit
dieser alles umständlich durchgesprochen, was sich auf Eduarden und Ottilien bezog.
Sie bestand aber- und abermals darauf: Ottilie müsse entfernt werden.
Sie suchte Charlotten hiezu Mut einzusprechen, welche sich vor Eduards Drohungen noch immer fürchtete.
Man sprach über die verschiedenen Auswege, und bei Gelegenheit der Pension war auch von der Neigung des Gehilfen die
Rede, und die Baronesse entschloss sich um so mehr zu dem gedachten Besuch.

Sie kommt an, lernt den Gehilfen kennen, man beobachtet die Anstalt und spricht von Ottilien. Der Graf selbst unterhält
sich gern über sie, indem er sie bei dem neulichen Besuch genauer kennen gelernt. Sie hatte sich ihm genähert, ja sie
ward von ihm angezogen, weil sie durch sein gehaltvolles Gespräch dasjenige zu sehen und zu kennen glaubte, was ihr
bisher ganz unbekannt geblieben war. Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, so schien ihr in der
Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wünschenswert zu sein. Jede Anziehung ist wechselseitig.
Der Graf empfand eine Neigung für Ottilien, dass er sie gern als seine Tochter betrachtete.
Auch hier war sie der Baronesse zum zweiten Mal und mehr als das erste Mal im Wege. Wer weiß, was diese in Zeiten
lebhafterer Leidenschaft gegen sie angestiftet hätte! Jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen
unschädlicher zu machen.

Sie regte daher den Gehilfen auf eine leise, doch wirksame Art klüglich an, dass er sich zu einer kleinen Exkursion
auf das Schloss einrichten und seinen Planen und Wünschen, von denen er der Dame kein Geheimnis gemacht, sich
ungesäumt nähern solle.

Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise an und hegte in seinem Gemüte die besten Hoffnungen.
Er weiß, Ottilie ist ihm nicht ungünstig; und wenn zwischen ihnen einiges Missverständnis des Standes war,
so glich sich dieses gar leicht durch die Denkart der Zeit aus. Auch hatte die Baronesse ihn wohl fühlen lassen, dass
Ottilie immer ein armes Mädchen bleibe. Mit einem reichen Hause verwandt zu sein, hieß es, kann niemandem helfen;
denn man würde sich selbst bei dem größten Vermögen ein Gewissen daraus machen, denjenigen eine ansehnliche
Summe zu entziehen, die dem näheren Grade nach ein vollkommeneres Recht auf ein Besitztum zu haben scheinen.
Und gewiss bleibt es wunderbar, dass der Mensch das große Vorrecht, nach seinem Tode noch über seine Habe zu
disponieren, sehr selten zugunsten seiner Lieblinge gebraucht und, wie es scheint, aus Achtung für das Herkommen nur
diejenigen begünstigt, die nach ihm sein Vermögen besitzen würden, wenn er auch selbst keinen Willen hätte.

Sein Gefühl setzte ihn auf der Reise Ottilien völlig gleich. Eine gute Aufnahme erhöhte seine Hoffnungen.
Zwar fand er gegen sich Ottilien nicht ganz so offen wie sonst; aber sie war auch erwachsener, gebildeter und, wenn man will,
im Allgemeinen mitteilender, als er sie gekannt hatte. Vertraulich ließ man ihn in manches Einsicht nehmen, was sich
besonders auf sein Fach bezog. Doch wenn er seinem Zwecke sich nähern wollte, so hielt ihn immer eine gewisse innere
Scheu zurück.

Einst gab ihm jedoch Charlotte hiezu Gelegenheit, indem sie in Beisein Ottiliens zu ihm sagte: »Nun, Sie haben alles,
was in meinem Kreise heranwächst, so ziemlich geprüft; wie finden Sie denn Ottilien?
Sie dürfen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen.«

Der Gehilfe bezeichnete hierauf mit sehr viel Einsicht und ruhigem Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freieren
Betragens, einer bequemeren Mitteilung, eines höheren Blicks in die weltlichen Dinge, der sich mehr in ihren Handlungen
als in ihren Worten betätige, sehr zu ihrem Vorteil verändert finde, dass er aber doch glaube, es könne ihr
sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension zurückkehre, um das in einer gewissen Folge
gründlich und für immer sich zuzueignen, was die Welt nur stückweise und eher zur Verwirrung als zur
Befriedigung, ja manchmal nur allzu spät überliefere. Er wolle darüber nicht weitläufig sein; Ottilie
wisse selbst am besten, aus was für zusammenhängenden Lehrvorträgen sie damals herausgerissen worden.

Ottilie konnte das nicht leugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was sie bei diesen Worten empfand, weil sie sich es
kaum selbst auszulegen wusste.
Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff
nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zusammenhängen könne.

Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit.
Sie sagte, dass sowohl sie als Ottilie eine Rückkehr nach der Pension längst gewünscht hätten.
In dieser Zeit nur sei ihr die Gegenwart einer so lieben Freundin und Helferin unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in
der Folge nicht hinderlich sein, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe, wieder auf so lange dorthin zurückzukehren,
bis sie das Angefangene geendet und das Unterbrochene sich vollständig zugeeignet.

Der Gehilfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie durfte nichts dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedanken
schauderte. Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte, Eduard sollte sich erst als glücklicher Vater
wiederfinden und einfinden, dann, war sie überzeugt, würde sich alles geben und auch für Ottilien auf
eine oder die andere Weise gesorgt werden.

Nach einem bedeutenden Gespräch, über welches alle Teilnehmenden nachzudenken haben, pflegt ein
gewisser Stillstand einzutreten, der einer allgemeinen Verlegenheit ähnlich sieht.
Man ging im Saale auf und ab, der Gehilfe blätterte in einigen Büchern und kam endlich an den Folioband,
der noch von Lucianens Zeiten her liegen geblieben war. Als er sah, dass darin nur Affen enthalten waren, schlug er
ihn gleich wieder zu. Dieser Vorfall mag jedoch zu einem Gespräch Anlass gegeben haben, wovon wir die Spuren in
Ottiliens Tagebuch finden.
Aus Ottiliens Tagebuche
Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig abzubilden!
Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem
Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.
Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit Karikaturen und Zerrbildern abzugeben.
Unserm guten Gehilfen danke ich's, dass ich nicht mit der Naturgeschichte gequält worden bin; ich konnte mich
mit den Würmern und Käfern niemals befreunden.
Diesmal gestand er mir, dass es ihm ebenso gehe.
»Von der Natur«, sagte er, »sollten wir nichts kennen, als was uns unmittelbar lebendig umgibt.
Mit den Bäumen, die um uns blühen, grünen, Frucht tragen, mit jeder Staude, an der wir vorbeigehen,
mit jedem Grashalm, über den wir hinwandeln, haben wir ein wahres Verhältnis; sie sind unsre echten Kompatrioten.
Die Vögel, die auf unsern Zweigen hin und wider hüpfen, die in unserm Laube singen, gehören uns an,
sie sprechen zu uns von Jugend auf, und wir lernen ihre Sprache verstehen.
Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschöpf einen gewissen ängstlichen
Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird.
Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben dazu, um Affen, Papageien und Mohren um sich zu
ertragen.«
Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden
beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltäglicher Verbindung sieht.
Aber auch er wird ein anderer Mensch.
Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo
Elefanten und Tiger zu Hause sind.
Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller
Nachbarschaft jedes Mal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß.
Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!
Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische Grabstätte, wo die verschiedenen Tier- und
Pflanzengötzen balsamiert umherstehen.
Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnisvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen
Unterricht sollte dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als etwas Näheres und Würdigeres
sich dadurch leicht verdrängt sieht.
Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet
mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert;
denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies wissen können, dass das Menschengebild am Vorzüglichsten
und Einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.
Dem Einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was
ihm nützlich deucht; aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.