Siebentes Kapitel

Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung fand, so war die Folge, dass
sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte. Für sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche
Neigung in seinem Herzen. Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; dass sie es gegen ihn am
meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen. Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er sie
liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und was dergleichen mehr
ist, entging ihr nicht. Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er eine
übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau, der es nicht luftig genug sein konnte,
manchmal in Widerspruch geriet. Ebenso wusste sie im Baum- und Blumengarten Bescheid. Was er wünschte,
suchte sie zu befördern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhüten, dergestalt dass sie in
Kurzem wie ein freundlicher Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit schon peinlich
zu empfinden. Hiezu kam noch, dass sie gesprächtiger und offener schien, sobald sie sich allein trafen.

Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens besonders zusagte.
Sie erinnerten sich gern früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen bis in die
ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie wollte sich der beiden noch als des schönsten
Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher Jugend absprach,
so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch vollkommen gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal
bei seinem Hereintreten in Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer
Überraschung. Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften Eindruck auf sie gemacht, weil
er ihr gar so wohl gefallen.

Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden Freunde zusammen früher
vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten, sodass sie für nötig fanden, sich wieder
eine Übersicht zu verschaffen, einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben. Sie bestellten
sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten Kopisten müßig fanden. Sie gingen an die Arbeit
und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken, dass sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu
verrichten gewohnt waren. Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief Eduarden
nicht gelingen. Sie quälten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis endlich Eduard,
dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit fragte.

Da zeigte sich denn, dass der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das
erste Mal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, dass die Zeit anfange,
ihnen gleichgültig zu werden.

Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen, wuchs vielmehr
die Tätigkeit der Frauen. Überhaupt nimmt die gewöhnliche Lebensweise einer Familie,
die aus den gegebenen Personen und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl eine außerordentliche
Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie ein Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit
vergehen, ehe dieses neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über
den Rand schwillt.

Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen von der angenehmsten Wirkung. Die Gemüter
öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte sich
glücklich und gönnte dem andern sein Glück.

Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und alles, was man tut und vornimmt,
hat eine Richtung gegen das Unermessliche. So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen.
Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit Ottilien, die Pfade zu wählen,
die Wege zu bahnen, vorauseilte, so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung,
teilnehmend an manchem neu entdeckten Plätzchen, an mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur
jener rascheren Vorgänger.

Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schlosspforte des rechten Flügels hinunter nach dem
Gasthofe, über die Brücke gegen die Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewöhnlich
das Wasser verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Hügel und weiterhin von Felsen eingeschlossen,
aufhörte, gangbar zu sein.

Aber Eduard, dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war, drang mit Ottilien auf einem bewachsenen
Pfade weiter vor, wohl wissend, dass die alte, zwischen Felsen versteckte Mühle nicht weit ab liegen konnte.
Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich im dichten Gebüsch zwischen moosigen
Gestein verirrt, doch nicht lange; denn das Rauschen der Räder verkündigte ihnen sogleich die
Nähe des gesuchten Ortes.

Auf eine Klippe vorwärts tretend, sahen sie das alte, schwarze, wunderliche Holzgebäude im Grunde vor
sich, von steilen Felsen sowie von hohen Bäumen umschattet. Sie entschlossen sich kurz und gut, über
Moos und Felstrümmer hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in die Höhe sah und Ottilie leicht
schreitend, ohne Furcht und Ängstlichkeit, im schönsten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte,
glaubte er ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte. Und wenn sie nun manchmal an unsicherer
Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stützte, dann konnte er sich nicht
verleugnen, dass es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn berührte. Fast hätte er gewünscht,
sie möchte straucheln, gleiten, dass er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken
könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fürchtete
sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.

Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. Denn als er nun herab gelangt, ihr unter den hohen Bäumen am
ländlichen Tische gegenüber saß, die freundliche Müllerin nach Milch, der bewillkommende
Müller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an:

»Ich habe eine Bitte,liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die, wenn Sie mir sie auch versagen!
Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht es auch nicht, dass Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust
ein Miniaturbild tragen. Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt und der
in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient. Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt
groß, und dieses Metall, dieses Glas macht mir tausend Ängste, wenn Sie ein Kind in die Höhe
heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt,wenn wir durchs Gebüsch dringen, eben jetzt,
wie wir vom Felsen herabstiegen. Mir ist die Möglichkeit schrecklich, dass irgendein unvorgesehener
Stoß, ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein könnte.
Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie
ihm den schönsten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas, dessen
Nähe mir, vielleicht aus übertriebener Ängstlichkeit, so gefährlich scheint!«

Ottilie schwieg und hatte, während er sprach, vor sich hin gesehen; dann, ohne Übereilung und ohne
Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, löste sie die Kette, zog das Bild hervor,
drückte es gegen ihre Stirn und reichte es dem Freunde hin mit den Worten: »Heben Sie mir es auf,
bis wir nach Hause kommen! Ich vermag Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre freundliche Sorgfalt
zu schätzen weiß.«

Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er fasste ihre Hand und drückte
sie an seine Augen. Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen.
Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm
und Ottilien niedergelegt hätte.

Vom Müller geführt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem bequemeren Pfade herunter.
Man begrüßte sich, man erfreute und erquickte sich. Zurück wollte man denselben Weg nicht
kehren, und Eduard schlug einen Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche wieder
zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung zurücklegte. Nun durchstrich man abwechselndes
Gehölz und erblickte nach dem Lande zu mancherlei Dörfer, Flecken, Meiereien mit ihren grünen
und fruchtbaren Umgebungen; zunächst ein Vorwerk, das an der Höhe mitten im Holze gar vertraulich
lag. Am schönsten zeigte sich der größte Reichtum der Gegend, vor- und rückwärts,
auf der sanft erstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen Wäldchen gelangte und beim Heraustreten
aus demselben sich auf dem Felsen dem Schlosse gegenüber befand.

Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermaßen unvermutet ankamen! Sie hatten eine kleine Welt
umgangen; sie standen auf dem Platze, wo das neue Gebäude hinkommen sollte, und sahen wieder in die
Fenster ihrer Wohnung.

Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren. Nichts war natürlicher,
als dass einstimmig der Wunsch ausgesprochen wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne
Beschwerlichkeit gemacht, möchte dergestalt geführt und eingerichtet werden, dass man ihn gesellig,
schlendernd und mit Behaglichkeit zurücklegen könnte. Jedes tat Vorschläge, und man berechnete,
dass der Weg, zu welchem sie mehrere Stunden gebraucht hatten, wohl gebahnt in einer Stunde zum Schloss
zurückführen müsste. Schon legte man in Gedanken unterhalb der Mühle, wo der Bach
in die Teiche fließt, eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke an, als Charlotte
der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand gebot, indem sie an die Kosten erinnerte, welche zu einem
solchen Unternehmen erforderlich sein würden.

»Hier ist auch zu helfen«, versetzte Eduard. »Jenes Vorwerk im Walde, das so schön
zu liegen scheint und so wenig einträgt, dürfen wir nur veräußern und das daraus
Gelöste zu diesen Anlagen verwenden, so genießen wir vergnüglich auf einem
unschätzbaren Spaziergange die Interessen eines wohl angelegten Kapitals, da wir jetzt mit Missmut,
bei letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine kümmerliche Einnahme davon ziehen.«

Charlotte selbst konnte als gute Haushälterin nicht viel dagegen erinnern. Die Sache war schon
früher zur Sprache gekommen. Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstücke
unter die Waldbauern machen; Eduard aber wollte kürzer und bequemer verfahren wissen. Der gegenwärtige
Pachter, der schon Vorschläge getan hatte, sollte es erhalten, terminweise zahlen, und so terminweise wollte
man die planmäßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vornehmen. So eine vernünftige,
gemäßigte Einrichtung musste durchaus Beifall finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste
die neuen Wege sich schlängeln, auf denen und in deren Nähe man noch die angenehmsten Ruhe- und
Aussichtsplätze zu entdecken hoffte.

Um sich alles mehr im einzelnen zu vergegenwärtigen, nahm man abends zu Hause sogleich die neue Karte vor.
Man übersah den zurückgelegten Weg und wie er vielleicht an einigen Stellen noch vorteilhafter zu
führen wäre. Alle früheren Vorsätze wurden nochmals durchgesprochen und mit den
neuesten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses gegen dem Schloss über nochmals gebilligt und
der Kreislauf der Wege bis dahin abgeschlossen.

Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan, der bisher vor Charlotten gelegen, vor
sie hinwandte und sie zugleich einlud, ihre Meinung zu sagen, und, als sie einen Augenblick anhielt, sie
liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen; alles sei ja noch gleichgültig, alles noch im Werden.

»Ich würde«, sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die höchste Fläche der
Anhöhe setzte, »das Haus hieher bauen. Man sähe zwar das Schloss nicht, denn es wird von
dem Wäldchen bedeckt; aber man befände sich auch dafür wie in einer andern und neuen Welt,
indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen wären. Die Aussicht auf die Teiche, nach der
Mühle, auf die Höhen, in die Gebirge, nach dem Lande zu ist außerordentlich schön; ich
habe es im Vorbeigehen bemerkt.«

»Sie hat recht!«, rief Eduard. »Wie konnte uns das nicht einfallen! Nicht wahr,
so ist es gemeint, Ottilie?« Er nahm einen Bleistift und strich ein längliches Viereck recht
stark und derb auf die Anhöhe.

Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele, denn er sah einen sorgfältigen, reinlich gezeichneten Plan
ungern auf diese Weise verunstaltet; doch fasste er sich nach einer leisen Missbilligung und
ging auf den Gedanken ein. »Ottilie hat recht«, sagte er; »macht man nicht gern eine
entfernte Spazierfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu genießen, der uns zu Hause nicht
so gut geschmeckt hätte? Wir verlangen Abwechselung und fremde Gegenstände.
Das Schloss haben die Alten mit Vernunft hieher gebaut, denn es liegt geschützt vor den Winden und
nah an allen täglichen Bedürfnissen; ein Gebäude hingegen, mehr zum geselligen Aufenthalt
als zur Wohnung, wird sich dorthin recht wohl schicken und in der guten Jahrszeit die angenehmsten Stunden
gewähren.«

Je mehr man die Sache durchsprach, desto günstiger erschien sie, und Eduard konnte seinen Triumph
nicht bergen, dass Ottilie den Gedanken gehabt. Er war so stolz darauf, als ob die Erfindung sein
gewesen wäre.