Nachschrift der Vorsteherin
»Von Ottilien, meine Gnädige, hätte ich eigentlich nur zu
wiederholen, was in meinen vorigen Berichten enthalten ist.
Ich wüsste sie nicht zu schelten, und doch kann ich nicht
zufrieden mit ihr sein. Sie ist nach wie vor bescheiden und gefällig gegen andere;
aber dieses Zurücktreten, diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen.
Euer Gnaden haben ihr neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt.
Das erste hat sie nicht angegriffen, die andern liegen auch noch da, unberührt.
Sie hält freilich ihre Sachen sehr reinlich und gut und
scheint nur in diesem Sinn die Kleider zu wechseln.
Auch kann ich ihre große Mäßigkeit im Essen und Trinken nicht loben.
An unserm Tisch ist kein Überfluss; doch sehe ich nichts lieber, als
wenn die Kinder sich an schmackhaften und gesunden Speisen satt essen.
Was mit Bedacht und Überzeugung aufgetragen und vorgelegt ist, soll auch aufgegessen werden.
Dazu kann ich Ottilien niemals bringen. Ja, sie macht sich irgendein Geschäft, um eine Lücke
auszufüllen, wo die Dienerinnen etwas versäumen, nur um eine Speise oder
den Nachtisch zu übergehen. Bei diesem allen kommt jedoch in Betrachtung, dass sie
manchmal, wie ich erst spät erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite
hat, das zwar vorüber geht, aber schmerzlich und bedeutend sein mag.
Soviel von diesem übrigens so schönen und lieben Kinde.«
Beilage des Gehilfen
»Unsere vortreffliche Vorsteherin lässt mich gewöhnlich die
Briefe lesen, in welchen sie Beobachtungen über ihre Zöglinge den Eltern
und Vorgesetzten mitteilt. Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind, lese ich
immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergnügen; denn indem
wir Ihnen zu einer Tochter Glück zu wünschen haben, die alle jene
glänzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt emporsteigt,
so muss ich wenigstens Sie nicht minder glücklich preisen, dass Ihnen in
Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl, zur
Zufriedenheit anderer und gewiss auch zu seinem eigenen Glück geboren ward.
Ottilie ist fast unser einziger Zögling, über den ich mit
unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann.
Ich verarge dieser tätigen Frau keinesweges, dass sie
verlangt, man soll die Früchte ihrer Sorgfalt äußerlich und deutlich
sehen; aber es gibt auch verschlossene Früchte, die erst die rechten,
kernhaften sind und die sich früher oder später zu einem schönen Leben
entwickeln. Dergleichen ist gewiss Ihre Pflegetochter.
Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen
Schrittes gehen, langsam, langsam vorwärts, nie zurück.
Wenn es bei einem Kinde nötig ist, vom Anfange anzufangen,
so ist es gewiss bei ihr. Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht.
Sie steht unfähig, ja stöckisch vor einer leicht fasslichen
Sache, die für sie mit nichts zusammenhängt. Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich
machen, so ist ihr das Schwerste begreiflich.
Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschülerinnen zurück,
die mit ganz andern Fähigkeiten immer vorwärts eilen, alles, auch das Unzusammenhängende, leicht fassen,
leicht behalten und bequem wieder anwenden. So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten
Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche
von trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden.
Man hat über ihre Handschrift geklagt, über ihre Unfähigkeit,
die Regeln der Grammatik zu fassen. Ich habe diese Beschwerde näher untersucht:
es ist wahr, sie schreibt langsam und steif, wenn man so will, doch nicht zaghaft und
ungestalt. Was ich ihr von der französischen Sprache, die zwar mein
Fach nicht ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht.
Freilich ist es wunderbar: sie weiß vieles und recht gut;
nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen.
Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, so
möchte ich sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll,
sondern als eine, die erziehen will; nicht als Schülerin, sondern als
künftige Lehrerin. Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, dass ich
selbst als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als
wenn ich ihn für meinesgleichen erkläre. Euer Gnaden bessere Einsicht, tiefere Menschen- und
Weltkenntnis wird aus meinen beschränkten, wohlgemeinten Worten das Beste
nehmen. Sie werden sich überzeugen, dass auch an diesem Kinde viel
Freude zu hoffen ist. Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubnis,
wieder zu schreiben, sobald ich glaube, dass mein Brief etwas Bedeutendes
und Angenehmes enthalten werde.«

Charlotte freute sich über dieses Blatt. Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vorstellungen zusammen,
welche sie von Ottilien hegte; dabei konnte sie sich eines Lächelns nicht
enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als
ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zöglings hervorzubringen pflegt.
Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien Denkweise ließ sie auch
ein solches Verhältnis, wie so viele andre, vor sich liegen; die
Teilnahme des verständigen Mannes an Ottilien hielt sie wert; denn sie
hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre
Neigung zu schätzen sei in einer Welt, wo Gleichgültigkeit und Abneigung
eigentlich recht zu Hause sind.
Viertes Kapitel

Die topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen
Umgebungen nach einem ziemlich großen Maßstabe charakteristisch und
fasslich durch Federstriche und Farben dargestellt war und welche der
Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gründen wusste,
war bald fertig; denn weniger Schlaf als dieser tätige Mann bedurfte
kaum jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet
und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.

»Lass uns nun«, sagte er zu seinem Freunde, »an das
Übrige gehen, an die Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da
sein muss, aus der sich nachher Pachtanschläge und anderes schon
entwickeln werden. Nur Eines lass uns festsetzen und einrichten: trenne alles,
was eigentlich Geschäft ist, vom Leben! Das Geschäft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkür;
das Geschäft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft Not,
ja sie ist liebenswürdig und erheiternd. Bist du bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern
desto freier sein, anstatt dass bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie weggerissen und aufgehoben wird.«

Eduard fühlte in diesen Vorschlägen einen leisen Vorwurf. Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er
doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fächern abzuteilen.
Das, was er mit andern abzutun hatte, was bloß von ihm
selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschäfte und
Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander
absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemühung
übernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich
nicht immer sich spalten mag.

Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur
für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle
Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedene Behältnissen, Kammern,
Schränken und Kisten herbei, und auf das Geschwindeste war der Wust in
eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fächern.
Was man wünschte, ward vollständiger gefunden, als man
gehofft hatte. Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der
den Tag über, ja einen Teil der Nacht, nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard
bisher immer unzufrieden gewesen war. »Ich kenne ihn nicht mehr«, sagte Eduard zu seinem Freund,
»wie tätig und brauchbar der Mensch ist«. »Das macht«, versetzte der Hauptmann, »wir tragen ihm
nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat; und so leistet
er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stört, vermag er gar nichts«.

Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so versäumten sie abends
nicht, Charlotten regelmäßig zu besuchen. Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und
Gütern, welches öfters geschah, so war das Gespräch wie das Lesen meist
solchen Gegenständen gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und das Behagen der
bürgerlichen Gesellschaft vermehren.

Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fühlte sich, indem sie ihren
Mann zufrieden sah, auch persönlich gefördert. Verschiedene häusliche Anstalten, die sie
längst gewünscht, aber nicht recht einleiten können, wurden durch die Tätigkeit des
Hauptmanns bewirkt. Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln
bestanden, ward bereichert und Charlotte, sowohl durch fassliche Bücher
als durch Unterredung in den Stand gesetzt, ihr tätiges und hilfreiches
Wesen öfter und wirksamer als bisher in Übung zu bringen.

Da man auch die gewöhnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft
überraschenden Notfälle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung der
Ertrunkenen nötig sein möchte, umso mehr angeschafft, als bei der Nähe
so mancher Teiche, Gewässer und Wasserwerke öfters ein und der andere
Unfall dieser Art vorkam. Diese Rubrik besorgte der Hauptmann sehr ausführlich, und
Eduarden entschlüpfte die Bemerkung, dass ein solcher Fall in dem Leben
seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht. Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung
auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte,
die nicht weniger im Allgemeinen davon unterrichtet war, über jene
Äußerungen hinausging.

»Wir wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben«,
sagte eines Abends der Hauptmann; »nun geht uns aber das Notwendigste
noch ab, ein tüchtiger Mann, der das alles zu handhaben weiß.
Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen,
der jetzt um leidliche Bedingung zu haben ist, ein vorzüglicher Mann in
seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer Übel öfters
mehr Genüge getan hat als ein berühmter Arzt; und augenblickliche Hilfe
ist doch immer das, was auf dem Lande am meisten vermisst wird.«

Auch dieser wurde sogleich verschrieben, und beide Gatten freuten sich, dass sie so manche Summe, die ihnen zu willkürlichen
Ausgaben übrig blieb, auf die nötigsten zu verwenden Anlass gefunden.

So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Tätigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart völlig
zufrieden und über alle Folgen beruhigt zu werden. Sie bereitete sich gewöhnlich vor, manches zu fragen, und
da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schädliche, alles Tödliche
zu entfernen. Die Bleiglasur der Töpferwaren, der Grünspan kupferner
Gefäße hatte ihr schon manche Sorge gemacht. Sie ließ sich hierüber belehren, und natürlicherweise musste
man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zurückgehen.

Zufälligen, aber immer willkommenen Anlass zu solchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen.
Er hatte eine sehr wohlklingende, tiefe Stimme und war früher wegen lebhafter, gefühlter Rezitation dichterischer und
rednerischer Arbeiten angenehm und berühmt gewesen. Nun waren es andre Gegenstände, die ihn beschäftigten,
andre Schriften, woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzüglich Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts.

Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menschen teilt, war die, dass es ihm unerträglich fiel, wenn
jemand ihm beim Lesen in das Buch sah. In früherer Zeit, beim Vorlesen von Gedichten, Schauspielen,
Erzählungen, war es die natürliche Folge der lebhaften Absicht, die
der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzählende
hat, zu überraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es
denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm
ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt. Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu
setzen, dass er niemand im Rücken hatte. Jetzt zu dreien war diese Vorsicht unnötig; und da es
diesmal nicht auf Erregung des Gefühls, auf Überraschung der Einbildungskraft angesehen war, so dachte er selbst nicht daran, sich
sonderlich in Acht zu nehmen.

Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlässig gesetzt hatte, dass Charlotte ihm in das Buch sah.
Seine alte Ungeduld erwachte, und er verwies es ihr, gewissermaßen unfreundlich: »Wollte man
sich doch solche Unarten, wie so manches andre, was der Gesellschaft lästig ist, ein für allemal
abgewöhnen! Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht, als wenn ich ihm mündlich etwas vortrüge?
Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und würde ich mich wohl zu reden
bemühen, wenn ein Fensterchen vor meiner Stirn, vor meiner Brust angebracht wäre, sodass der, dem ich meine Gedanken einzeln zuzählen,
meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vorher wissen könnte, wo es mit mir hinaus wollte?
Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde.«

Charlotte, deren Gewandtheit sich in größeren und kleineren Zirkeln besonders dadurch bewies, dass sie jede unangenehme, jede heftige,
ja selbst nur lebhafte Äußerung zu beseitigen, ein sich verlängerndes
Gespräch zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wusste, war auch
diesmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen: »Du wirst mir meinen
Fehler gewiss verzeihen, wenn ich bekenne, was mir diesen Augenblick begegnet ist.
Ich hörte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich eben gleich an meine Verwandten,
an ein paar Vettern, die mir gerade in diesem Augenblick zu schaffen machen.
Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zurück; ich
höre, dass von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch,
um mich wieder zurechtzufinden.«

»Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat«, sagte Eduard.
»Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziss; er bespiegelt sich überall gern
selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter.«

»Jawohl!«, fuhr der Hauptmann fort; »so behandelt er alles, was er außer sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit,
seinen Willen wie seine Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Göttern«.
»Möchtet ihr mich«, versetzte Charlotte, »da ich euch nicht zu weit von dem augenblicklichen Interesse wegführen will, nur
kürzlich belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint sei?«

»Das will ich wohl gerne tun«, erwiderte der Hauptmann, gegen den sich Charlotte gewendet hatte,
»freilich nur so gut, als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es
gelesen habe. Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so darüber denkt,
ob es zu den neuern Lehren passt, wüsste ich nicht zu sagen.«

»Es ist schlimm genug«, rief Eduard, »dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann.
Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen,
wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.«

»Wir Frauen«, sagte Charlotte, »nehmen es nicht so genau; und wenn ich aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den
Wortverstand zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet.
Deshalb möchte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenständen gebraucht wird.
Wie es wissenschaftlich damit zusammenhänge, wollen wir den Gelehrten überlassen, die übrigens, wie ich habe bemerken können, sich
wohl schwerlich jemals vereinigen werden.«

»Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?«, fragte Eduard nach einer Pause
den Hauptmann, der, sich ein wenig bedenkend, bald darauf erwiderte:

»Wenn es mir erlaubt ist, dem Scheine nach weit auszuholen, so sind wir bald am Platze.«

»Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert«, sagte Charlotte, indem sie ihre Arbeit beiseite legte.

Und so begann der Hauptmann: »An allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst,
dass sie einen Bezug auf sich selbst haben. Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht,
was sich ohnehin versteht; doch nur indem man sich über das Bekannte
völlig verständig hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten.«

»Ich dächte«, fiel ihm Eduard ein, »wir machten ihr und uns die Sache durch Beispiele bequem.
Stelle dir nur das Wasser, das Öl, das Quecksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Teile finden.
Diese Einung verlassen sie nicht, außer durch Gewalt oder sonstige Bestimmung. Ist diese beseitigt, so treten
sie gleich wieder zusammen.«

»Ohne Frage«, sagte Charlotte beistimmend. »Regentropfen vereinigen sich gern zu Strömen.
Und schon als Kinder spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem wir es in Kügelchen trennen und es
wieder zusammenlaufen lassen.«

»Und so darf ich wohl«, fügte der Hauptmann hinzu, »eines bedeutenden Punktes im
flüchtigen Vorbeigehen erwähnen, dass nämlich dieser völlig reine, durch
Flüssigkeit mögliche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet.
Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberkügelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes
geschmolzenes Blei, wenn es Zeit hat, völlig zu erstarren, kommt unten
in Gestalt einer Kugel an.«

»Lassen Sie mich voreilen«, sagte Charlotte, »ob ich treffe, wo Sie hinwollen.
Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muss es auch gegen andere ein Verhältnis haben.«

»Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein«, fuhr Eduard eilig fort.
»Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusammentreten, sich
vereinigen, ohne aneinander etwas zu verändern, wie sich Wein mit Wasser vermischt.
Dagegen werden andre fremd nebeneinander verharren und selbst
durch mechanisches Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie Öl
und Wasser, zusammengerüttelt, sich den Augenblick wieder auseinander
sondert.«

»Es fehlt nicht viel«, sagte Charlotte, »so sieht man in
diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders
aber erinnert man sich dabei der Sozietäten, in denen man lebte.
Die meiste Ähnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen
haben die Massen, die in der Welt sich einander gegenüber stellen, die
Stände, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der
Soldat und der Zivilist.«

»Und doch«, versetzte Eduard; »wie diese durch Sitten
und Gesetze vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt
Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist«.

»So verbinden wir«, fiel der Hauptmann ein, »das Öl
durch Laugensalz mit dem Wasser«.

»Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!« sagte Charlotte, »damit ich zeigen kann,
dass ich Schritt halte. Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt?«

»Ganz richtig«, erwiderte der Hauptmann; »und wir werden sie gleich
in ihrer vollen Kraft und Bestimmtheit kennen lernen. Diejenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander
schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt.
An den Alkalien und Säuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander
entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich
modifizieren und zusammen einen neuen Körper bilden, ist diese
Verwandtschaft auffallend genug. Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Säuren eine große
Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust äußert! Sobald unser chemisches Kabinett ankommt, wollen wir Sie
verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte,
Namen und Kunstausdrücke.«

»Lassen Sie mich gestehen«, sagte Charlotte, »wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht
sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes- und Seelenverwandte vor. Auf eben diese Weise können unter Menschen wahrhaft
bedeutende Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich.
Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen geheimnisvollen Wirkungen vor die Augen bringen werden.
Ich will dich«, sagte sie, zu Eduard gewendet, »jetzt im Vorlesen nicht weiter stören und, um so viel besser unterrichtet,
deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen«.

»Da du uns einmal aufgerufen hast«, versetzte Eduard, »so kommst du so leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten
Fälle die interessantesten. Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften,
die nähern, stärkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die
Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken.«

»Kommt das traurige Wort«, rief Charlotte, »das man
leider in der Welt jetzt so oft hört, auch in der Naturlehre vor?«

»Allerdings!« erwiderte Eduard. »Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker, dass
man sie Scheidekünstler nannte.«

»Das tut man also nicht mehr«, versetzte Charlotte, »und tut sehr wohl daran.
Das Vereinigen ist eine größere Kunst, ein größeres Verdienst.
Ein Einungskünstler wäre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen.
- Nun so lasst mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid,
ein paar solche Fälle wissen!«

»So schließen wir uns denn gleich«, sagte der Hauptmann, »an dasjenige wieder an, was wir oben schon
benannt und besprochen haben. Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder
weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns
in Luftform bekannt geworden ist. Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so
ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips;
jene zarte, luftige Säure hingegen entflieht. Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden,
und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein
Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde.«

»Verzeihen Sie mir«, sagte Charlotte, »wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich würde
hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende
vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit. Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und
wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in
den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!
In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muss.«

»Es kommt nur auf sie an«, versetzte der Hauptmann, »sich mit dem Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und
Kranken zur Erquickung zu dienen«.

»Der Gips hat gut reden«, sagte Charlotte; »der ist nun fertig, ist ein Körper, ist versorgt, anstatt dass jenes ausgetriebene
Wesen noch manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt«.

»Ich müsste sehr irren«, sagte Eduard lächelnd, »oder es steckt eine kleine Tücke hinter deinen Reden.
Gesteh nur deine Schalkheit! Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann,
als einer Schwefelsäure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in einen
refraktären Gips verwandelt wird.«

»Wenn das Gewissen«, versetzte Charlotte, »dich solche
Betrachtungen machen heißt, so kann ich ohne Sorge sein. Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer
spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten! Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene
Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und
Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in
sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlass recht zu bedenken.
Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige, unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentlich
Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward.«

»Da sind die Chemiker viel galanter«, sagte Eduard; »sie gesellen ein Viertes dazu, damit keines leer ausgehe«.

»Jawohl!«, versetzte der Hauptmann; »diese Fälle sind allerdings die bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen,
das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene
Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs Neue verbinden. In diesem Fahrenlassen und Ergreifen,
in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen
Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort 'Wahlverwandtschaften' für vollkommen gerechtfertigt.«

»Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!« sagte Charlotte.
»Man sollte dergleichen«, versetzte der Hauptmann,
»nicht mit Worten abtun. Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst
zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden. Jetzt müsste ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten,
die Ihnen doch keine Vorstellung gäben. Man muss diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit
innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen,
zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten:
dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu
beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen.«

»Ich leugne nicht«, sagte Eduard, »dass die seltsamen Kunstwörter demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch
Begriffe mit ihnen versöhnt ist, beschwerlich, ja lächerlich werden müssen.
Doch könnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhältnis ausdrücken, wovon hier die Rede war.«

»Wenn Sie glauben, dass es nicht pedantisch aussieht«, versetzte der Hauptmann, »so kann ich wohl in der
Zeichensprache mich kürzlich zusammenfassen. Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist,
durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie
nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu C, C zu B werfen, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit
dem andern zuerst wieder verbunden habe.«

»Nun denn!«, fiel Eduard ein; »bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten,
woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen. Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn
eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B. Das C ist ganz deutlich der Kapitän, der mich für diesmal
dir einigermaßen entzieht. Nun ist es billig, dass, wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne
Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst.«

»Gut!«, versetzte Charlotte. »Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall
passt, so halte ich es doch für ein Glück, dass wir heute einmal völlig
zusammentreffen und dass diese Natur- und Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrauliche Mitteilung beschleunigen.
Ich will es also nur gestehen, dass ich seit diesem Nachmittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen; denn meine bisherige
treue Beschließerin und Haushälterin wird abziehen, weil sie heiratet. Dies wäre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um
Ottiliens willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen. Ich will dir nicht ins Blatt sehen, aber freilich ist mir
der Inhalt schon bekannt. Doch lies nur, lies!« Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.
Fünftes Kapitel
Brief der Vorsteherin
»Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fasse! Denn ich habe nach vollendeter
öffentlicher Prüfung dessen, was wir im vergangenen Jahr an unsern Zöglingen geleistet haben,
an die sämtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz sein, weil ich
mit Wenigem viel sagen kann. Ihre Fräulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen.
Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthält, die ihr geworden sind,
und zugleich das Vergnügen ausdrückt, das sie über ein so glückliches Gelingen empfindet,
wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen. Die meinige wird dadurch einigermaßen gemindert,
dass ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer
bei uns zurückzuhalten. Ich empfehle mich zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, nächstens meine
Gedanken über das, was ich am vorteilhaftesten für sie halte, zu eröffnen. Von Ottilien
schreibt mein freundlicher Gehilfe.«
Brief des Gehilfen
»Von Ottilien lässt mich unsre ehrwürdige Vorsteherin schreiben, teils weil es ihr,
nach ihrer Art zu denken, peinlich wäre, dasjenige, was zu melden ist, zu melden, teils auch,
weil sie selbst einer Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag. Da ich nur
allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu äußern imstande ist, was in ihr
liegt und was sie vermag, so war mir vor der öffentlichen Prüfung einigermaßen bange,
um so mehr, als überhaupt dabei keine Vorbereitung möglich ist, und auch, wenn es nach der
gewöhnlichen Weise sein könnte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten wäre. Der
Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter
denen, die kein Zeugnis empfangen haben. Was soll ich viel sagen? Im Schreiben hatten andere kaum so
wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Züge; im Rechnen waren alle schneller, und an
schwierige Aufgaben, welche sie besser löst, kam es bei der Untersuchung nicht. Im Französischen
überparlierten und überexponierten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und
Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie vermisste man Aufmerksamkeit auf die
politische Einleitung. Zum musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich
weder Zeit noch Ruhe. Im Zeichnen hätte sie gewiss den Preis davongetragen; ihre Umrisse
waren rein und die Ausführung bei vieler Sorgfalt geistreich. Leider hatte sie etwas zu
Großes unternommen und war nicht fertig geworden.
Als die Schülerinnen abgetreten waren, die Prüfenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern
wenigstens einiges Wort dabei gönnten, merkte ich wohl bald, dass von Ottilien gar nicht und,
wenn es geschah, wo nicht mit Missbilligung, doch mit Gleichgültigkeit gesprochen wurde.
Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich
daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner Überzeugung sprechen konnte, und sodann,
weil ich mich in jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte. Man hörte
mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Prüfende
zwar freundlich, aber lakonisch: ›Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten
werden. Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern
und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewusste der Kinder selbst. Dies ist auch der Gegenstand
der Prüfung, wobei zugleich Lehrer und Schüler beurteilt werden. Aus dem, was wir von
Ihnen vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings
lobenswürdig, indem Sie auf die Fähigkeiten der Schülerinnen genau Acht geben.
Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer begünstigten
Schülerin nicht an Beifall mangeln.‹
In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch Übleres nicht befürchtet,
das sich bald darauf zutrug. Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren
Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt sehen möchte, konnte,
nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz
ruhig, indem die andern sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: ›Aber sagen Sie mir, um's
Himmels willen! Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?‹ Ottilie versetzte ganz gelassen:
›Verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark.‹
›Das kann niemand wissen!‹, versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich
verdrießlich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das Gesicht nicht, und ich
habe auch nicht gesehen, dass sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt hätte.
Das war noch nicht alles. Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst lebhaft und freimütig,
war im Gefühl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und übermütig. Sie sprang mit ihren
Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
›Du bist heute schlecht gefahren!‹, rief sie aus. Ganz gelassen antwortete Ottilie: ›Es ist noch
nicht der letzte Prüfungstag.‹ ›Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!‹, rief das
Fräulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte
Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts. Die linke Wange wird
auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird. Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung
konnte sich nicht zurückhalten. Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit
ihr über die Sache. Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler. Wir berieten, wir besprachen uns
lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluss und unsre
Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen. Die Gründe werden Sie sich selbst
am besten entfalten. Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des guten
Kindes. Verlässt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir
Ottilien mit Freuden zurückkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, dass Ottilie
etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte. Dagegen kommen Fälle, wiewohl
selten, dass sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert. Sie tut das mit einer Gebärde,
die für den, der den Sinn davon gefasst hat, unwiderstehlich ist. Sie drückt die flachen
Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich
nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, dass er
gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte. Sehen Sie jemals diese
Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken
Sie meiner und schonen Ottilien.«

Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lächeln und Kopfschütteln. Auch konnte es an
Bemerkungen über die Personen und über die Lage der Sache nicht fehlen.

»Genug!«, rief Eduard endlich aus; »es ist entschieden, sie kommt! Für dich wäre
gesorgt, meine Liebe, und wir dürfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorrücken. Es wird höchst
nötig, dass ich zu dem Hauptmann auf den rechten Flügel hinüberziehe. Sowohl abends als morgens
ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten. Du erhältst dagegen für dich und Ottilien auf deiner
Seite den schönsten Raum.«

Charlotte ließ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre künftige Lebensart. Unter andern rief er
aus: »Es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich
habe es manchmal auf der rechten. Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen,
sie auf den linken gestützt und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muss das
ein Paar artige Gegenbilder geben.«

Der Hauptmann wollte das gefährlich finden. Eduard hingegen rief aus: »Nehmen Sie sich nur, lieber
Freund, vor dem D in acht! Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen würde?« »Nun,
ich dächte doch«, versetzte Charlotte, »das verstünde sich von selbst«.
»Freilich«, rief Eduard; »es kehrte zu seinem A zurück, zu seinem A und O!«,
rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust drückte.
Sechstes Kapitel

Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr
zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfasste ihre Kniee.

»Wozu die Demütigung!«, sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufheben wollte.

»Es ist so demütig nicht gemeint«, versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb.
»Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an
Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiss war.«

Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich. Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit
besonderer Achtung als Gast behandelt. Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.
Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne dass sie daran teilgenommen hätte.

Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: »Es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen.«

»Unterhaltend?«, versetzte Charlotte mit Lächeln; »sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan«.

»So?«, erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, »das wäre doch wunderbar!«

Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke, wie es mit dem
Hausgeschäfte zu halten sei. Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr ist,
empfunden. Was sie für alle, für einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht.
Alles geschah pünktlich. Sie wusste anzuordnen, ohne dass sie zu befehlen schien, und
wo jemand säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich selbst.

Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrig blieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen,
die nun genau beobachtet wurden. Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehilfen
unterrichtet war. Man ließ sie gewähren. Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.
So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der Handschrift zu leiten;
aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten.

Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu reden, wenn sie allein wären, und
Charlotte beharrte um so mehr dabei, als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr
die Übung derselben zur Pflicht gemacht hatte. Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.
Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufälligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung
der ganzen Pensionsanstalt. Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr
eine zuverlässige Freundin zu finden.

Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in
Erinnerung zu bringen, was die Vorsteherin, was der Gehilfe über das gute Kind geurteilt, um es mit
ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen. Denn Charlotte war der Meinung, man könne nicht
geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen,
was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden lässt, oder was man ihnen ein für
allemal zugestehen und verzeihen muss.

Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und
auffallender. So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich
Sorge machen.

Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug. Charlotte verlangte von Ottilien,
sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen. Sogleich schnitt das gute, tätige
Kind die ihr früher geschenkten Stoffe selbst zu und wusste sie sich mit geringer Beihilfe
anderer schnell und höchst zierlich anzupassen. Die neuen, modischen Gewänder erhöhten
ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet,
so glaubt man sie immer wieder von Neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer
neuen Umgebung mitteilt.

Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, dass wir es nur mit dem rechten
Namen nennen, ein wahrer Augentrost. Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut,
ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche Schönheit
noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn. Wer sie erblickt, den
kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.

Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen. Die beiden Freunde hielten
regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte. Sie ließen weder zum
Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten. Sie eilten, besonders
abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet.
Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlass gäbe; aber sie konnte keinen
Unterschied bemerken. Beide zeigten sich überhaupt geselliger. Bei ihren Unterhaltungen schienen
sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten,
ihren übrigen Kenntnissen gemäß wäre. Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne,
bis sie wiederkam. Sie wurden milder und im ganzen mitteilender.

In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage. Je mehr sie das Haus,
die Menschen, die Verhältnisse kennen lernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand
sie jeden Blick, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut. Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer
gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit. Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen,
Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme
Bewegung. Dazu kam, dass man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf.

Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude. Ein Einziges, was ihr
nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie Ottilien nicht. »Es gehört«, sagte sie eines
Tages zu ihr, »unter die lobenswürdigen Aufmerksamkeiten, dass wir uns schnell bücken,
wenn jemand etwas aus der Hand fallen lässt, und es eilig aufzuheben suchen. Wir bekennen
uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der größern Welt dabei zu bedenken,
wem man eine solche Ergebenheit bezeigt. Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben.
Du bist jung. Gegen Höhere und Ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit,
gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer
nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen.«

»Ich will es mir abzugewöhnen suchen«, versetzte Ottilie. »Indessen werden Sie mir
diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin. Man hat uns die Geschichte
gelehrt; ich habe nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich wusste nicht,
wozu ichs brauchen würde. Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrücklich gewesen, so folgende:

Als Karl der Erste von England vor seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens,
das er trug, herunter. Gewohnt, dass bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien
er sich umzusehen und zu erwarten, dass ihm jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte. Es regte
sich niemand; er bückte sich selbst, um den Kopf aufzuheben. Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß
nicht, ob mit Recht, dass ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen sehn,
ohne mich darnach zu bücken. Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich«, fuhr sie
lächelnd fort, »nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so will ich mich künftig
mehr zurückhalten.«

Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde berufen fühlten, ununterbrochenen
Fortgang. Ja täglich fanden sie neuen Anlass, etwas zu bedenken und zu unternehmen.

Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie missfällig, wie weit es an Ordnung
und Reinlichkeit hinter jenen Dörfern zurückstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des
Raums auf beides hingewiesen werden.

»Du erinnerst dich«, sagte der Hauptmann, »wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz
den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschönern,
indem wir ein so gelegnes Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und Sauberkeit,
welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten.«

»Hier zum Beispiel«, versetzte Eduard, »ginge das wohl an. Der Schlossberg verläuft
sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbzirkel
gegenüber gebaut; dazwischen fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen,
der andere mit Pfählen, wieder einer mit Balken und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner
aber den andern fördert, vielmehr sich und den übrigen Schaden und Nachteil bringt. So geht der Weg
auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Wasser, bald über Steine. Wollten die
Leute mit Hand anlegen, so würde kein großer Zuschuss nötig sein, um hier eine Mauer
im Halbkreis aufzuführen, den Weg dahinter bis an die Häuser zu erhöhen, den schönsten
Raum herzustellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große gehende Anstalt alle kleine,
unzulängliche Sorge auf einmal zu verbannen.«

»Lass es uns versuchen!«, sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den Augen überlief
und schnell beurteilte.

»Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen
kann«, versetzte Eduard.

»Du hast so unrecht nicht«, erwiderte der Hauptmann; »denn auch mir machten dergleichen
Geschäfte im Leben schon viel Verdruss. Wie schwer ist es, dass der Mensch recht abwäge, was man
aufopfern muss gegen das, was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und die Mittel nicht
zu verschmähen! Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen, ohne diesen
im Auge zu behalten. Jedes Übel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein kommt, und man
bekümmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt. Deswegen
ist es so schwer, Rat zu pflegen, besonders mit der Menge, die im Täglichen ganz verständig ist,
aber selten weiter sieht als auf morgen. Kommt nun gar dazu, dass der eine bei einer gemeinsamen Anstalt
gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich
gemeinsame Gute muss durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden.«

Indem sie standen und sprachen, bettelte sie ein Mensch an, der mehr frech als bedürftig aussah. Eduard,
ungern unterbrochen und beunruhigt, schalt ihn, nachdem er ihn einige Mal vergebens gelassener abgewiesen hatte.
Als aber der Kerl sich murrend, ja gegenscheltend mit kleinen Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers
trotzte, dem man wohl ein Almosen versagen, ihn aber nicht beleidigen dürfe, weil er so gut wie jeder
andere unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit stehe, kam Eduard ganz aus der Fassung.

Der Hauptmann, ihn zu begütigen, sagte darauf: »Lass uns diesen Vorfall als eine Aufforderung
annehmen, unsere ländliche Polizei auch hierüber zu erstrecken! Almosen muss man einmal geben;
man tut aber besser, wenn man sie nicht selbst gibt, besonders zu Hause. Da sollte man mäßig und
gleichförmig in allem sein, auch im Wohltun. Eine allzu reichliche Gabe lockt Bettler herbei, anstatt sie
abzufertigen, dagegen man wohl auf der Reise, im Vorbeifliegen, einem Armen an der Straße in der Gestalt
des zufälligen Glücks erscheinen und ihm eine überraschende Gabe zuwerfen mag. Uns macht die
Lage des Dorfes, des Schlosses eine solche Anstalt sehr leicht; ich habe schon früher darüber nachgedacht.

An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirtshaus, an dem andern wohnen ein Paar alte, gute Leute; an beiden
Orten musst du eine kleine Geldsumme niederlegen. Nicht der ins Dorf Hereingehende, sondern der Hinausgehende
erhält etwas; und da die beiden Häuser zugleich an den Wegen stehen, die auf das Schloss führen,
so wird auch alles, was sich hinaufwenden wollte, an die beiden Stellen gewiesen.«

»Komm«, sagte Eduard, »wir wollen das gleich abmachen; das Genauere können wir immer
noch nachholen.«

Sie gingen zum Wirt und zu dem alten Paare, und die Sache war abgetan. »Ich weiß
recht gut«, sagte Eduard, indem sie zusammen den Schlossberg wieder hinaufstiegen, »dass
alles in der Welt ankommt auf einen gescheiten Einfall und auf einen festen Entschluss. So hast du die
Parkanlagen meiner Frau sehr richtig beurteilt und mir auch schon einen Wink zum Bessern gegeben, den ich ihr,
wie ich gar nicht leugnen will, sogleich mitgeteilt habe.«

»Ich konnte es vermuten«, versetzte der Hauptmann, »aber nicht billigen. Du hast sie irre gemacht;
sie lässt alles liegen und trutzt in dieser einzigen Sache mit uns; denn sie vermeidet davon zu reden
und hat uns nicht wieder zur Mooshütte eingeladen, ob sie gleich mit Ottilien in den Zwischenstunden hinaufgeht.«

»Dadurch müssen wir uns«, versetzte Eduard, »nicht abschrecken lassen. Wenn ich von etwas
Gutem überzeugt bin, was geschehen könnte und sollte, so habe ich keine Ruhe, bis ich es getan sehe.
Sind wir doch sonst klug, etwas einzuleiten! Lass uns die englischen Parkbeschreibungen mit Kupfern zur
Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Gutskarte! Man muss es erst problematisch und nur wie zum Scherz
behandeln; der Ernst wird sich schon finden.«

Nach dieser Verabredung wurden die Bücher aufgeschlagen, worin man jedesmal den Grundriss der Gegend
und ihre landschaftliche Ansicht in ihrem ersten, rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern
Blättern die Veränderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran vorgenommen, um alles das
bestehende Gute zu nutzen und zu steigern. Hievon war der Übergang zur eigenen Besitzung, zur eignen
Umgebung und zu dem, was man daran ausbilden könnte, sehr leicht.

Die von dem Hauptmann entworfene Karte zum Grunde zu legen, war nunmehr eine angenehme Beschäftigung;
nur konnte man sich von jener ersten Vorstellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen hatte,
nicht ganz losreißen. Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die Höhe; man wollte oberwärts
am Abhange vor einem angenehmen Hölzchen ein Lustgebäude aufführen; dieses sollte einen Bezug
aufs Schloss haben; aus den Schlossfenstern sollte man es übersehen, von dorther Schloss
und Gärten wieder bestreichen können.

Der Hauptmann hatte alles wohl überlegt und gemessen und brachte jenen Dorfweg, jene Mauer am Bache her,
jene Ausfüllung wieder zur Sprache. »Ich gewinne«, sagte er, »indem ich einen bequemen
Weg zur Anhöhe hinaufführe, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf. Sobald eins ins
andre greift, wird beides wohlfeiler und geschwinder bewerkstelligt.«

»Nun aber«, sagte Charlotte, »kommt meine Sorge. Notwendig muss etwas Bestimmtes
ausgesetzt werden; und wenn man weiß, wieviel zu einer solchen Anlage erforderlich ist, dann teilt
man es ein, wo nicht auf Wochen, doch wenigstens auf Monate. Die Kasse ist unter meinem Beschluss;
ich zahle die Zettel, und die Rechnung führe ich selbst.«

»Du scheinst uns nicht sonderlich viel zu vertrauen«, sagte Eduard.

»Nicht viel in willkürlichen Dingen«, versetzte Charlotte. »Die Willkür wissen wir besser zu
beherrschen als ihr.«

Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der Hauptmann immer gegenwärtig und Charlotte nunmehr
fast täglich Zeuge seines ernsten und bestimmten Sinnes. Auch er lernte sie näher kennen, und beiden
wurde es leicht, zusammenzuwirken und etwas zu Stande zu bringen.

Es ist mit den Geschäften wie mit dem Tanze: Personen, die gleichen Schritt halten, müssen sich
unentbehrlich werden, ein wechselseitiges Wohlwollen muss notwendig daraus entspringen, und dass
Charlotte dem Hauptmann, seitdem sie ihn näher kennen gelernt, wirklich wohl wollte, davon war ein sicherer
Beweis, dass sie ihn einen schönen Ruheplatz, den sie bei ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und
verziert hatte, der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstören ließ, ohne auch nur
die mindeste unangenehme Empfindung dabei zu haben.
Siebentes Kapitel

Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung fand, so war die Folge, dass
sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte. Für sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche
Neigung in seinem Herzen. Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; dass sie es gegen ihn am
meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen. Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er sie
liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und was dergleichen mehr
ist, entging ihr nicht. Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er eine
übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau, der es nicht luftig genug sein konnte,
manchmal in Widerspruch geriet. Ebenso wusste sie im Baum- und Blumengarten Bescheid. Was er wünschte,
suchte sie zu befördern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhüten, dergestalt dass sie in
Kurzem wie ein freundlicher Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit schon peinlich
zu empfinden. Hiezu kam noch, dass sie gesprächtiger und offener schien, sobald sie sich allein trafen.

Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens besonders zusagte.
Sie erinnerten sich gern früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen bis in die
ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten. Ottilie wollte sich der beiden noch als des schönsten
Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher Jugend absprach,
so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch vollkommen gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal
bei seinem Hereintreten in Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer
Überraschung. Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften Eindruck auf sie gemacht, weil
er ihr gar so wohl gefallen.

Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden Freunde zusammen früher
vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten, sodass sie für nötig fanden, sich wieder
eine Übersicht zu verschaffen, einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben. Sie bestellten
sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten Kopisten müßig fanden. Sie gingen an die Arbeit
und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken, dass sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu
verrichten gewohnt waren. Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief Eduarden
nicht gelingen. Sie quälten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis endlich Eduard,
dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit fragte.

Da zeigte sich denn, dass der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das
erste Mal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, dass die Zeit anfange,
ihnen gleichgültig zu werden.

Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen, wuchs vielmehr
die Tätigkeit der Frauen. Überhaupt nimmt die gewöhnliche Lebensweise einer Familie,
die aus den gegebenen Personen und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl eine außerordentliche
Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie ein Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit
vergehen, ehe dieses neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über
den Rand schwillt.

Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen von der angenehmsten Wirkung. Die Gemüter
öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen. Jeder Teil fühlte sich
glücklich und gönnte dem andern sein Glück.

Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und alles, was man tut und vornimmt,
hat eine Richtung gegen das Unermessliche. So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen.
Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit Ottilien, die Pfade zu wählen,
die Wege zu bahnen, vorauseilte, so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung,
teilnehmend an manchem neu entdeckten Plätzchen, an mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur
jener rascheren Vorgänger.

Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schlosspforte des rechten Flügels hinunter nach dem
Gasthofe, über die Brücke gegen die Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewöhnlich
das Wasser verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Hügel und weiterhin von Felsen eingeschlossen,
aufhörte, gangbar zu sein.

Aber Eduard, dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war, drang mit Ottilien auf einem bewachsenen
Pfade weiter vor, wohl wissend, dass die alte, zwischen Felsen versteckte Mühle nicht weit ab liegen konnte.
Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich im dichten Gebüsch zwischen moosigen
Gestein verirrt, doch nicht lange; denn das Rauschen der Räder verkündigte ihnen sogleich die
Nähe des gesuchten Ortes.

Auf eine Klippe vorwärts tretend, sahen sie das alte, schwarze, wunderliche Holzgebäude im Grunde vor
sich, von steilen Felsen sowie von hohen Bäumen umschattet. Sie entschlossen sich kurz und gut, über
Moos und Felstrümmer hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in die Höhe sah und Ottilie leicht
schreitend, ohne Furcht und Ängstlichkeit, im schönsten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte,
glaubte er ein himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte. Und wenn sie nun manchmal an unsicherer
Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stützte, dann konnte er sich nicht
verleugnen, dass es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn berührte. Fast hätte er gewünscht,
sie möchte straucheln, gleiten, dass er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken
könnte. Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fürchtete
sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.

Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. Denn als er nun herab gelangt, ihr unter den hohen Bäumen am
ländlichen Tische gegenüber saß, die freundliche Müllerin nach Milch, der bewillkommende
Müller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an:

»Ich habe eine Bitte,liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die, wenn Sie mir sie auch versagen!
Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht es auch nicht, dass Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust
ein Miniaturbild tragen. Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt und der
in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient. Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt
groß, und dieses Metall, dieses Glas macht mir tausend Ängste, wenn Sie ein Kind in die Höhe
heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt,wenn wir durchs Gebüsch dringen, eben jetzt,
wie wir vom Felsen herabstiegen. Mir ist die Möglichkeit schrecklich, dass irgendein unvorgesehener
Stoß, ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein könnte.
Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie
ihm den schönsten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas, dessen
Nähe mir, vielleicht aus übertriebener Ängstlichkeit, so gefährlich scheint!«

Ottilie schwieg und hatte, während er sprach, vor sich hin gesehen; dann, ohne Übereilung und ohne
Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, löste sie die Kette, zog das Bild hervor,
drückte es gegen ihre Stirn und reichte es dem Freunde hin mit den Worten: »Heben Sie mir es auf,
bis wir nach Hause kommen! Ich vermag Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre freundliche Sorgfalt
zu schätzen weiß.«

Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er fasste ihre Hand und drückte
sie an seine Augen. Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals zusammenschlossen.
Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm
und Ottilien niedergelegt hätte.

Vom Müller geführt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem bequemeren Pfade herunter.
Man begrüßte sich, man erfreute und erquickte sich. Zurück wollte man denselben Weg nicht
kehren, und Eduard schlug einen Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche wieder
zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung zurücklegte. Nun durchstrich man abwechselndes
Gehölz und erblickte nach dem Lande zu mancherlei Dörfer, Flecken, Meiereien mit ihren grünen
und fruchtbaren Umgebungen; zunächst ein Vorwerk, das an der Höhe mitten im Holze gar vertraulich
lag. Am schönsten zeigte sich der größte Reichtum der Gegend, vor- und rückwärts,
auf der sanft erstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen Wäldchen gelangte und beim Heraustreten
aus demselben sich auf dem Felsen dem Schlosse gegenüber befand.

Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermaßen unvermutet ankamen! Sie hatten eine kleine Welt
umgangen; sie standen auf dem Platze, wo das neue Gebäude hinkommen sollte, und sahen wieder in die
Fenster ihrer Wohnung.

Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren. Nichts war natürlicher,
als dass einstimmig der Wunsch ausgesprochen wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne
Beschwerlichkeit gemacht, möchte dergestalt geführt und eingerichtet werden, dass man ihn gesellig,
schlendernd und mit Behaglichkeit zurücklegen könnte. Jedes tat Vorschläge, und man berechnete,
dass der Weg, zu welchem sie mehrere Stunden gebraucht hatten, wohl gebahnt in einer Stunde zum Schloss
zurückführen müsste. Schon legte man in Gedanken unterhalb der Mühle, wo der Bach
in die Teiche fließt, eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke an, als Charlotte
der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand gebot, indem sie an die Kosten erinnerte, welche zu einem
solchen Unternehmen erforderlich sein würden.

»Hier ist auch zu helfen«, versetzte Eduard. »Jenes Vorwerk im Walde, das so schön
zu liegen scheint und so wenig einträgt, dürfen wir nur veräußern und das daraus
Gelöste zu diesen Anlagen verwenden, so genießen wir vergnüglich auf einem
unschätzbaren Spaziergange die Interessen eines wohl angelegten Kapitals, da wir jetzt mit Missmut,
bei letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine kümmerliche Einnahme davon ziehen.«

Charlotte selbst konnte als gute Haushälterin nicht viel dagegen erinnern. Die Sache war schon
früher zur Sprache gekommen. Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstücke
unter die Waldbauern machen; Eduard aber wollte kürzer und bequemer verfahren wissen. Der gegenwärtige
Pachter, der schon Vorschläge getan hatte, sollte es erhalten, terminweise zahlen, und so terminweise wollte
man die planmäßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vornehmen. So eine vernünftige,
gemäßigte Einrichtung musste durchaus Beifall finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste
die neuen Wege sich schlängeln, auf denen und in deren Nähe man noch die angenehmsten Ruhe- und
Aussichtsplätze zu entdecken hoffte.

Um sich alles mehr im einzelnen zu vergegenwärtigen, nahm man abends zu Hause sogleich die neue Karte vor.
Man übersah den zurückgelegten Weg und wie er vielleicht an einigen Stellen noch vorteilhafter zu
führen wäre. Alle früheren Vorsätze wurden nochmals durchgesprochen und mit den
neuesten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses gegen dem Schloss über nochmals gebilligt und
der Kreislauf der Wege bis dahin abgeschlossen.

Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan, der bisher vor Charlotten gelegen, vor
sie hinwandte und sie zugleich einlud, ihre Meinung zu sagen, und, als sie einen Augenblick anhielt, sie
liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen; alles sei ja noch gleichgültig, alles noch im Werden.

»Ich würde«, sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die höchste Fläche der
Anhöhe setzte, »das Haus hieher bauen. Man sähe zwar das Schloss nicht, denn es wird von
dem Wäldchen bedeckt; aber man befände sich auch dafür wie in einer andern und neuen Welt,
indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen wären. Die Aussicht auf die Teiche, nach der
Mühle, auf die Höhen, in die Gebirge, nach dem Lande zu ist außerordentlich schön; ich
habe es im Vorbeigehen bemerkt.«

»Sie hat recht!«, rief Eduard. »Wie konnte uns das nicht einfallen! Nicht wahr,
so ist es gemeint, Ottilie?« Er nahm einen Bleistift und strich ein längliches Viereck recht
stark und derb auf die Anhöhe.

Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele, denn er sah einen sorgfältigen, reinlich gezeichneten Plan
ungern auf diese Weise verunstaltet; doch fasste er sich nach einer leisen Missbilligung und
ging auf den Gedanken ein. »Ottilie hat recht«, sagte er; »macht man nicht gern eine
entfernte Spazierfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu genießen, der uns zu Hause nicht
so gut geschmeckt hätte? Wir verlangen Abwechselung und fremde Gegenstände.
Das Schloss haben die Alten mit Vernunft hieher gebaut, denn es liegt geschützt vor den Winden und
nah an allen täglichen Bedürfnissen; ein Gebäude hingegen, mehr zum geselligen Aufenthalt
als zur Wohnung, wird sich dorthin recht wohl schicken und in der guten Jahrszeit die angenehmsten Stunden
gewähren.«

Je mehr man die Sache durchsprach, desto günstiger erschien sie, und Eduard konnte seinen Triumph
nicht bergen, dass Ottilie den Gedanken gehabt. Er war so stolz darauf, als ob die Erfindung sein
gewesen wäre.
Achtes Kapitel

Der Hauptmann untersuchte gleich am frühsten Morgen den Platz, entwarf erst einen flüchtigen
und, als die Gesellschaft an Ort und Stelle sich nochmals entschieden hatte, einen genauen Riss nebst
Anschlag und allem Erforderlichen. Es fehlte nicht an der nötigen Vorbereitung. Jenes Geschäft
wegen Verkauf des Vorwerks ward auch sogleich wieder angegriffen. Die Männer fanden zusammen neuen
Anlass zur Tätigkeit.

Der Hauptmann machte Eduarden bemerklich, dass es eine Artigkeit, ja wohl gar eine Schuldigkeit sei, Charlottens
Geburtstag durch Legung des Grundsteins zu feiern. Es bedurfte nicht viel, die alte Abneigung Eduards gegen
solche Feste zu überwinden; denn es kam ihm schnell in den Sinn, Ottiliens Geburtstag, der später fiel,
gleichfalls recht feierlich zu begehen.

Charlotte, der die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte, bedeutend, ernstlich, ja fast bedenklich
vorkamen, beschäftigte sich damit, die Anschläge, Zeit- und Geldeinteilungen nochmals für
sich durchzugehen. Man sah sich des Tages weniger, und mit desto mehr Verlangen suchte man sich des Abends auf.

Ottilie war indessen schon völlig Herrin des Haushaltes, und wie konnte es anders sein bei ihrem stillen
und sichern Betragen. Auch war ihre ganze Sinnesweise dem Hause und dem Häuslichen mehr als der Welt,
mehr als dem Leben im Freien zugewendet. Eduard bemerkte bald, dass sie eigentlich nur aus Gefälligkeit
in die Gegend mitging, dass sie nur aus geselliger Pflicht abends länger draußen verweilte,
auch wohl manchmal einen Vorwand häuslicher Tätigkeit suchte, um wieder hineinzugehen. Sehr bald
wusste er daher die gemeinschaftlichen Wanderungen so einzurichten, dass man vor Sonnenuntergang wieder zu
Hause war, und fing an, was er lange unterlassen hatte, Gedichte vorzulesen, solche besonders, in deren Vortrag
der Ausdruck einer reinen, doch leidenschaftlichen Liebe zu legen war.

Gewöhnlich saßen sie abends um einen kleinen Tisch auf hergebrachten Plätzen: Charlotte auf
dem Sofa, Ottilie auf einem Sessel gegen ihr über, und die Männer nahmen die beiden andern Seiten ein.
Ottilie saß zu Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob, wenn er las. Alsdann auch sie traute
ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen; und Eduard gleichfalls rückte zu, um es ihr auf alle Weise
bequem zu machen, ja er hielt oft längere Pausen als nötig, damit er nur nicht eher umwendete,
bis auch sie zu Ende der Seite gekommen.

Charlotte und der Hauptmann bemerkten es wohl und sahen manchmal einander lächelnd an; doch wurden beide
von einem andern Zeichen überrascht, in welchem sich Ottiliens stille Neigung gelegentlich offenbarte.

An einem Abende, welcher der kleinen Gesellschaft durch einen lästigen Besuch zum Teil verloren gegangen,
tat Eduard den Vorschlag, noch beisammen zu bleiben. Er fühlte sich aufgelegt, seine Flöte
vorzunehmen, welche lange nicht an die Tagesordnung gekommen war. Charlotte suchte nach den Sonaten,
die sie zusammen gewöhnlich auszuführen pflegten, und da sie nicht zu finden waren, gestand
Ottilie nach einigem Zaudern, dass sie solche mit auf ihr Zimmer genommen.

»Und Sie können, Sie wollen mich auf dem Flügel begleiten?«, rief Eduard, dem die
Augen vor Freude glänzten. »Ich glaube wohl«, versetzte Ottilie, »dass es gehen
wird«. Sie brachte die Noten herbei und setzte sich ans Klavier. Die Zuhörenden waren aufmerksam
und überrascht, wie vollkommen Ottilie das Musikstück für sich selbst eingelernt hatte, aber
noch mehr überrascht, wie sie es der Spielart Eduards anzupassen wusste. 'Anzupassen wusste' ist nicht
der rechte Ausdruck; denn wenn es von Charlottens Geschicklichkeit und freiem Willen abhing, ihrem bald
zögernden, bald voreilenden Gatten zuliebe hier anzuhalten, dort mitzugehen, so schien Ottilie, welche
die Sonate von jenen einige Mal spielen gehört, sie nur in dem Sinne eingelernt zu haben, wie jener sie
begleitete. Sie hatte seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, dass daraus wieder eine Art von
lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar nicht taktgemäß bewegte, aber doch höchst angenehm
und gefällig lautete. Der Komponist selbst hätte seine Freude daran gehabt, sein Werk auf eine
so liebevolle Weise entstellt zu sehen.

Auch diesem wundersamen, unerwarteten Begegnis sahen der Hauptmann und Charlotte stillschweigend mit einer
Empfindung zu, wie man oft kindische Handlungen betrachtet, die man wegen ihrer besorglichen Folgen
gerade nicht billigt und doch nicht schelten kann, ja vielleicht beneiden muss. Denn eigentlich war
die Neigung dieser beiden ebensogut im Wachsen als jene, und vielleicht nur noch gefährlicher
dadurch, dass beide ernster, sicherer von sich selbst, sich zu halten fähiger waren.

Schon fing der Hauptmann an zu fühlen, dass eine unwiderstehliche Gewohnheit ihn an Charlotten
zu fesseln drohte. Er gewann es über sich, den Stunden auszuweichen, in denen Charlotte nach der
Anlagen zu kommen pflegte, indem er schon am frühsten Morgen aufstand, alles anordnete und sich
dann zur Arbeit auf seinen Flügel ins Schloss zurückzog. Die ersten Tage hielt es Charlotte
für zufällig; sie suchte ihn an allen wahrscheinlichen Stellen; dann glaubte sie ihn zu
verstehen und achtete ihn nur um desto mehr.

Vermied nun der Hauptmann, mit Charlotten allein zu sein, so war er desto emsiger, zur glänzenden
Feier des herannahenden Geburtsfestes die Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen; denn indem er
von unten hinauf, hinter dem Dorfe her, den bequemen Weg führte, so ließ er, vorgeblich
um Steine zu brechen, auch von oben herunter arbeiten und hatte alles so eingerichtet und berechnet,
dass erst in der letzten Nacht die beiden Teile des Weges sich begegnen sollten. Zum neuen Hause
oben war auch schon der Keller mehr gebrochen als gegraben und ein schöner Grundstein mit
Fächern und Deckplatten zugehauen.

Die äußere Tätigkeit, diese kleinen, freundlichen, geheimnisvollen Absichten bei
innern, mehr oder weniger zurückgedrängten Empfindungen ließen die Unterhaltung
der Gesellschaft, wenn sie beisammen war, nicht lebhaft werden, dergestalt dass Eduard, der etwas
Lückenhaftes empfand, den Hauptmann eines Abends aufrief, seine Violine hervorzunehmen und
Charlotten bei dem Klavier zu begleiten. Der Hauptmann konnte dem allgemeinen Verlangen nicht
widerstehen, und so führten beide mit Empfindung, Behagen und Freiheit eins der schwersten
Musikstücke zusammen auf, dass es ihnen und dem zuhörenden Paar zum größten
Vergnügen gereichte. Man versprach sich öftere Wiederholung und mehrere Zusammenübung.

»Sie machen es besser als wir, Ottilie!« sagte Eduard. »Wir wollen sie
bewundern, aber uns doch zusammen freuen.«
Neuntes Kapitel

Der Geburtstag war herbeigekommen und alles fertig geworden: die ganze Mauer, die den Dorfweg gegen das Wasser
zu einfasste und erhöhte, ebenso der Weg an der Kirche vorbei, wo er eine Zeitlang in dem von Charlotten
angelegten Pfade fortlief, sich dann die Felsen hinaufwärts schlang, die Mooshütte links über sich,
dann nach einer völligen Wendung links unter sich ließ und so allmählich auf die Höhe gelangte.

Es hatte sich diesen Tag viel Gesellschaft eingefunden. Man ging zur Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen
Schmuck versammelt antraf. Nach dem Gottesdienste zogen die Knaben, Jünglinge und Männer, wie es
angeordnet war, voraus; dann kam die Herrschaft mit ihrem Besuch und Gefolge; Mädchen, Jungfrauen und
Frauen machten den Beschluss. Bei der Wendung des Weges war ein erhöhter Felsenplatz eingerichtet;
dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gäste ausruhen.

Hier übersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Männerschar, die nachwandelnden Frauen,
welche nun vorbeizogen. Es war bei dem herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick. Charlotte fühlte
sich überrascht, gerührt und drückte dem Hauptmann herzlich die Hand.

Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen Kreis um den künftigen Hausraum gebildet
hatte. Der Bauherr, die Seinigen und die vornehmsten Gäste wurden eingeladen, in die Tiefe hinabzusteigen,
wo der Grundstein, an einer Seite unterstützt, eben zum Niederlassen bereit lag. Ein wohlgeputzter Maurer,
die Kelle in der einen, den Hammer in der andern Hand, hielt in Reimen eine anmutige Rede, die wir in Prosa nur
unvollkommen wiedergeben können.

»Drei Dinge«, fing er an, »sind bei einem Gebäude zu beachten: dass es am rechten Fleck stehe,
dass es wohl gegründet, dass es vollkommen ausgeführt sei. Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn;
denn wie in der Stadt nur der Fürst und die Gemeine bestimmen können, wohin gebaut werden soll, so ist es
auf dem Lande das Vorrecht des Grundherrn, dass er sage: hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders.«

Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen, ob sie gleich nahe gegen einander über
standen.

»Das dritte, die Vollendung, ist die Sorge gar vieler Gewerke; ja wenige sind, die nicht dabei beschäftigt
wären. Aber das zweite, die Gründung, ist des Maurers Angelengenheit und, dass wir es nur heraussagen,
die Hauptangelegenheit des ganzen Unternehmens. Es ist ein ernstes Geschäft, und unsre Einladung ist ernsthaft;
denn diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen. Hier innerhalb dieses engen, ausgegrabenen Raums erweisen Sie
uns die Ehre, als Zeugen unseres geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen. Gleich werden wir diesen wohlzugehauenen
Stein niederlegen, und bald werden diese mit schönen und würdigen Personen gezierten Erdwände nicht
mehr zugänglich, sie werden ausgefüllt sein.

Diesen Grundstein, der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebäudes, mit seiner Rechtwinkligkeit die
Regelmäßigkeit desselben, mit seiner wasser- und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und
Wände bezeichnet, könnten wir ohne weiteres niederlegen; denn er ruhte wohl auf seiner eignen Schwere. Aber
auch hier soll es am Kalk, am Bindungsmittel nicht fehlen; denn so wie Menschen, die einander von Natur geneigt sind,
noch besser zusammenhalten, wenn das Gesetz sie verkittet, so werden auch Steine, deren Form schon zusammenpasst,
noch besser durch diese bindenden Kräfte vereinigt; und da es sich nicht ziemen will, unter den Tätigen
müßig zu sein, so werden Sie nicht verschmähen, auch hier Mitarbeiter zu werden.«

Er überreichte hierauf seine Kelle Charlotten, welche damit Kalk unter den Stein warf. Mehreren wurde ein Gleiches
zu tun angesonnen und der Stein alsobald niedergesenkt, worauf denn Charlotten und den übrigen sogleich der Hammer
gereicht wurde, um durch ein dreimaliges Pochen die Verbindung des Steins mit dem Grunde ausdrücklich zu segnen.

»Des Maurers Arbeit«, fuhr der Redner fort, »zwar jetzt unter freiem Himmel, geschieht, wo nicht
immer im Verborgnen, doch zum Verborgnen. Der regelmäßig aufgeführte Grund wird verschüttet, und
sogar bei den Mauern, die wir am Tage aufführen, ist man unser am Ende kaum eingedenk. Die Arbeiten des Steinmetzen
und Bildhauers fallen mehr in die Augen, und wir müssen es sogar noch gutheißen, wenn der Tüncher
die Spur unserer Hände völlig auslöscht und sich unser Werk zueignet, indem er es überzieht,
glättet und färbt.

Wem muss also mehr daran gelegen sein, das, was er tut, sich selbst recht zu machen, indem er es recht macht, als dem
Maurer? Wer hat mehr als er das Selbstbewusstsein zu nähren Ursach? Wenn das Haus aufgeführt, der
Boden geplattet und gepflastert, die Außenseite mit Zieraten überdeckt ist, so sieht er durch alle Hüllen
immer noch hinein und erkennt noch jene regelmäßigen, sorgfältigen Fugen, denen das Ganze sein Dasein
und seinen Halt zu danken hat.

Aber wie jeder, der eine Übeltat begangen, fürchten muss, dass, ungeachtet alles Abwehrens, sie
dennoch ans Licht kommen werde, so muss derjenige erwarten, der insgeheim das Gute getan, dass auch dieses wider seinen
Willen an den Tag komme. Deswegen machen wir diesen Grundstein zugleich zum Denkstein. Hier in diese unterschiedlichen
gehauenen Vertiefungen soll verschiedenes eingesenkt werden zum Zeugnis für eine entfernte Nachwelt. Diese metallnen
zugelöteten Köcher enthalten schriftliche Nachrichten; auf diese Metallplatten ist allerlei Merkwürdiges
eingegraben; in diesen schönen gläsernen Flaschen versenken wir den besten Wein, mit Bezeichnung seines
Geburtsjahrs; es fehlt nicht an Münzen verschiedener Art, in diesem Jahre geprägt: alles dieses erhielten
wir durch die Freigebigkeit unseres Bauherrn. Auch ist hier noch mancher Platz, wenn irgendein Gast und Zuschauer
etwas der Nachwelt zu übergeben Belieben trüge.«

Nach einer kleinen Pause sah der Geselle sich um; aber wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt: niemand war
vorbereitet, jedermann überrascht, bis endlich ein junger, munterer Offizier anfing und sagte: »Wenn ich etwas
beitragen soll, das in dieser Schatzkammer noch nicht niedergelegt ist, so muss ich ein paar Knöpfe von der Uniform
schneiden, die doch wohl auch verdienen, auf die Nachwelt zu kommen.« Gesagt, getan! Und nun hatte mancher einen
ähnlichen Einfall. Die Frauenzimmer säumten nicht, von ihren kleinen Haarkämmen hineinzulegen; Riechfläschchen
und andre Zierden wurden nicht geschont; nur Ottilie zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches Wort aus der Betrachtung
aller der beigesteuerten und eingelegten Dinge herausriss. Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der
das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen Kleinode hin, worauf Eduard mit
einiger Hast veranstaltete, dass der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.

Der junge Gesell, der sich dabei am tätigsten erwiesen, nahm seine Rednermiene wieder an und fuhr fort: »Wir
gründen diesen Stein für ewig, zur Sicherung des längsten Genusses der gegenwärtigen und künftigen
Besitzer dieses Hauses. Allein indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir zugleich, bei dem gründlichsten
aller Geschäfte, an die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge; wir denken uns eine Möglichkeit, dass
dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben werden könne, welches nicht anders geschehen dürfte, als wenn das
alles wieder zerstört wäre, was wir noch nicht einmal aufgeführt haben.

Aber eben, damit dieses aufgeführt werde: zurück mit den Gedanken aus der Zukunft, zurück ins Gegenwärtige!
Lasst und nach begangenem heutigem Feste unsre Arbeit sogleich fördern, damit keiner von den Gewerken, die auf
unserm Grunde fortarbeiten, zu feiern brauche, dass der Bau eilig in die Höhe steige und vollendet werde und aus den
Fenstern, die noch nicht sind, der Hausherr mit den Seinigen und seinen Gästen sich fröhlich in der Gegend umschaue,
deren aller sowie sämtlicher Anwesenden Gesundheit hiermit getrunken sei!«

Und so leerte er ein wohlgeschliffenes Kelchglas auf einen Zug aus und warf es in die Luft; denn es bezeichnet das
Übermaß einer Freude, das Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient.
Aber diesmal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf den Boden, und zwar ohne Wunder.

Man hatte nämlich, um mit dem Bau vorwärtszukommen, bereits an der entgegengesetzten Ecke den Grund völlig
herausgeschlagen, ja schon angefangen, die Mauern aufzuführen, und zu dem Endzweck das Gerüst erbaut, so hoch, als
es überhaupt nötig war.

Dass man es besonders zu dieser Feierlichkeit mit Brettern belegt und eine Menge
Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vorteil der Arbeitsleute geschehen. Dort hinauf flog das Glas und wurde von
einem aufgefangen, der diesen Zufall als ein glückliches Zeichen für sich ansah. Er wies es zuletzt herum,
ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher
Verschlingung eingeschnitten: es war eins der Gläser, die für Eduarden in seiner Jugend verfertigt worden.

Die Gerüste standen wieder leer, und die leichtesten unter den Gästen stiegen hinauf, sich umzusehen,
und konnten die schöne Aussicht nach allen Seiten nicht genugsam rühmen; denn was entdeckt der nicht alles,
der auf einem hohen Punkte nur um ein Geschoss höher steht! Nach dem Innern des Landes zu kamen mehrere neue
Dörfer zum Vorschein, den silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich, ja selbst die Türme der
Hauptstadt wollte einer gewahr werden. An der Rückseite, hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich die
blauen Gipfel eines fernen Gebirges, und die nächste Gegend übersah man im Ganzen. »Nun sollten nur
noch«, rief einer, »die drei Teiche zu einem See vereinigt werden; dann hätte der Anblick alles,
was groß und wünschenswert ist«.

»Das ließe sich wohl machen«, sagte der Hauptmann; »denn sie bildeten schon vor Zeiten einen
Bergsee«.

»Nur bitte ich, meine Platanen- und Pappelgruppe zu schonen«, sagte Eduard, »die so
schön am mittelsten Teiche steht«. »Sehen Sie«, - wandte er sich zu Ottilien, die er einige Schritte
vorführte, indem er hinabwies - »diese Bäume habe ich selbst gepflanzt«.

»Wie lange stehen sie wohl schon?«, fragte Ottilie. »Etwa so lange«, versetzte Eduard, »als
Sie auf der Welt sind. Ja, liebes Kind, ich pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen.«

Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloss zurück. Nach aufgehobener Tafel wurde sie zu einem Spaziergang
durch das Dorf eingeladen, um auch hier die neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen. Dort hatten sich auf des Hauptmanns
Veranlassung die Bewohner vor ihren Häusern versammelt; sie standen nicht in Reihen, sondern familienweise natürlich
gruppiert, teils, wie es der Abend forderte, beschäftigt, teils auf neuen Bänken ausruhend. Es ward ihnen zur angenehmen
Pflicht gemacht, wenigstens jeden Sonntag und Festtag diese Reinlichkeit, diese Ordnung zu erneuern.

Eine innere Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren Freunden erzeugt hatte, wird durch eine größere
Gesellschaft immer nur unangenehm unterbrochen. Alle vier waren zufrieden, sich wieder im großen Saale allein zu finden;
doch ward dieses häusliche Gefühl einigermaßen gestört, indem ein Brief, der Eduarden überreicht
wurde, neue Gäste auf morgen ankündigte.

»Wie wir vermuteten«, rief Eduard Charlotten zu; »der Graf wird nicht ausbleiben, er kommt morgen«.

»Da ist also auch die Baronesse nicht weit«, versetzte Charlotte. »Gewiss nicht!«,
antwortete Eduard; » sie wird auch morgen von ihrer Seite anlangen. Sie bitten um ein Nachtquartier und wollen
übermorgen zusammen wieder fortreisen.«

»Da müssen wir unsere Anstalten beizeiten machen, Ottilie!«, sagte Charlotte.

»Wie befehlen Sie die Einrichtung?«, fragte Ottilie.

Charlotte gab es im Allgemeinen an, und Ottilie entfernte sich.

Der Hauptmann erkundigte sich nach dem Verhältnis dieser beiden Personen, das er nur im Allgemeinsten kannte.
Sie hatten früher, beide schon anderwärts verheiratet, sich leidenschaftlich lieb gewonnen. Eine doppelte
Ehe war nicht ohne Aufsehn gestört; man dachte an Scheidung. Bei der Baronesse war sie möglich geworden,
bei dem Grafen nicht. Sie mussten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhältnis blieb; und wenn sie
Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so entschädigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Bädern.
Sie waren beide um etwas älter als Eduard und Charlotte und sämtlich genaue Freunde aus früher Hofzeit her.
Man hatte immer ein gutes Verhältnis erhalten, ob man gleich nicht alles an seinen Freunden billigte.
Nur diesmal war Charlotten ihre Ankunft gewissermaßen ganz ungelegen, und wenn sie die Ursache genau untersucht
hätte: es war eigentlich um Ottiliens willen. Das gute, reine Kind sollte ein solches Beispiel so früh
nicht gewahr werden.

»Sie hätten wohl noch ein paar Tage wegbleiben können«, sagte Eduard, als eben Ottilie wieder
hereintrat, »bis wir den Vorwerksverkauf in Ordnung gebracht. Der Aufsatz ist fertig, die eine Abschrift habe ich
hier; nun fehlt es aber an der zweiten, und unser alter Kanzellist ist recht krank.« Der Hauptmann bot sich an,
auch Charlotte; dagegen waren einige Einwendungen zu machen. »Geben Sie mirs nur!«, rief Ottilie mit einiger Hast.

»Du wirst nicht damit fertig«, sagte Charlotte.

»Freilich müsste ich es übermorgen früh haben, und es ist viel«, sagte Eduard.
»Es soll fertig sein«, rief Ottilie und hatte das Blatt schon in den Händen.

Des andern Morgens, als sie sich aus dem obern Stock nach den Gästen umsahen, denen sie entgegenzugehen nicht
verfehlen wollten, sagte Eduard: »Wer reitet denn so langsam dort die Straße her?« Der Hauptmann
beschrieb die Figur des Reiters genauer. »So ist er's doch«, sagte Eduard; »denn das Einzelne,
das du besser siehst als ich, passt sehr gut zu dem Ganzen, das ich recht wohl sehe. Es ist Mittler. Wie kommt er
aber dazu, langsam und so langsam zu reiten?«

Die Figur kam näher, und Mittler war es wirklich. Man empfing ihn freundlich, als er langsam die Treppe heraufstieg.
»Warum sind Sie nicht gestern gekommen?«, rief ihm Eduard entgegen.

»Laute Feste lieb ich nicht«, versetzte jener. »Heute komm ich aber, den Geburtstag meiner
Freundin mit euch im Stillen nachzufeiern.«

»Wie können Sie denn soviel Zeit gewinnen?«, fragte Eduard scherzend.

»Meinen Besuch, wenn er euch etwas wert ist, seid ihr einer Betrachtung schuldig, die ich gestern gemacht habe. Ich
freute mich recht herzlich den halben Tag in einem Hause, wo ich Frieden gestiftet hatte, und dann hörte ich, dass
hier Geburtstag gefeiert werde. 'Das kann man doch am Ende selbstisch nennen,' dachte ich bei mir, 'dass du dich
nur mit denen freuen willst, die du zum Frieden bewogen hast. Warum freust du dich nicht auch einmal mit Freunden,
die Frieden halten und hegen?' Gesagt, getan! Hier bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte.«

»Gestern hätten Sie große Gesellschaft gefunden, heute finden Sie nur kleine«, sagte Charlotte.
»Sie finden den Grafen und die Baronesse, die Ihnen auch schon zu schaffen gemacht haben.«

Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen, willkommenen Mann umgeben hatten, fuhr er mit verdrießlicher
Lebhaftigkeit heraus, indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte: »Schwebt doch immer ein Unstern über
mir, sobald ich einmal ruhen und mir wohltun will! Aber warum gehe ich auch aus meinem Charakter heraus!
Ich hätte nicht kommen sollen, und nun werd ich vertrieben. Denn mit jenen will ich nicht unter einem Dache
bleiben; und nehmt euch in Acht: sie bringen nichts als Unheil! Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine Ansteckung
fortpflanzt.«

Man suchte ihn zu begütigen, aber vergebens. »Wer mir den Ehstand angreift«, rief er aus, »wer
mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun; oder
wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu tun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur.
Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen.
Unauflöslich muss sie sein; denn sie bringt so vieles Glück, dass alles einzelne Unglück dagegen
gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit
anfällt, und dann beliebt er sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen, und
man wird sich glücklich preisen, dass ein so lange Bestandenes noch besteht. Sich zu trennen gibt's gar keinen
hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, dass gar nicht
berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch
die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht.
Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist,
als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte?«

So sprach er lebhaft und hätte wohl noch lange fortgesprochen, wenn nicht blasende Postillons die Ankunft
der Herrschaften verkündig hätten, welche wie abgemessen von beiden Seiten zu gleicher Zeit in den
Schlosshof hereinfuhren. Als ihnen die Hausgenossen entgegen eilten, versteckte sich Mittler, ließ sich das
Pferd an den Gasthof bringen und ritt verdrießlich davon.
Zehntes Kapitel

Die Gäste waren bewillkommt und eingeführt; sie freuten sich, das Haus, die Zimmer wieder zu betreten, wo sie früher
so manchen guten Tag erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten. Höchst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart.
Den Grafen sowie die Baronesse konnte man unter jene hohen, schönen Gestalten zählen, die man in einem mittlern Alter fast
lieber als in der Jugend sieht; denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Blüte abgehn möchte, so erregen sie doch nun mit
der Neigung ein entschiedenes Zutrauen. Auch dieses Paar zeigte sich höchst bequem in der Gegenwart. Ihre freie Weise, die
Zustände des Lebens zu nehmen und zu behandeln, ihre Heiterkeit und scheinbare Unbefangenheit teilte sich sogleich mit, und ein
hoher Anstand begrenzte das Ganze, ohne dass man irgendeinen Zwang bemerkt hätte.

Diese Wirkung ließ sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden. Die Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen,
wie man sogar an ihren Kleidern, Gerätschaften und allen Umgebungen sehen konnte, machten gewissermaßen mit unsern Freunden,
ihrem ländlichen und heimlich leidenschaftlichen Zustande eine Art von Gegensatz, der sich jedoch sehr bald verlor, indem alte
Erinnerungen und gegenwärtige Teilnahme sich vermischten und ein schnelles, lebhaftes Gespräch alle geschwind zusammen
verband.

Es währte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging. Die Frauen zogen sich auf ihren Flügel zurück
und fanden daselbst, indem sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen und Zuschnitte von Frühkleidern,
Hüten und dergleichen zu mustern anfingen, genugsame Unterhaltung, während die Männer sich um die neuen Reisewagen,
mit vorgeführten Pferden, beschäftigten und gleich zu handeln und zu tauschen anfingen.

Erst zu Tische kam man wieder zusammen. Die Umkleidung war geschehen, und auch hier zeigte sich das angekommene Paar zu
seinem Vorteile. Alles, was sie an sich trugen, war neu und gleichsam ungesehen und doch schon durch den Gebrauch zur
Gewohnheit und Bequemlichkeit eingeweiht.

Das Gespräch war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart
solcher Personen alles und nichts zu interessieren scheint. Man bediente sich der französischen Sprache, um die
Aufwartenden von dem Mitverständnis auszuschließen, und schweifte mit mutwilligem Behagen über hohe
und mittlere Weltverhältnisse hin. Auf einem einzigen Punkt blieb die Unterhaltung länger als billig haften,
indem Charlotte nach einer Jugendfreundin sich erkundigte und mit einiger Befremdung vernahm, dass sie ehstens
geschieden werden sollte.

»Es ist unerfreulich«, sagte Charlotte, »wenn man seine abwesenden Freunde irgend einmal geborgen,
eine Freundin, die man liebt, versorgt glaubt; eh man sich's versieht, muss man wieder hören, dass ihr Schicksal
im Schwanken ist, und dass sie erst wieder neue und vielleicht abermals unsichre Pfade des Lebens betreten soll«.

»Eigentlich, meine Beste«, versetzte der Graf, »sind wir selbst schuld, wenn wir auf solche Weise
überrascht werden. Wir mögen uns die irdischen Dinge und besonders auch die ehlichen Verbindungen gern
so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punkt betrifft, so verführen uns die Lustspiele, die wir
immer wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt nicht zusammentreffen. In der
Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen
Wunsches, und im Augenblick, da er erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung klingt
bei uns nach. In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht,
mag man gern nichts weiter davon sehen noch hören.«

»Es muss doch so schlimm nicht sein«, sagte Charlotte lächelnd, »da man sieht, dass auch
Personen, die von diesem Theater abgetreten sind, wohl gern darauf wieder eine Rolle spielen mögen«.

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte der Graf. »Eine neue Rolle mag man gern wieder
übernehmen, und wenn man die Welt kennt, so sieht man wohl: auch bei dem Ehestande ist es nur diese
entschiedene, ewige Dauer zwischen soviel Beweglichem in der Welt, die etwas Ungeschicktes an sich trägt.
Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in Vorschlägen zu neuen Gesetzen hervortat,
behauptet: eine jede Ehe solle nur auf fünf Jahre geschlossen werden. Es sei, sagte er, dies eine
schöne, ungrade, heilige Zahl und ein solcher Zeitraum eben hinreichend, um sich kennenzulernen,
einige Kinder heranzubringen, sich zu entzweien und, was das Schönste sei, sich wieder zu versöhnen.
Gewöhnlich rief er aus: Wie glücklich würde die erste Zeit verstreichen! Zwei, drei Jahre
wenigstens gingen vergnüglich hin. Dann würde doch wohl dem einen Teil daran gelegen sein, das
Verhältnis länger dauern zu sehen, die Gefälligkeit würde wachsen, je mehr man sich
dem Termin der Aufkündigung näherte. Der gleichgültige, ja selbst der unzufriedene Teil
würde durch ein solches Betragen begütigt und eingenommen. Man vergäße, wie man
in guter Gesellschaft die Stunden vergisst, dass die Zeit verfließe, und fände sich
aufs Angenehmste überrascht, wenn man nach verlaufenem Termin erst bemerkte, dass er schon
stillschweigend verlängert sei.«

So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische
Deutung geben konnte, so waren ihr dergleichen Äußerungen, besonders um Ottiliens willen, nicht angenehm.
Sie wusste recht gut, dass nichts gefährlicher sei als ein allzu freies Gespräch, das einen strafbaren
oder halbstrafbaren Zustand als einen gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen behandelt; und dahin gehört
doch gewiss alles, was die eheliche Verbindung antastet. Sie suchte daher nach ihrer gewandten Weise das
Gespräch abzulenken; da sie es nicht vermochte, tat es ihr leid, dass Ottilie alles so gut eingerichtet
hatte, um nicht aufstehen zu dürfen. Das ruhig aufmerksame Kind verstand sich mit dem Haushofmeister
durch Blick und Wink, dass alles auf das Trefflichste geriet, obgleich ein paar neue, ungeschickte Bedienten
in der Livree staken.

Und so fuhr der Graf, Charlottens Ablenken nicht empfindend,
über diesen Gegenstand sich zu äußern fort. Ihm, der sonst nicht gewohnt war, im Gespräch
irgend lästig zu sein, lastete diese Sache zu sehr auf dem Herzen, und die Schwierigkeiten, sich von seiner
Gemahlin getrennt zu sehen, machten ihn bitter gegen alles, was eheliche Verbindung betraf, die er doch selbst
mit der Baronesse so eifrig wünschte.

»Jener Freund«, so fuhr er fort, »tat
noch einen andern Gesetzvorschlag: eine Ehe sollte nur alsdann für unauflöslich gehalten werden, wenn
entweder beide Teile oder wenigstens der eine Teil zum dritten Mal verheiratet wäre. Denn was eine solche
Person betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich, dass sie die Ehe für etwas Unentbehrliches halte.
Nun sei auch schon bekannt geworden, wie sie sich in ihren frühern Verbindungen betragen, ob sie
Eigenheiten habe, die oft mehr zur Trennung Anlass geben als üble Eigenschaften. Man habe sich also
wechselseitig zu erkundigen; man habe ebenso gut auf Verheiratete wie auf Unverheiratete Acht zu geben, weil
man nicht wisse, wie die Fälle kommen können.«

»Das würde freilich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren«, sagte Eduard; »denn in der
Tat jetzt, wenn wir verheiratet sind, fragt niemand weiter mehr nach unsern Tugenden noch unsern Mängeln.«

»Bei einer solchen Einrichtung«, fiel die Baronesse
lächelnd ein, »hätten unsere lieben Wirte schon zwei Stufen glücklich überstiegen und
könnten sich zu der dritten vorbereiten.«

»Ihnen ist's wohl geraten«, sagte der Graf; »hier hat der Tod willig getan, was die Konsistorien
sonst nur ungern zu tun pflegen.«

»Lassen wir die Toten ruhen«, versetzte Charlotte mit einem halb ernsten Blicke.

»Warum?«, versetzte der Graf, »da man ihrer
in Ehren gedenken kann. Sie waren bescheiden genug, sich mit einigen Jahren zu begnügen für mannigfaltiges
Gute, das sie zurückließen.«

»Wenn nur nicht gerade«, sagte die Baronesse mit
einem verhaltenen Seufzer, »in solchen Fällen das Opfer der besten Jahre gebracht werden müsste!«

»Jawohl«, versetzte der Graf, »man müsste darüber verzweifeln, wenn nicht überhaupt
in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeigte. Kinder halten nicht, was sie versprechen, junge Leute sehr selten,
und wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht.«

Charlotte, welche froh war, dass das Gespräch sich wendete, versetzte heiter: »Nun! Wir müssen
uns ja ohnehin bald genug gewöhnen, das Gute stück- und teilweise zu genießen.«

»Gewiss«, versetzte der Graf, »Sie haben beide sehr schöner Zeiten genossen. Wenn ich
mir die Jahre zurückerinnere, da Sie und Eduard das schönste Paar bei Hof waren; weder von so glänzenden
Zeiten noch von so hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr. Wenn Sie beide zusammen tanzten, aller Augen
waren auf Sie gerichtet, und wie umworben beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten!«

»Da sich so manches verändert hat«, sagte Charlotte, »können wir wohl soviel Schönes mit
Bescheidenheit anhören«.

»Eduarden habe ich doch oft im Stillen getadelt«, sagte der Graf, »dass er nicht beharrlicher
war; denn am Ende hätten seine wunderlichen Eltern wohl nachgegeben; und zehn frühe Jahre gewinnen ist
keine Kleinigkeit«.

»Ich muss mich seiner anehmen«, fiel die Baronesse ein. »Charlotte war nicht ganz ohne Schuld,
nicht ganz rein von allem Umhersehen, und ob sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn auch heimlich zum
Gatten bestimmte, so war ich doch Zeuge, wie sehr sie ihn manchmal quälte, sodass man ihn leicht zu dem
unglücklichen Entschluss drängen konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr zu entwöhnen.«

Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar für ihre Fürsprache.

»Und dann muss ich eins«, fuhr sie fort, »zu Charlottens Entschuldigung beifügen: der Mann, der
zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon lange durch Neigung zu ihr ausgezeichnet und war, wenn man ihn näher
kannte, gewiss liebenswürdiger, als ihr andern gern zugestehen mögt.«

»Liebe Freundin«, versetzte der Graf etwas lebhaft, »bekennen wir nur, dass er Ihnen nicht ganz
gleichgültig war, und dass Charlotte von Ihnen mehr zu befürchten hatte als von einer andern.
Ich finde das einen sehr hübschen Zug an den Frauen, dass sie ihre Anhänglichkeit an irgendeinen Mann
solange noch fortsetzen, ja durch keine Art von Trennung stören oder aufheben lassen.«

»Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Männer noch mehr«, versetzte die Baronesse;
»wenigstens an Ihnen lieber Graf, habe ich bemerkt, dass niemand mehr Gewalt über Sie hat als ein
Frauenzimmer, dem Sie früher geneigt waren. So habe ich gesehen, dass Sie auf die Fürsprache einer
solchen sich mehr Mühe gaben, um etwas auszuwirken, als vielleicht die Freundin des Augenblicks von Ihnen
erlangt hätte.«

»Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen«, versetzte der Graf; »doch was Charlottens
ersten Gemahl betrifft, so konnte ich ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schöne Paar auseinander sprengte,
ein wahrhaft prädestiniertes Paar, das, einmal zusammengegeben, weder fünf Jahre zu scheuen, noch auf
eine zweite oder gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte«.

»Wir wollen versuchen«, sagte Charlotte, »wieder einzubringen, was wir versäumt haben«.

»Da müssen Sie sich dazuhalten«, sagte der Graf.
»Ihre ersten Heiraten«, fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, »waren doch so eigentlich rechte Heiraten
von der verhassten Art, und leider haben überhaupt die Heiraten - verzeihen Sie mir einen lebhafteren Ausdruck
- etwas Tölpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhältnisse, und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen
Sicherheit, auf die sich wenigstens ein Teil etwas zugute tut. Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur
verbunden zu haben, damit eins wie das andere nunmehr seiner Wege gehe.«

In diesem Augenblick machte Charlotte, die ein für allemal dies Gespräch abbrechen wollte, von einer kühnen
Wendung Gebrauch; es gelang ihr. Die Unterhaltung ward allgemeiner, die beiden Gatten und der Hauptmann konnten daran
teilnehmen; selbst Ottilie ward veranlasst sich zu äußern, und der Nachtisch ward mit der besten Stimmung
genossen, woran der in zierlichen Fruchtkörben aufgestellte Obstreichtum, die bunteste, in Prachtgefäßen
schön verteilte Blumenfülle den vorzüglichsten Anteil hatte.

Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach Tische besuchte. Ottilie zog sich unter dem
Vorwande häuslicher Beschäftigung zurück; eigentlich aber setzte sie sich nieder zur Abschrift.
Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhalten; später gesellte sich Charlotte zu ihm. Als sie oben auf die
Höhe gelangt waren und der Hauptmann gefällig hinuntereilte, um den Plan zu holen, sagte der Graf zu
Charlotten: »Dieser Mann gefällt mir außerordentlich. Er ist sehr wohl und im Zusammenhang
unterrichtet. Ebenso scheint seine Tätigkeit sehr ernst und folgerecht. Was er hier leistet, würde
in einem höhern Kreise von viel Bedeutung sein.«

Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen. Sie fasste sich jedoch und bekräftigte das
Gesagte mit Ruhe und Klarheit. Wie überrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: »Diese Bekanntschaft
kommt mir sehr zu gelegener Zeit. Ich weiß eine Stelle, an die der Mann vollkommen passt, und ich kann
mir durch eine solche Empfehlung, indem ich ihn glücklich mache, einen hohen Freund auf das allerbeste
verbinden.«

Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel. Der Graf bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt,
sich jederzeit zu bändigen, behalten in den außerordentlichsten Fällen immer noch eine Art von
scheinbarer Fassung. Doch hörte sie schon nicht mehr, was der Graf sagte, indem er fortfuhr: »Wenn
ich von etwas überzeugt bin, geht es bei mir geschwind her. Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammengestellt,
und mich drängt's, ihn zu schreiben. Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute Abend
wegschicken kann.«

Charlotte war innerlich zerrissen. Von diesen Vorschlägen sowie von sich selbst überrascht, konnte
sie kein Wort hervorbringen. Der Graf fuhr glücklicherweise fort, von seinen Planen für den Hauptmann
zu sprechen, deren Günstiges Charlotten nur allzu sehr in die Augen fiel. Es war Zeit, dass der Hauptmann
herauftrat und seine Rolle vor dem Grafen entfaltete. Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den sie
verlieren sollte! Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte hinunter nach der Mooshütte.
Schon auf halbem Wege stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun warf sie sich in den engen Raum der
kleinen Einsiedelei und überließ sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren
Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen hergegangen.
Die kluge Frau, die gern von allem unterrichtet sein mochte, bemerkte bald in einem tastenden Gespräch,
dass Eduard sich zu Ottiliens Lobe weitläufig herausließ, und wusste ihn auf eine so natürliche Weise
nach und nach in den Gang zu bringen, dass ihr zuletzt kein Zweifel übrigblieb, hier sei eine Leidenschaft
nicht auf dem Wege, sondern wirklich angelangt.

Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben, stehen doch stillschweigend miteinander,
besonders gegen junge Mädchen, im Bündnis. Die Folgen einer solchen Zuneigung stellten sich ihrem
weltgewandten Geiste nur allzu geschwind dar. Dazu kam noch, dass sie schon heute früh mit Charlotten über
Ottilien gesprochen und den Aufenthalt dieses Kindes auf dem Lande, besonders bei seiner stillen Gemütsart,
nicht gebilligt und den Vorschlag getan hatte, Ottilien in die Stadt zu einer Freundin zu bringen, die sehr
viel an die Erziehung ihrer einzigen Tochter wende und sich nur nach einer gutartigen Gespielin umsehe, die
an die zweite Kindesstatt eintreten und alle Vorteile mitgenießen solle. Charlotte hatte sich's zur Überlegung genommen.

Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemüt diesen Vorschlag bei der Baronesse ganz zur vorsätzlichen Festigkeit,
und um so schneller dieses in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie äußerlich Eduards Wünschen.
Denn niemand besaß sich mehr als diese Frau, und diese Selbstbeherrschung in außerordentlichen Fällen gewöhnt uns,
sogar einen gemeinen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt, indem wir soviel Gewalt über uns selbst
üben, unsre Herrschaft auch über die andern zu verbreiten, um uns durch das, was wir äußerlich gewinnen, für dasjenige,
was wir innerlich entbehren, gewissermaßen schadlos zu halten.

An diese Gesinnung schließt sich meist eine Art heimlicher Schadenfreude über die Dunkelheit der andern, über das
Bewusstlose, womit sie in eine Falle gehen. Wir freuen uns nicht allein über das gegenwärtige Gelingen, sondern
zugleich auch auf die künftig überraschende Beschämung. Und so war die Baronesse boshaft genug, Eduarden zur
Weinlese auf ihre Güter mit Charlotten einzuladen und die Frage Eduards, ob sie Ottilien mitbringen dürften,
auf eine Weise, die er beliebig zu seinen Gunsten auslegen konnte, zu beantworten.

Eduard sprach schon mit Entzücken von der herrlichen Gegend, dem großen Flusse, den Hügeln, Felsen und Weinbergen,
von alten Schlössern, von Wasserfahrten, von dem Jubel der Weinlese, des Kelterns und so weiter, wobei er in der
Unschuld seines Herzens sich schon zum Voraus laut über den Eindruck freute, den dergleichen Szenen auf das frische
Gemüt Ottiliens machen würden. In diesem Augenblick sah man Ottilien herankommen, und die Baronesse sagte schnell
zu Eduard, er möchte von dieser vorhabenden Herbstreise ja nichts reden; denn gewöhnlich geschähe das nicht, worauf
man sich so lange voraus freue. Eduard versprach, nötigte sie aber, Ottilien entgegen geschwinder zu gehen, und
eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, mehrere Schritte voran. Eine herzliche Freude drückte sich in seinem ganzen
Wesen aus. Er küsste ihr die Hand, in die er einen Strauß Feldblumen drückte, die er unterwegs zusammengepflückt hatte.
Die Baronesse fühlte sich bei diesem Anblick in ihrem Innern fast erbittert. Denn wenn sie auch das, was an dieser
Neigung strafbar sein mochte, nicht billigen durfte, so konnte sie das, was daran liebenswürdig und angenehm war,
jenem unbedeutenden Neuling von Mädchen keineswegs gönnen.

Als man sich zum Abendessen zusammengesetzt hatte, war eine völlig andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet.
Der Graf, der schon vor Tische geschrieben und den Boten fortgeschickt hatte, unterhielt sich mit dem Hauptmann,
den er auf eine verständige und bescheidene Weise immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen Abend an seine Seite
gebracht hatte. Die zur Rechten des Grafen sitzende Baronesse fand von daher wenig Unterhaltung, ebensowenig an
Eduard, der, erst durstig, dann aufgeregt, des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit Ottilien unterhielt,
die er an sich gezogen hatte, wie von der andern Seite neben dem Hauptmann Charlotte saß, der es schwer, ja beinahe
unmöglich ward, die Bewegungen ihres Innern zu verbergen.

Die Baronesse hatte Zeit genug, Beobachtungen anzustellen. Sie bemerkte Charlottens Unbehagen, und weil sie nur
Eduards Verhältnis zu Ottilien im Sinn hatte, so überzeugte sie sich leicht, auch Charlotte sei bedenklich und
verdrießlich über ihres Gemahls Benehmen, und überlegte, wie sie nunmehr am besten zu ihren Zwecken gelangen könne.

Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der Graf, der den Hauptmann recht ergründen wollte,
brauchte bei einem so ruhigen, keineswegs eitlen und überhaupt lakonischen Manne verschiedene Wendungen, um zu
erfahren, was er wünschte. Sie gingen miteinander an der einen Seite des Saals auf und ab, indes Eduard, aufgeregt
von Wein und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster scherzte, Charlotte und die Baronesse aber stillschweigend
an der andern Seite des Saals nebeneinander hin und wider gingen. Ihr Schweigen und müßiges Umherstehen brachte
denn auch zuletzt eine Stockung in die übrige Gesellschaft. Die Frauen zogen sich zurück auf ihren Flügel, die
Männer auf den andern, und so schien dieser Tag abgeschlossen.
Elftes Kapitel

Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern durchs Gespräch verführen,
noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben. Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die
Schönheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer entwickelte: »Ein schöner Fuß
ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwüstlich. Ich habe sie heute im Gehen beobachtet;
noch immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte
Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten
und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken.«

Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter zwei vertrauten Männern.
Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zurück und kamen auf die Hindernisse, die man
ehemals den Zusammenkünften dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Mühe sie sich gegeben,
welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu können, dass sie sich liebten.

»Erinnerst du dich«, fuhr der Graf fort, »welch Abenteuer ich dir recht freundschaftlich
und uneigennützig bestehen helfen, als unsre höchsten Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem
weitläufigen Schlosse zusammenkamen? Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern hingegangen; ein
Teil der Nacht sollte wenigstens unter freiem, liebevollem Gespräch verstreichen.«

»Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt«, sagte Eduard.
»Wir gelangten glücklich zu meiner Geliebten.«

»Die«, versetzte der Graf, »mehr an den Anstand als an meine Zufriedenheit gedacht und eine
sehr hässliche Ehrenwächterin bei sich behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken
und Worten sehr gut unterhieltet, ein höchst unerfreuliches Los zuteil ward.«

»Ich habe mich noch gestern«, versetzte Eduard, »als Sie sich anmelden ließen, mit meiner
Frau an die Geschichte erinnert, besonders an unsern Rückzug. Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal
der Garden. Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wussten, so glaubten wir auch hier ganz ohne Bedenken
hindurch und an dem Posten, wie an den übrigen, vorbeigehen zu können. Aber wie groß war
beim Eröffnen der Türe unsere Verwunderung! Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen
in mehreren Reihen ausgestreckt lagen und schliefen. Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert
an; wir aber, im jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen über die ausgestreckten Stiefel
weg, ohne dass auch nur einer von diesen schnarchenden Enakskindern erwacht wäre.«

»Ich hatte große Lust zu stolpern«, sagte der Graf, »damit es Lärm gegeben
hätte; denn welch eine seltsame Auferstehung würden wir gesehen haben!«

In diesem Augenblick schlug die Schlossglocke zwölf.

»Es ist hoch Mitternacht«, sagte der Graf lächelnd, »und eben gerechte Zeit.
Ich muss Sie, lieber Baron, um eine Gefälligkeit bitten: führen Sie mich heute, wie ich Sie
damals führte; ich habe der Baronesse das Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen.
Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns so lange nicht gesehen, und nichts
ist natürlicher, als dass man sich nach einer vertraulichen Stunde sehnt.
Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rückweg will ich schon finden, und auf alle Fälle werde ich
über keine Stiefel wegzustolpern haben.«

»Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefälligkeit erzeigen«, versetzte Eduard;
»nur sind die drei Frauenzimmer drüben zusammen auf dem Flügel.
Wer weiß, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder was wir sonst für Händel
anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn gewinnen.«

»Nur ohne Sorge!«, sagte der Graf; »die Baronesse erwartet mich. Sie ist um diese
Zeit gewiss auf ihrem Zimmer und allein.«

»Die Sache ist übrigens leicht«, versetzte Eduard und nahm ein Licht, dem Grafen
vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem langen Gang führte.
Am Ende desselben öffnete Eduard eine kleine Türe.
Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem
er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich
sich öffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum zurückließ.

Eine andre Türe links ging in Charlottens Schlafzimmer. Er hörte reden und horchte.
Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: »Ist Ottilie schon zu Bette?« »Nein«,
versetzte jene, »sie sitzt noch unten und schreibt.« »So zünde Sie das Nachtlicht
an«, sagte Charlotte, »und gehe Sie nur hin: es ist spät.
Die Kerze will ich selbst auslöschen und für mich zu Bette gehen.«

Eduard hörte mit Entzücken, dass Ottilie noch schreibe.
Sie beschäftigt sich für mich! dachte er triumphierend.
Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr
zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches
Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein. Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoss,
wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare
Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen, er fand sie
verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.

Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab. Sie wiederholte sich
aber- und abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um
und um gewendet hatte. Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen. Er füllte noch das Haus,
er belebte noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden!
Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte, wie man gewöhnlich pflegt,
den leidigen Trost, dass auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden.
Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwünschte die
totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein.

Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Tränen um so willkommner, als sie bei ihr selten stattfand.
Sie warf sich auf das Sofa und überließ sich ganz ihrem Schmerz. Eduard seinerseits konnte von
der Türe nicht weg; er pochte nochmals, und zum dritten Mal etwas stärker, sodass
Charlotte durch die Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr. Der erste Gedanke war,
es könne, es müsse der Hauptmann sein; der zweite, das sei unmöglich.
Sie hielt es für Täuschung, aber sie hatte es gehört, sie wünschte, sie fürchtete
es gehört zu haben. Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentür.
Sie schalt sich über ihre Furcht. Wie leicht kann die Gräfin etwas bedürfen! sagte sie
zu sich selbst und rief gefasst und gesetzt: »Ist jemand da?« Eine leise Stimme antwortete:
»Ich bin's.« »Wer?«, entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.
Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür. Etwas lauter klang es ihr entgegen: »Eduard!«
Sie öffnete, und ihr Gemahl stand vor ihr. Er begrüßte sie mit einem Scherz.
Es ward ihr möglich, in diesem Tone fortzufahren. Er verwickelte den rätselhaften Besuch in
rätselhafte Erklärungen. »Warum ich denn aber eigentlich komme«, sagte er zuletzt,
»muss ich dir nur gestehen. Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu
küssen.«

»Das ist dir lange nicht eingefallen«, sagte Charlotte. »Desto schlimmer«, versetzte
Eduard, »und desto besser!«

Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu entziehen.
Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, dass er nicht ihren Schuh küsste,
und dass, als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zärtlich an seine Brust
drückte.

Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur mäßig, im Ehestande ohne Vorsatz und Anstrengung
die Art und Weise der Liebhaberinnen fortführen. Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam
sie kaum entgegen; aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer einer liebevollen Braut,
die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu trägt. Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.
Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.
Aber das, was Eduarden hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an. Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.
Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch
unendlich, die wir gewöhnlich als stark und gefasst kennen. Eduard war so liebenswürdig, so
freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft
suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, dass er Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte
über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher
oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und
wonnevoll durcheinander.

Und doch lässt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben. Sie brachten einen Teil der
Nacht unter allerlei Gesprächen und Scherzen zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen
Teil daran nahm. Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag
ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von
ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie erwachte.
Zwölftes Kapitel

Als die Gesellschaft zum Frühstück wieder zusammenkam, hätte ein aufmerksamer Beobachter
an dem Betragen der einzelnen die Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen können.
Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern Behagen, das ein Paar Liebende empfinden, die sich
nach erduldeter Trennung ihrer wechselseitigen Neigung abermals versichert halten, dagegen Charlotte und
Eduard gleichsam beschämt und ruhig dem Hauptmann und Ottilien entgegentraten. Denn so ist die Liebe
beschaffen, dass sie allein Recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden. Ottilie
war kindlich heiter, nach ihrer Weise konnte man sie offen nennen. Ernst erschien der Hauptmann; ihm war
bei der Unterredung mit dem Grafen, indem dieser alles in ihm aufregte, was einige Zeit geruht und geschlafen
hatte, nur zu fühlbar geworden, dass er eigentlich hier seine Bestimmung nicht erfülle und im
Grunde bloß in einem halbtätigen Müßiggang hinschlendere. Kaum hatten sich die
beiden Gäste entfernt, als schon wieder neuer Besuch eintraf, Charlotten willkommen, die aus sich
selbst herauszugehen, sich zu zerstreuen wünschte; Eduarden ungelegen, der eine doppelte Neigung
fühlte, sich mit Ottilien zu beschäftigen; Ottilien gleichfalls unerwünscht, die mit
ihrer auf morgen früh so nötigen Abschrift noch nicht fertig war. Und so eilte sie auch,
als die Fremden sich spät entfernten, sogleich auf ihr Zimmer.

Es war Abend geworden. Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche die Fremden, ehe sie sich in den
Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß begleitet hatten, wurden einig, noch einen Spaziergang nach den
Teichen zu machen. Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit ansehnlichen Kosten aus der Ferne verschrieben hatte.
Man wollte versuchen, ob er sich leicht bewegen und lenken lasse.

Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten Eichbäumen angebunden, auf die
man schon bei künftigen Anlagen gerechnet hatte. Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den
Bäumen ein architektonischer Ruhesitz aufgeführt werden, wonach diejenigen, die über den
See fahren, zu steuern hätten.

»Wo wird man denn nun drüben die Landung am besten anlegen?«, fragte Eduard.
»Ich sollte denken, bei meinen Platanen.«

»Sie stehen ein wenig zu weit rechts«, sagte der Hauptmann. »Landet man weiter unten, so
ist man dem Schlosse näher; doch muss man es überlegen.«

Der Hauptmann stand schon im Hinterteile des Kahns und hatte ein Ruder ergriffen.
Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und fasste das andre Ruder; aber als er eben im Abstoßen
begriffen war, gedachte er Ottiliens, gedachte, dass ihn diese Wasserfahrt verspäten, wer weiß
erst wann zurückführen würde. Er entschloss sich kurz und gut, sprang wieder ans Land,
reichte dem Hauptmann das andre Ruder und eilte, sich flüchtig entschuldigend, nach Hause.

Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe.
Bei dem angenehmen Gefühle, dass sie für ihn etwas tue, empfand er das lebhafteste
Missbehagen, sie nicht gegenwärtig zu sehen.
Seine Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke.
Er ging in dem großen Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Sie wünschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zurückkäme.
Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezündet.

Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit.
Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst gehoben.
Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch. »Wollen wir kollationieren?«, sagte sie lächelnd.
Eduard wusste nicht, was er erwidern sollte. Er sah sie an, er besah die Abschrift.
Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben,
dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als
er die letzten Seiten mit den Augen überlief! »Um Gottes willen!«, rief er aus, »was ist das?
Das ist meine Hand!« Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluss war ganz,
als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten
Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: »Du liebst mich!«, rief er aus, »Ottilie,
du liebst mich!«, und sie hielten einander umfasst. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu
unterscheiden gewesen.

Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen.
Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in die Augen, im Begriff, sich wieder zu umarmen.

Charlotte mit dem Hauptmann trat herein. Zu den Entschuldigungen eines längeren Außenbleibens
lächelte Eduard heimlich. O wie viel zu früh kommt ihr!, sagte er zu sich selbst.

Sie setzten sich zum Abendessen. Die Personen des heutigen Besuchs wurden beurteilt.
Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem jeden, immer schonend, oft billigend.
Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, dass er,
der sonst über die scheidende Gesellschaft immer das strengste Zungengericht ergehen lasse, heute so mild und nachsichtig sei.

Mit Feuer und herzlicher Überzeugung rief Eduard: »Man muss nur
ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen
einem die übrigen alle liebenswürdig vor!« Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte sah vor sich hin.

Der Hauptmann nahm das Wort und sagte: »Mit den Gefühlen der Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas Ähnliches.
Man erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche Gesinnungen an
einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet.«

Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich der Erinnerung dessen zu überlassen, was
diesen Abend zwischen ihr und dem Hauptmann vorgegangen war.

Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und Freund dem schwankenden Element selbst
überantwortete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im Stillen schon so viel gelitten hatte, in der
Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen.
Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder,
der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der
Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille.
Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen.
Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen.

Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die Anlagen werden sollten.
Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns, dass er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person
bewegen und regieren lasse. Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser
hinzuschwimmen und sein eigner Fähr- und Steuermann zu sein.

Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs Herz.
Sagt er das mit Vorsatz?, dachte sie bei sich selbst. Weiß er schon davon?
Vermutet er's? Oder sagt er es zufällig, sodass er mir bewusstlos mein Schicksal vorausverkündigt?
Es ergriff sie eine große Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmöglichst zu landen und mit ihr nach
dem Schlosse zurückzukehren.

Es war das erste Mal, dass der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte,
so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt. Dunkel fing es an zu werden; er richtete seinen Lauf dahin, wo er
einen bequemen Ort zum Aussteigen vermutete und den Fußpfad nicht entfernt wusste, der nach dem Schlosse führte.
Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als Charlotte mit einer Art von Ängstlichkeit den
Wunsch wiederholte, bald am Lande zu sein. Er näherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider
fühlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er hatte sich festgefahren, und seine Bemühungen, wieder
loszukommen, waren vergebens. Was war zu tun? Ihm blieb nichts übrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht
genug war, und die Freundin an das Land zu tragen. Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug,
um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen.
Er hielt sie fest und drückte sie an sich. Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung
und Verwirrung. Sie lag noch an seinem Halse; er schloss sie aufs Neue in seine Arme und drückte einen lebhaften
Kuss auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihren Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand
und rief: »Charlotte, werden Sie mir vergeben?«

Der Kuss, den der Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurückgegeben, brachte Charlotten wieder zu sich selbst.
Sie drückte seine Hand, aber sie hob ihn nicht auf. Doch indem sie sich zu ihm hinunterneigte und eine Hand auf seine
Schultern legte, rief sie aus: »Dass dieser Augenblick in unserm Leben Epoche mache, können wir nicht
verhindern; aber dass sie unser wert sei, hängt von uns ab. Sie müssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden
scheiden. Der Graf macht Anstalt, Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich.
Ich wollte es verschweigen, bis es gewiss wäre; der Augenblick nötigt mich, dies Geheimnis zu entdecken.
Nur insofern kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Mut haben, unsre Lage zu ändern, da es von uns nicht
abhängt, unsre Gesinnung zu ändern.« Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm, um sich darauf zu stützen,
und so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse.

Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin Eduards empfinden und betrachten musste.
Ihr kam bei diesen Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben mannigfaltig geübter Charakter zu Hilfe.
Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewusst zu sein, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer,
durch ernste Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu nähern; ja sie musste über sich selbst
lächeln, indem sie des wunderlichen Nachtbesuches gedachte. Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung, ein
freudig bängliches Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste. Gerührt kniete sie
nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr
in heitern Bildern vorüber. Sie fühlte sich innerlich wieder hergestellt.
Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein.
Dreizehntes Kapitel

Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung.
Zu schlafen denkt er so wenig, dass es ihm nicht einmal einfällt, sich auszuziehen.
Die Abschrift des Dokuments küsste er tausendmal, den Anfang von Ottiliens kindlich schüchterner Hand;
das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt.
O, dass es ein andres Dokument wäre!, sagt er sich im Stillen; und doch ist es ihm auch
schon die schönste Versicherung, dass sein höchster Wunsch erfüllt sei.
Bleibt es ja doch in seinen Händen! Und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken,
obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten?

Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor. Die warme Nacht lockt Eduarden ins Freie; er schweift umher,
er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen.
Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit.
Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern.
Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe. Mauern und Riegel, sagt er zu sich selbst,
trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt. Stünde sie vor mir, in meine Arme würde
sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewissheit! Alles war still um ihn her,
kein Lüftchen regte sich; so still wars, dass er das wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde
vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind. Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach,
schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die
frühsten Nebel gewältigte.

Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen. Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben.
Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig und die vorgesetzte Tagesarbeit für seine Wünsche zu gering.
Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und stellte sie im Laufe des Tages.
Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsätze schleunig ausgeführt zu sehen.
Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr; es soll schon alles fertig sein, und für wen?
Die Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen könne.
Auch an dem neuen Hause treibt er, was er kann; es soll an Ottiliens Geburtstage gerichtet werden.
In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist kein Maß mehr. Das Bewusstsein, zu lieben und geliebt
zu werden, treibt ihn ins Unendliche. Wie verändert ist ihm die Ansicht von allen Zimmern, von allen Umgebungen!
Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr. Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr
versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur
gebändigt war, bricht los, sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien.

Der Hauptmann beobachtet dieses leidenschaftliche Treiben und wünscht den traurigen Folgen zuvorzukommen.
Alle diese Anlagen, die jetzt mit einem einseitigen Triebe übermäßig gefördert werden,
hatte er auf ein ruhig freundliches Zusammenleben berechnet. Der Verkauf des Vorwerks war durch ihn zustande
gebracht, die erste Zahlung geschehen, Charlotte hatte sie der Abrede nach in ihre Kasse genommen.
Aber sie muss gleich in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung mehr als sonst üben und im Auge haben;
denn nach der übereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen.

Es war viel angefangen und viel zu tun. Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen!
Sie beraten sich und kommen überein, man wolle die planmäßigen Arbeiten lieber selbst beschleunigen,
zu dem Ende Gelder aufnehmen und zu deren Abtragung die Zahlungstermine anweisen, die vom Vorwerksverkauf zurückgeblieben waren.
Es ließ sich fast ohne Verlust durch Zession der Gerechtsame tun; man hatte freiere Hand; man leistete, da alles im Gange,
Arbeiter genug vorhanden waren, mehr auf einmal und gelangte gewiss und bald zum Zweck.
Eduard stimmte gern bei, weil es mit seinen Absichten übereintraf.

Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht und sich vorgesetzt, und männlich
steht ihr der Freund mit gleichem Sinn zur Seite. Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt.
Sie erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft, sie beraten sich darüber.
Charlotte schließt Ottilien näher an sich, beobachtet sie strenger, und je mehr sie ihr eigen
Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das Herz des Mädchens. Sie sieht keine Rettung, als sie muss
das Kind entfernen.

Nun scheint es ihr eine glückliche Fügung, dass Luciane ein so ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten;
denn die Großtante, davon unterrichtet, will sie nun ein für allemal zu sich nehmen, sie um sich haben,
sie in die Welt einführen. Ottilie konnte in die Pension zurückkehren, der Hauptmann entfernte sich
wohlversorgt; und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser. Ihr eigenes Verhältnis hoffte
Charlotte zu Eduard bald wieder herzustellen, und sie legte das alles so verständig bei sich zurecht, dass
sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestärkte: in einen frühern, beschränktern Zustand könne
man zurückkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen.

Eduard empfand indessen die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den Weg legte. Er bemerkte gar bald, dass
man ihn und Ottilien auseinander hielt, dass man ihm erschwerte, sie allein zu sprechen, ja sich ihr zu nähern,
außer in Gegenwart von mehreren; und indem er hierüber verdrießlich war, ward er es über manches andere.
Konnte er Ottilien flüchtig sprechen, so war es nicht nur, sie seiner Liebe zu versichern, sondern sich auch
über seine Gattin, über den Hauptmann zu beschweren. Er fühlte nicht, dass er selbst durch sein heftiges
Treiben die Kasse zu erschöpfen auf dem Wege war; er tadelte bitter Charlotten und den Hauptmann, dass sie bei
dem Geschäft gegen die erste Abrede handelten, und doch hatte er in die zweite Abrede gewilligt, ja er hatte
sie selbst veranlasst und notwendig gemacht.

Der Hass ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr. Auch Ottilie entfremdete sich einigermaßen von
Charlotten und dem Hauptmann. Als Eduard sich einst gegen Ottilien über den Letztern beklagte, dass er als
Freund und in einem solchen Verhältnisse nicht ganz aufrichtig handle, versetzte Ottilie unbedachtsam: »Es
hat mir schon früher missfallen, dass er nicht ganz redlich gegen Sie ist. Ich hörte ihn einmal zu
Charlotten sagen: wenn uns nur Eduard mit seiner Flötendudelei verschonte! Es kann daraus nichts werden
und ist für die Zuhörer so lästig. Sie können denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich
Sie so gern akkompagniere.«

Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zuflüsterte, dass sie hätte schweigen sollen; aber es war heraus.
Eduards Gesichtszüge verwandelten sich. Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen; er war in seinen liebsten Forderungen
angegriffen, er war sich eines kindlichen Strebens ohne die mindeste Anmaßung bewusst.
Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, sollte doch mit Schonung von Freuden behandelt werden.
Er dachte nicht, wie schrecklich es für einen Dritten sei, sich die Ohren durch ein unzulängliches
Talent verletzen zu lassen. Er war beleidigt, wütend, um nicht wieder zu vergeben.
Er fühlte sich von allen Pflichten losgesprochen.

Die Notwendigkeit, mit Ottilien zu sein, sie zu sehen, ihr etwas zuzuflüstern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage.
Er entschloss sich, ihr zu schreiben, sie um einen geheimen Briefwechsel zu bitten.
Das Streifchen Papier, worauf er dies lakonisch genug getan hatte, lag auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind
heruntergeführt, als der Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu kräuseln.
Gewöhnlich, um die Hitze des Eisens zu versuchen, bückte sich dieser nach Papierschnitzeln auf der Erde;
diesmal ergriff er das Billet, zwickte es eilig, und es war versengt. Eduard, den Missgriff bemerkend, riss es
ihm aus der Hand. Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte nicht ganz so zum zweiten
Mal aus der Feder. Er fühlte einiges Bedenken, einige Besorgnis, die er jedoch überwand.
Ottilien wurde das Blättchen in die Hand gedrückt, den ersten Augenblick, wo er sich ihr nähern konnte.

Ottilie versäumte nicht, ihm zu antworten. Ungelesen steckte er das Zettelchen in die Weste, die, modisch
kurz, es nicht gut verwahrte. Es schob sich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt zu werden, auf den Boden.
Charlotte sah es und hob es auf und reichte es ihm mit einem flüchtigen Überblick.
»Hier ist etwas von deiner Hand«, sagte sie, »das du vielleicht ungern verlörest«.

Er war betroffen. Verstellt sie sich?, dachte er. Ist sie den Inhalt des Blättchens gewahr worden, oder irrt
sie sich an der Ähnlichkeit der Hände? Er hoffte, er dachte das Letztre.
Er war gewarnt, doppelt gewarnt; aber diese sonderbaren, zufälligen Zeichen, durch die ein höheres
Wesen mit uns zu sprechen scheint, waren seiner Leidenschaft unverständlich; vielmehr, indem sie ihn immer
weiter führte, empfand er die Beschränkung, in der man ihn zu halten schien, immer unangenehmer.
Die freundliche Geselligkeit verlor sich. Sein Herz war verschlossen, und wenn er mit Freund und Frau zusammen zu sein
genötigt war, so gelang es ihm nicht, seine frühere Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder aufzufinden, zu beleben.
Der stille Vorwurf, den er sich selbst hierüber machen musste, war ihm unbequem, und er suchte sich durch eine
Art von Humor zu helfen, der aber, weil er ohne Liebe war, auch der gewohnten Anmut ermangelte. Über alle diese
Prüfungen half Charlotten ihr inneres Gefühl hinweg. Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewusst,
auf eine so schöne, edle Neigung Verzicht zu tun.

Wie sehr wünschte sie, jenen beiden auch zu Hilfe zu kommen! Entfernung, fühlte sie wohl, wird
nicht allein hinreichend sein, ein solches Übel zu heilen. Sie nimmt sich vor, die Sache gegen das gute Kind zur Sprache
zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege.
Sie sucht sich darüber im Allgemeinen auszudrücken; das Allgemeine passt auch auf ihren eignen Zustand,
den sie auszusprechen scheut. Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zurück in ihr eignes Herz.
Sie will warnen und fühlt, dass sie wohl selbst noch einer Warnung bedürfen könnte.
Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser.
Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschlüpfen, wirken auf Ottilien nicht; denn Eduard hatte diese von
Charlottens Neigung zum Hauptmann überzeugt, sie überzeugt, dass Charlotte selbst eine Scheidung
wünsche, die er nun auf eine anständige Weise zu bewirken denke.

Ottilie, getragen durch das Gefühl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem erwünschtesten Glück,
lebt nur für Eduard. Durch die Liebe zu ihm in allem Guten gestärkt, um seinetwillen freudiger in ihrem Tun,
aufgeschlossener gegen andre, findet sie sich in einem Himmel auf Erden.

So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles
scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele
steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.
Vierzehntes Kapitel

Von dem Grafen war indessen ein Brief an den Hauptmann angekommen, und zwar ein doppelter,
einer zum Vorzeigen, der sehr schöne Aussichten in die Ferne darwies; der andre hingegen,
der ein entschiedenes Anerbieten für die Gegenwart enthielt, eine bedeutende Hof- und
Geschäftsstelle, den Charakter als Major, ansehnlichen Gehalt und andre Vorteile, sollte
wegen verschiedener Nebenumstände noch geheimgehalten werden. Auch unterrichtete der
Hauptmann seine Freunde nur von jenen Hoffnungen und verbarg, was so nahe bevorstand.

Indessen setzte er die gegenwärtigen Geschäfte lebhaft fort und machte in der
Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesenheit ungehinderten Fortgang haben könnte.
Es ist ihm nun selbst daran gelegen, dass für manches ein Termin bestimmt werde, dass
Ottiliens Geburtstag manches beschleunige. Nun wirken die beiden Freunde, obschon ohne
ausdrückliches Einverständnis, gern zusammen. Eduard ist nun recht zufrieden, dass
man durch das Vorauserheben der Gelder die Kasse verstärkt hat; die ganze Anstalt
rückt auf das Rascheste vorwärts.

Die drei Teiche in einen See zu verwandeln, hätte jetzt der Hauptmann am liebsten ganz widerraten.
Der untere Damm war zu verstärken, die mittlern abzutragen und die ganze Sache in mehr als
einem Sinne wichtig und bedenklich. Beide Arbeiten aber, wie sie ineinanderwirken konnten, waren schon
angefangen, und hier kam ein junger Architekt, ein ehemaliger Zögling des Hauptmanns, sehr erwünscht,
der teils mit Anstellung tüchtiger Meister, teils mit Verdingen der Arbeit, wo sich's tun ließ,
die Sache förderte und dem Werke Sicherheit und Dauer versprach; wobei sich der Hauptmann im Stillen
freute, dass man seine Entfernung nicht fühlen würde. Denn er hatte den Grundsatz, aus einem
übernommenen unvollendeten Geschäft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt
sähe. Ja er verachtete diejenigen, die, um ihren Abgang fühlbar zu machen, erst noch Verwirrung
in ihrem Kreise anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstören wünschen, wobei
sie nicht mehr fortwirken sollen.

So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu verherrlichen, ohne dass man es
aussprach oder sich's recht aufrichtig bekannte. Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte
es doch kein entschiedenes Fest werden. Die Jugend Ottiliens, ihre Glücksumstände, das
Verhältnis zur Familie berechtigten sie nicht, als Königin eines Tages zu erscheinen. Und Eduard
wollte nicht davon gesprochen haben, weil alles wie von selbst entspringen, überraschen und natürlich
erfreuen sollte.

Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande überein, als wenn an diesem Tage, ohne weitere Beziehung,
jenes Lusthaus gerichtet werden sollte, und bei diesem Anlass konnte man dem Volke sowie den Freunden ein
Fest ankündigen.

Eduards Neigung war aber grenzenlos. Wie er sich Ottilien zuzueignen begehrte, so kannte er auch kein Maß
des Hingebens, Schenkens, Versprechens. Zu einigen Gaben, die er Ottilien an diesem Tage verehren wollte,
hatte ihm Charlotte viel zu ärmliche Vorschläge getan. Er sprach mit seinem Kammerdiener, der seine
Garderobe besorgte und mit Handelsleuten und Modehändlern in beständigem Verhältnis blieb;
dieser, nicht unbekannt sowohl mit den angenehmsten Gaben selbst als mit der besten Art, sie zu überreichen,
bestellte sogleich in der Stadt den niedlichsten Koffer, mit rotem Saffian überzogen, mit Stahlnägeln
beschlagen und angefüllt mit Geschenken, einer solchen Schale würdig.

Noch einen andern Vorschlag tat er Eduarden. Es war ein kleines Feuerwerk vorhanden, das man immer abzubrennen
versäumt hatte. Dies konnte man leicht verstärken und erweitern. Eduard ergriff den Gedanken, und
jener versprach, für die Ausführung zu sorgen. Die Sache sollte ein Geheimnis bleiben.

Der Hauptmann hatte unterdessen, je näher der Tag heranrückte, seine polizeilichen Einrichtungen getroffen,
die er für so nötig hielt, wenn eine Masse Menschen zusammenberufen oder -gelockt wird. Ja sogar hatte er
wegen des Bettelns und andrer Unbequemlichkeiten, wodurch die Anmut eines Festes gestört wird, durchaus
Vorsorge genommen.

Eduard und sein Vertrauter dagegen beschäftigten sich vorzüglich mit dem Feuerwerk.
Am mittelsten Teiche vor jenen großen Eichbäumen sollte es abgebrannt werden; gegenüber unter
den Platanen sollte die Gesellschaft sich aufhalten, um die Wirkung aus gehöriger Ferne, die Abspiegelung
im Wasser, und was auf dem Wasser selbst brennend zu schwimmen bestimmt war, mit Sicherheit und Bequemlichkeit
anzuschauen.

Unter einem andern Vorwand ließ daher Eduard den Raum unter den Platanen von Gesträuch, Gras und
Moos säubern, und nun erschien erst die Herrlichkeit des Baumwuchses sowohl an Höhe als Breite auf
dem gereinigten Boden. Eduard empfand darüber die größte Freude.
Es war ungefähr um diese Jahrszeit, als ich sie pflanzte. Wie lange mag es her sein?, sagte er
zu sich selbst. Sobald er nach Hause kam, schlug er in alten Tagebüchern nach, die sein Vater, besonders
auf dem Lande, sehr ordentlich geführt hatte. Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin erwähnt sein,
aber eine andre häuslich wichtige Begebenheit an demselben Tage, deren sich Eduard noch wohl erinnerte,
musste notwendig darin angemerkt stehen. Er durchblättert einige Bände, der Umstand findet sich.
Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das wunderbarste Zusammentreffen bemerkt!
Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt.
Fünfzehntes Kapitel

Endlich leuchtete Eduarden der sehnlich erwartete Morgen, und nach und nach stellten
viele Gäste sich ein; denn man hatte die Einladungen weit umhergeschickt, und manche,
die das Legen des Grundsteins versäumt hatten, wovon man so viel Artiges erzählte,
wollten diese zweite Feierlichkeit um so weniger verfehlen.

Vor Tafel erschienen die Zimmerleute mit Musik im Schlosshofe, ihren reichen Kranz tragend,
der aus vielen stufenweise übereinander schwankenden Laub- und Blumenreifen zusammengesetzt
war. Sie sprachen ihren Gruß und erbaten sich zur gewöhnlichen Ausschmückung
seidene Tücher und Bänder von dem schönen Geschlecht. Indes die Herrschaft
speiste, setzten sie ihren jauchzenden Zug weiter fort, und nachdem sie sich eine Zeitlang
im Dorfe aufgehalten und daselbst Frauen und Mädchen gleichfalls um manches Band
gebracht, so kamen sie endlich, begleitet und erwartet von einer großen Menge,
auf die Höhe, wo das gerichtete Haus stand.

Charlotte hielt nach der Tafel die Gesellschaft einigermaßen zurück.
Sie wollte keinen feierlichen, förmlichen Zug, und man fand sich daher in
einzelnen Partien, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemächlich ein.
Charlotte zögerte mit Ottilien und machte dadurch die Sache nicht besser;
denn weil Ottilie wirklich die letzte war, die herantrat, so schien es, als wenn
Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet hätten, als wenn die Feierlichkeit
bei ihrer Ankunft nun gleich beginnen müsste.

Dem Hause das rohe Ansehn zu nehmen, hatte man es mit grünem Reisig und Blumen,
nach Angabe des Hauptmanns, architektonisch ausgeschmückt; allein ohne dessen
Mitwissen hatte Eduard den Architekten veranlasst, in dem Gesims das Datum mit
Blumen zu bezeichnen. Das mochte noch hingehen; allein zeitig genug langte der
Hauptmann an, um zu verhindern, dass nicht auch der Name Ottiliens im Giebelfelde
glänzte. Er wusste dieses Beginnen auf eine geschickte Weise abzulehnen und
die schon fertigen Blumenbuchstaben beiseite zu bringen.

Der Kranz war aufgesteckt und weit umher in der Gegend sichtbar.
Bunt flatterten die Bänder und Tücher in der Luft, und eine
kurze Rede verscholl zum größten Teil im Winde.
Die Feierlichkeit war zu Ende, der Tanz auf dem geebneten und mit
Lauben umkreisten Platze vor dem Gebäude sollte nun angehen.
Ein schmucker Zimmergeselle führte Eduarden ein flinkes Bauermädchen
zu und forderte Ottilien auf, welche daneben stand. Die beiden Paare fanden
sogleich ihre Nachfolger, und bald genug wechselte Eduard, indem er Ottilien
ergriff und mit ihr die Runde machte. Die jüngere Gesellschaft mischte
sich fröhlich in den Tanz des Volks, indes die Ältern beobachteten.

Sodann, ehe man sich auf den Spaziergängen zerstreute, ward abgeredet,
dass man sich mit Untergang der Sonne bei den Platanen wieder versammeln
wollte. Eduard fand sich zuerst ein, ordnete alles und nahm Abrede mit dem
Kammerdiener, der auf der andern Seite in Gesellschaft des Feuerwerkers die
Lusterscheinungen zu besorgen hatte.

Der Hauptmann bemerkte die dazu getroffenen Vorrichtungen nicht mit Vergnügen;
er wollte wegen des zu erwartenden Andrangs der Zuschauer mit Eduard sprechen, als
ihn derselbe etwas hastig bat, er möge ihm diesen Teil der Feierlichkeit doch
allein überlassen.

Schon hatte sich das Volk auf die oberwärts abgestochenen und vom Rasen entblößten
Dämme gedrängt, wo das Erdreich uneben und unsicher war.
Die Sonne ging unter, die Dämmerung trat ein, und in Erwartung größerer
Dunkelheit wurde die Gesellschaft unter den Platanen mit Erfrischungen bedient.
Man fand den Ort unvergleichlich und freute sich in Gedanken, künftig von hier
die Aussicht auf einen weiten und so mannigfaltig begrenzten See zu genießen.

Ein ruhiger Abend, eine vollkommene Windstille versprachen das nächtliche Fest zu
begünstigen, als auf einmal ein entsetzliches Geschrei entstand.
Große Schollen hatten sich vom Damme losgetrennt, man sah mehrere Menschen ins Wasser stürzen.
Das Erdreich hatte nachgegeben unter dem Drängen und Treten der immer zunehmenden Menge.
Jeder wollte den besten Platz haben, und nun konnte niemand vorwärts noch zurück.

Jedermann sprang auf und hinzu, mehr um zu schauen als zu tun; denn was war da zu tun, wo niemand
hinreichen konnte. Nebst einigen Entschlossenen eilte der Hauptmann herbei, trieb sogleich die Menge
von dem Damm herunter nach den Ufern, um den hilfreichen freie Hand zu geben, welche die Versinkenden
herauszuziehen suchten. Schon waren alle teils durch eignes, teils durch fremdes Bestreben wieder auf dem
Trocknen, bis auf einen Knaben, der durch allzu ängstliches Bemühen, statt sich dem Damm zu
nähern, sich davon entfernt hatte. Die Kräfte schienen ihn zu verlassen, nur einige Mal kam
noch eine Hand, ein Fuß in die Höhe. Unglücklicherweise war der Kahn auf der andern Seite,
mit Feuerwerk gefüllt, nur langsam konnte man ihn ausladen, und die Hilfe verzögerte sich.
Des Hauptmanns Entschluss war gefasst, er warf die Oberkleider weg, aller Augen richteten sich
auf ihn, und seine tüchtige, kräftige Gestalt flößte jedermann Zutrauen ein; aber
ein Schrei der Überraschung drang aus der Menge hervor, als er sich ins Wasser stürzte,
jedes Auge begleitete ihn, der als geschickter Schwimmer den Knaben bald erreichte und ihn, jedoch
für tot, an den Damm brachte.

Indessen ruderte der Kahn herbei, der Hauptmann bestieg ihn und forschte genau von den Anwesenden,
ob denn auch wirklich alle gerettet seien. Der Chirurgus kommt und übernimmt den totgeglaubten
Knaben; Charlotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann, nur für sich zu sorgen, nach dem
Schlosse zurückzukehren und die Kleider zu wechseln. Er zaudert, bis ihm gesetzte, verständige Leute,
die ganz nahe gegenwärtig gewesen, die selbst zur Rettung der Einzelnen beigetragen, auf das Heiligste
versichern, dass alle gerettet seien.

Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, dass Wein und Tee und was sonst nötig wäre,
verschlossen ist, dass in solchen Fällen die Menschen gewöhnlich verkehrt handeln; sie eilt
durch die zerstreute Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet. Eduard ist beschäftigt,
jedermann zuzureden: man soll bleiben; in Kurzem gedenkt er das Zeichen zu geben, und das Feuerwerk
soll beginnen. Charlotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnügen zu verschieben, das jetzt nicht am
Platze sei, das in dem gegenwärtigen Augenblick nicht genossen werden könne; sie erinnert ihn,
was man dem Geretteten und dem Retter schuldig sei. »Der Chirurgus wird schon seine Pflicht tun«,
versetzte Eduard. »Er ist mit allem versehen, und unser Zudringen wäre nur eine hinderliche
Teilnahme.«

Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich sogleich zum Weggehen anschickte.
Eduard ergriff ihre Hand und rief: »Wir wollen diesen Tag nicht im Lazarett endigen!
Zur barmherzigen Schwester ist sie zu gut. Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die
Lebendigen sich abtrocknen.«

Charlotte schwieg und ging. Einige folgten ihr, andere diesen; endlich wollte niemand der Letzte sein,
und so folgten alle. Eduard und Ottilie fanden sich allein unter den Platanen.
Er bestand darauf zu bleiben, so dringend, so ängstlich sie ihn auch bat, mit ihr nach dem
Schlosse zurückzukehren. »Nein, Ottilie!«, rief er, »das Außerordentliche
geschieht nicht auf glattem, gewöhnlichem Wege. Dieser überraschende Vorfall von heute Abend
bringt uns schneller zusammen. Du bist die Meine! Ich habe dir's schon so oft gesagt und geschworen;
wir wollen es nicht mehr sagen und schwören, nun soll es werden.«

Der Kahn von der andern Seite schwamm herüber. Es war der Kammerdiener, der verlegen anfragte,
was nunmehr mit dem Feuerwerk werden sollte. »Brennt es ab!«, rief er ihm entgegen.
»Für dich allein war es bestellt, Ottilie, und nun sollst du es auch allein sehen!
Erlaube mir, an deiner Seite sitzend, es mit zu genießen.« Zärtlich bescheiden
setzte er sich neben sie, ohne sie zu berühren.

Raketen rauschten auf, Kanonenschläge donnerten, Leuchtkugeln stiegen, Schwärmer schlängelten
und platzten, Räder gischten, jedes erst einzeln, dann gepaart, dann alle zusammen und immer gewaltsamer
hintereinander und zusammen. Eduard, dessen Busen brannte, verfolgte mit lebhaft zufriedenem Blick diese
feurigen Erscheinungen. Ottiliens zartem, aufgeregtem Gemüt war dieses rauschende, blitzende Entstehen
und Verschwinden eher ängstlich als angenehm. Sie lehnte sich schüchtern an Eduard, dem diese
Annäherung, dieses Zutrauen das volle Gefühl gab, dass sie ihm ganz angehöre.

Die Nacht war kaum in ihre Rechte wieder eingetreten, als der Mond aufging und die Pfade der beiden
Rückkehrenden beleuchtete. Eine Figur, den Hut in der Hand, vertrat ihnen den Weg und sprach sie um ein
Almosen an, da es an diesem festlichen Tage versäumt worden sei. Der Mond schien ihm ins Gesicht, und Eduard
erkannte die Züge jenes zudringlichen Bettlers. Aber so glücklich wie er war, konnte er nicht
ungehalten sein, konnte es ihm nicht einfallen, dass besonders für heute das Betteln höchlich
verpönt worden. Er forschte nicht lange in der Tasche und gab ein Goldstück hin.
Er hätte jeden gern glücklich gemacht, da sein Glück ohne Grenzen schien.

Zu Hause war indes alles erwünscht gelungen. Die Tätigkeit des Chirurgen, die Bereitschaft
alles Nötigen, der Beistand Charlottens, alles wirkte zusammen, und der Knabe ward wieder zum
Leben hergestellt. Die Gäste zerstreuten sich, sowohl um noch etwas vom Feuerwerk aus der Ferne zu
sehen, als auch um nach solchen verworrnen Szenen ihre ruhige Heimat wieder zu betreten.

Auch hatte der Hauptmann, geschwind umgekleidet, an der nötigen Vorsorge tätigen Anteil genommen;
alles war beruhigt, und er fand sich mit Charlotten allein. Mit zutraulicher Freundlichkeit erklärte
er nun, dass seine Abreise nahe bevorstehe. Sie hatte diesen Abend so viel erlebt, dass diese Entdeckung
wenig Eindruck auf sie machte; sie hatte gesehen, wie der Freund sich aufopferte, wie er rettete und selbst gerettet war.
Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine bedeutende Zukunft, aber keine unglückliche zu weissagen.

Eduarden, der mit Ottilien hereintrat, wurde die bevorstehende Abreise des Hauptmanns gleichfalls angekündigt.
Er argwohnte, dass Charlotte früher um das Nähere gewusst habe, war aber viel zu sehr mit sich und
seinen Absichten beschäftigt, als dass er es hätte übel empfinden sollen.

Im Gegenteil vernahm er aufmerksam und zufrieden die gute und ehrenvolle Lage, in die der Hauptmann
versetzt werden sollte. Unbändig drangen seine geheimen Wünsche den Begebenheiten vor.
Schon sah er jenen mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien. Man hätte ihm zu diesem Fest kein
größeres Geschenk machen können.

Aber wie erstaunt war Ottilie, als sie auf ihr Zimmer trat und den köstlichen kleinen Koffer auf ihrem Tische fand!
Sie säumte nicht, ihn zu eröffnen. Da zeigte sich alles so schön gepackt und geordnet, dass sie es
nicht auseinander zu nehmen, ja kaum zu lüften wagte. Musselin, Batist, Seide, Schals und Spitzen wetteiferten
an Feinheit, Zierlichkeit und Kostbarkeit. Auch war der Schmuck nicht vergessen.
Sie begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopf bis auf den Fuß zu kleiden; es war aber
alles so kostbar und fremd, dass sie sich's in Gedanken nicht zuzueignen getraute.
Sechzehntes Kapitel

Des andern Morgens war der Hauptmann verschwunden und ein dankbar gefühltes Blatt an die Freunde von ihm zurückgeblieben.
Er und Charlotte hatten abends vorher schon halben und einsilbigen Abschied genommen.
Sie empfand eine ewige Trennung und ergab sich darein; denn in dem zweiten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt mitteilte, war auch von einer Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat die Rede, und obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so hielt sie doch die Sache schon für gewiss und entsagte ihm rein und völlig.

Dagegen glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie über sich selbst ausgeübt, von andern fordern zu können.
Ihr war es nicht unmöglich gewesen, andern sollte das gleiche möglich sein.
In diesem Sinne begann sie das Gespräch mit ihrem Gemahl, um so mehr offen und zuversichtlich, als sie empfand, dass die Sache ein für allemal abgetan werden müsse.

»Unser Freund hat uns verlassen«, sagte sie; »wir sind nun wieder gegeneinander über wie vormals, und es käme nun wohl auf uns an, ob wir wieder völlig in den alten Zustand zurückkehren wollten«.

Eduard, der nichts vernahm, als was seiner Leidenschaft schmeichelte, glaubte, dass Charlotte durch diese Worte den früheren Witwenstand bezeichnen und, obgleich auf unbestimmte Weise, zu einer Scheidung Hoffnung machen wolle.
Er antwortete deshalb mit Lächeln: »Warum nicht?«
Es käme nur darauf an, dass man sich verständigte.

Er fand sich daher gar sehr betrogen, als Charlotte versetzte: »Auch Ottilien in eine andere Lage zu bringen, haben wir gegenwärtig nur zu wählen; denn es findet sich eine doppelte Gelegenheit, ihr Verhältnisse zu geben, die für sie wünschenswert sind.
Sie kann in die Pension zurückkehren, da meine Tochter zur Großtante gezogen ist; sie kann in ein angesehenes Haus aufgenommen werden, um mit einer einzigen Tochter alle Vorteile einer standesmäßigen Erziehung zu genießen.«

»Indessen«, versetzte Eduard ziemlich gefasst, »hat Ottilie sich in unserer freundlichen Gesellschaft so verwöhnt, dass
ihr eine andere wohl schwerlich willkommen sein möchte«.

»Wir haben uns alle verwöhnt«, sagte Charlotte, »und du nicht zum Letzten.
Indessen ist es eine Epoche, die uns zur Besinnung auffordert, die uns ernstlich ermahnt, an das Beste
sämtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels zu denken und auch irgendeine Aufopferung nicht zu versagen.«

»Wenigstens finde ich es nicht billig«, versetzte Eduard, »dass Ottilie
aufgeopfert werde, und das geschähe doch, wenn man sie gegenwärtig unter fremde Menschen hinunterstieße.
Den Hauptmann hat sein gutes Geschick hier aufgesucht; wir dürfen ihn mit Ruhe, ja mit Behagen von uns wegscheiden lassen.
Wer weiß, was Ottilien bevorsteht; warum sollten wir uns übereilen?«

»Was uns bevorsteht, ist ziemlich klar«,
versetzte Charlotte mit einiger Bewegung, und da sie die Absicht hatte, ein für allemal sich auszusprechen,
fuhr sie fort: »Du liebst Ottilien, du gewöhnst dich an sie.
Neigung und Leidenschaft entspringt und nährt sich auch von ihrer Seite.
Warum sollen wir nicht mit Worten aussprechen, was uns jede Stunde gesteht und bekennt?
Sollen wir nicht so viel Vorsicht haben, uns zu fragen, was das werden wird?«

»Wenn man auch sogleich
nicht darauf antworten kann«, versetzte Eduard, der sich zusammennahm, »so lässt sich doch so viel sagen, dass man eben alsdann sich am Ersten entschließt abzuwarten, was uns die Zukunft lehren wird, wenn man gerade nicht sagen kann, was aus einer Sache werden soll.«

»Hier vorauszusehen«, versetzte Charlotte, »bedarf es wohl keiner großen Weisheit,
und so viel lässt sich auf alle Fälle gleich sagen, dass wir beide nicht mehr jung genug sind,
um blindlings dahin zu gehen, wohin man nicht möchte oder nicht sollte.
Niemand kann mehr für uns sorgen; wir müssen unsre eigenen Freunde sein, unsre eigenen Hofmeister.
Niemand erwartet von uns, dass wir uns in ein Äußerstes verlieren werden, niemand erwartet, uns tadelnswert oder gar lächerlich zu finden.«

»Kannst du mirs verdenken«, versetzte Eduard, der die offne, reine Sprache seiner Gattin nicht
zu erwidern vermochte, »kannst du mich schelten, wenn mir Ottiliens Glück am Herzen liegt?
Und nicht etwa ein künftiges, das immer nicht zu berechnen ist, sondern ein gegenwärtiges?
Denke dir aufrichtig und ohne Selbstbetrug Ottilien aus unserer Gesellschaft gerissen und fremden Menschen untergeben -
ich wenigstens fühle mich nicht grausam genug, ihr eine solche Veränderung zuzumuten.«

Charlotte ward gar wohl die Entschlossenheit ihres Gemahls hinter seiner Verstellung gewahr.
Erst jetzt fühlte sie, wie weit er sich von ihr entfernt hatte.
Mit einiger Bewegung rief sie aus: »Kann Ottilie glücklich sein, wenn sie uns entzweit,
wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen Vater entreißt?«

»Für unsere Kinder, dächte ich, wäre gesorgt«,
sagte Eduard lächelnd und kalt; etwas freundlicher aber fügte er hinzu: »Wer wird auch gleich
das Äußerste denken!«

»Das Äußerste liegt der Leidenschaft zu allernächst«, bemerkte Charlotte.
»Lehne, solange es noch Zeit ist, den guten Rat nicht ab, nicht die Hilfe, die ich uns biete.
In trüben Fällen muss derjenige wirken und helfen, der am Klarsten sieht.
Diesmal bin ich's. Lieber, liebster Eduard, lass mich gewähren!
Kannst du mir zumuten, dass ich auf mein wohlerworbenes Glück, auf die schönsten Rechte, auf dich so geradehin Verzicht leisten soll?«

»Wer sagt das?«, versetzte Eduard mit einiger Verlegenheit.

»Du selbst«, versetzte Charlotte; »indem du Ottilien in der Nähe behalten willst, gestehst du nicht alles zu, was daraus entspringen muss?
Ich will nicht in dich dringen; aber wenn du dich nicht überwinden kannst, so wirst du wenigstens dich nicht lange mehr betrügen können.«

Eduard fühlte, wie recht sie hatte. Ein ausgesprochenes Wort ist fürchterlich, wenn es das auf einmal
ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat; und um nur für den Augenblick auszuweichen, erwiderte Eduard:
»Es ist mir ja noch nicht einmal klar, was du vorhast.«

»Meine Absicht war«, versetzte Charlotte, »mit dir die beiden Vorschläge zu überlegen.
Beide haben viel Gutes. Die Pension würde Ottilien am gemäßesten sein, wenn ich betrachte, wie das Kind jetzt ist.
Jene größere und weitere Lage verspricht aber mehr, wenn ich bedenke, was sie werden soll.«
Sie legte darauf umständlich ihrem Gemahl die beiden Verhältnisse dar und schloss mit den Worten:
»Was meine Meinung betrifft, so würde ich das Haus jener Dame der Pension vorziehen aus mehreren Ursachen,
besonders aber auch, weil ich die Neigung, ja die Leidenschaft des jungen Mannes, den Ottilie dort für sich
gewonnen, nicht vermehren will.«

Eduard schien ihr Beifall zu geben, nur aber, um einigen Aufschub zu suchen.
Charlotte, die darauf ausging, etwas Entscheidendes zu tun, ergriff sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht
unmittelbar widersprach, die Abreise Ottiliens, zu der sie schon alles im Stillen vorbereitet hatte, auf die
nächsten Tage festzusetzen.

Eduard schauderte, er hielt sich für verraten und die liebevolle Sprache seiner Frau für ausgedacht, künstlich
und planmäßig, um ihn auf ewig von seinem Glücke zu trennen.
Er schien ihr die Sache ganz zu überlassen; allein schon war innerlich sein Entschluss gefasst.
Um nur zu Atem zu kommen, um das bevorstehende unabsehliche Unheil der Entfernung Ottiliens abzuwenden, entschied er sich,
sein Haus zu verlassen, und zwar nicht ganz ohne Vorbewusst Charlottens, die er jedoch durch die Einleitung zu
täuschen verstand, dass er bei Ottiliens Abreise nicht gegenwärtig sein, ja sie von diesem Augenblick
an nicht mehr sehen wolle. Charlotte, die gewonnen zu haben glaubte, tat ihm allen Vorschub.
Er befahl seine Pferde, gab dem Kammerdiener die nötige Anweisung, was er einpacken und wie er ihm folgen
solle, und so, wie schon im Stegreife, setzte er sich hin und schrieb.
Eduard an Charlotten
Das Übel, meine Liebe, das uns befallen hat, mag heilbar sein oder nicht, dies nur fühl ich:
wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln soll, so muss ich Aufschub finden für mich, für uns alle.
Indem ich mich aufopfre, kann ich fordern. Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter günstigern,
ruhigern Aussichten zurück. Du sollst es indessen besitzen, aber mit Ottilien.
Bei dir will ich sie wissen, nicht unter fremden Menschen. Sorge für sie, behandle sie wie sonst, wie bisher,
ja nur immer liebevoller, freundlicher und zarter. Ich verspreche, kein heimliches Verhältnis zu Ottilien zu suchen.
Lasst mich lieber eine Zeitlang ganz unwissend, wie ihr lebt; ich will mir das Beste denken.
Denkt auch so von mir. Nur, was ich dich bitte, auf das Innigste, auf das Lebhafteste: mache keinen Versuch,
Ottilien sonst irgendwo unterzugeben, in neue Verhältnisse zu bringen!
Außer dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehört sie mir,
und ich werde mich ihrer bemächtigen. Ehrst du aber meine Neigung, meine Wünsche, meine Schmerzen,
schmeichelst du meinem Wahn, meinen Hoffnungen, so will ich auch der Genesung nicht widerstreben, wenn sie
sich mir anbietet.

Diese letzte Wendung floss ihm aus der Feder, nicht aus dem Herzen.
Ja, wie er sie auf dem Papier sah, fing er bitterlich zu weinen an.
Er sollte auf irgendeine Weise dem Glück, ja dem Unglück, Ottilien zu lieben, entsagen!
Jetzt fühlte er, was er tat. Er entfernte sich, ohne zu wissen, was daraus entstehen konnte.
Er sollte sie wenigstens jetzt nicht wiedersehen; ob er sie je wiedersähe, welche Sicherheit konnte er
sich darüber versprechen? Aber der Brief war geschrieben; die Pferde standen vor der Tür; jeden
Augenblick musste er fürchten, Ottilien irgendwo zu erblicken und zugleich seinen Entschluss vereitelt zu sehen.
Er fasste sich; er dachte, dass es ihm doch möglich sei, jeden Augenblick zurückzukehren und durch
die Entfernung gerade seinen Wünschen näher zu kommen. Im Gegenteil stellte er sich Ottilien vor,
aus dem Hause gedrängt, wenn er bliebe. Er siegelte den Brief, eilte die Treppe hinab und schwang sich aufs Pferd.

Als er beim Wirtshause vorbeitritt, sah er den Bettler in der Laube sitzen, den er gestern Nacht so reichlich beschenkt hatte.
Dieser saß behaglich an seinem Mittagsmahle, stand auf und neigte sich ehrerbietig, ja anbetend vor Eduarden.
Eben diese Gestalt war ihm gestern erschienen, als er Ottilien am Arm führte; nun erinnerte sie ihn
schmerzlich an die glücklichste Stunde seines Lebens. Seine Leiden vermehrten sich; das Gefühl dessen, was
er zurückließ, war ihm unerträglich; nochmals blickte er nach dem Bettler: »Du Beneidenswerter!«,
rief er aus; »du kannst noch am gestrigen Almosen zehren und ich nicht mehr am gestrigen Glücke!«
Siebzehntes Kapitel

Ottilie trat ans Fenster, als sie jemanden wegreiten hörte, und sah Eduarden noch im Rücken.
Es kam ihr wunderbar vor, dass er das Haus verließ, ohne sie gesehen, ohne ihr einen Morgengruß geboten zu haben.
Sie ward unruhig und immer nachdenklicher, als Charlotte sie auf einen weiten Spaziergang mit sich zog und von mancherlei Gegenständen
sprach, aber des Gemahls, und wie es schien vorsätzlich, nicht erwähnte. Doppelt betroffen war sie daher, bei ihrer
Zurückkunft den Tisch nur mit zwei Gedecken besetzt zu finden.

Wir vermissen ungern gering scheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Fällen.
Eduard und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum ersten Mal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien
scheinen, als wenn sie abgesetzt wäre. Die beiden Frauen saßen gegeneinander über; Charlotte sprach ganz unbefangen
von der Anstellung des Hauptmanns und von der wenigen Hoffnung, ihn bald wiederzusehen. Das einzige tröstete Ottilien in ihrer Lage,
dass sie glauben konnte, Eduard sei, um den Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm nachgeritten.

Allein da sie von Tische aufstanden, sahen sie Eduards Reisewagen unter dem Fenster, und als Charlotte einigermaßen
unwillig fragte, wer ihn hieher bestellt habe, so antwortete man ihr, es sei der Kammerdiener, der hier noch einiges aufpacken
wolle. Ottilie brauchte ihre ganze Fassung, um ihre Verwunderung und ihren Schmerz zu verbergen.

Der Kammerdiener trat herein und verlangte noch einiges. Es war eine Mundtasse des Herrn, ein paar silberne Löffel und mancherlei,
was Ottilien auf eine weitere Reise, auf ein längeres Außenbleiben zu deuten schien. Charlotte verwies ihm sein Begehren
ganz trocken: sie verstehe nicht, was er damit sagen wolle; denn er habe ja alles, was sich auf den Herrn beziehe, selbst im Beschluss.
Der gewandte Mann, dem es freilich nur darum zu tun war, Ottilien zu sprechen und sie deswegen unter irgendeinem Vorwande aus dem
Zimmer zu locken, wusste sich zu entschuldigen und auf seinem Verlangen zu beharren, das ihm Ottilie auch zu gewähren
wünschte; allein Charlotte lehnte es ab, der Kammerdiener musste sich entfernen, und der Wagen rollte fort.

Es war für Ottilien ein schrecklicher Augenblick. Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht; aber dass ihr Eduard auf geraume
Zeit entrissen war, konnte sie fühlen. Charlotte fühlte den Zustand mit und ließ sie allein.
Wir wagen nicht, ihren Schmerz, ihre Tränen zu schildern. Sie litt unendlich. Sie bat nur Gott, dass er ihr nur über
diesen Tag weghelfen möchte; sie überstand den Tag und die Nacht, und als sie sich wiedergefunden, glaubte sie, ein
anderes Wesen anzutreffen.

Sie hatte sich nicht gefasst, sich nicht ergeben, aber sie war nach so großem Verluste noch da und hatte noch mehr zu befürchten.
Ihre nächste Sorge, nachdem das Bewusstsein wiedergekehrt, war sogleich, sie möchte nun, nach Entfernung der Männer,
gleichfalls entfernt werden. Sie ahnte nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Aufenthalt neben Charlotten gesichert war; doch
diente ihr das Betragen Charlottens zu einiger Beruhigung. Diese suchte das gute Kind zu beschäftigen und ließ sie nur selten,
nur ungern von sich; und ob sie gleich wohl wusste, dass man mit Worten nicht viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu wirken vermag,
so kannte sie doch die Macht der Besonnenheit, des Bewusstseins, und brachte daher manches zwischen sich und Ottilien zur Sprache.

So war es für diese ein großer Trost, als jene gelegentlich mit Bedacht und Vorsatz die weise Betrachtung anstellte: »Wie
lebhaft ist«, sagte sie, »die Dankbarkeit derjenigen, denen wir mit Ruhe über leidenschaftliche Verlegenheiten
hinaushelfen! Lass uns freudig und munter in das eingreifen, was die Männer unvollendet zurückgelassen haben; so bereiten
wir uns die schönste Aussicht auf ihre Rückkehr, indem wir das, was ihr stürmendes, ungeduldiges Wesen zerstören
möchte, durch unsre Mäßigung erhalten und fördern«.

»Da Sie von Mäßigung sprechen, liebe Tante«, versetzte Ottilie, »so kann ich nicht bergen, dass mir
dabei die Unmäßigkeit der Männer, besonders was den Wein betrifft, einfällt. Wie oft hat es mich betrübt und
geängstigt, wenn ich bemerken musste, dass reiner Verstand, Klugheit, Schonung anderer, Anmut und Liebenswürdigkeit selbst
für mehrere Stunden verloren gingen und oft statt alles des Guten, was ein trefflicher Mann hervorzubringen und zu gewähren
vermag, Unheil und Verwirrung hereinzubrechen drohte! Wie oft mögen dadurch gewaltsame Entschließungen veranlasst werden!«

Charlotte gab ihr Recht, doch setzte sie das Gespräch nicht fort; denn sie fühlte nur zu wohl, dass auch hier Ottilie bloß
Eduarden wieder im Sinne hatte, der zwar nicht gewöhnlich, aber doch öfter, als es wünschenswert war, sein Vergnügen,
seine Gesprächigkeit, seine Tätigkeit durch einen gelegentlichen Weingenuss zu steigern pflegte.

Hatte bei jener Äußerung Charlottens sich Ottilie die Männer, besonders Eduarden, wieder herandenken können, so war
es ihr um desto auffallender, als Charlotte von einer bevorstehenden Heirat des Hauptmanns wie von einer ganz bekannten und gewissen
Sache sprach, wodurch denn alles ein andres Ansehn gewann, als sie nach Eduards frühern Versicherungen sich vorstellen mochte.
Durch alles dies vermehrte sich die Aufmerksamkeit Ottiliens auf jede Äußerung, jeden Wink, jede Handlung, jeden Schritt
Charlottens. Ottilie war klug, scharfsinnig, argwöhnisch geworden, ohne es zu wissen.

Charlotte durchdrang indessen das Einzelne ihrer ganzen Umgebung mit scharfem Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Gewandtheit,
wobei sie Ottilien beständig teilzunehmen nötigte. Sie zog ihren Haushalt ohne Bänglichkeit ins Enge; ja, wenn sie alles
genau betrachtete, so hielt sie den leidenschaftlichen Vorfall für eine Art von glücklicher Schickung. Denn auf dem bisherigen
Wege wäre man leicht ins Grenzenlose geraten und hätte den schönen Zustand reichlicher Glücksgüter, ohne sich zeitig
genug zu besinnen, durch ein vordringliches Leben und Treiben, wo nicht zerstört, doch erschüttert.

Was von Parkanlagen im Gange war, störte sie nicht. Sie ließ vielmehr dasjenige fortsetzen, was zum Grunde künftiger
Ausbildung liegen musste; aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Ihr zurückkehrender Gemahl sollte noch genug erfreuliche
Beschäftigung finden.

Bei diesen Arbeiten und Vorsätzen konnte sie nicht genug das Verfahren des Architekten loben.
Der See lag in kurzer Zeit ausgebreitet vor ihren Augen und die neu entstandenen Ufer zierlich und mannigfaltig bepflanzt und beraset.
An dem neuen Hause ward alle rauhe Arbeit vollbracht, was zur Erhaltung nötig war, besorgt, und dann machte sie einen Abschluss
da, wo man mit Vergnügen wieder von vorn anfangen konnte. Dabei war sie ruhig und heiter; Ottilie schien es nur; denn in allem
beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet werde oder nicht. Nichts interessierte sie an allem als diese Betrachtung.

Willkommen war ihr daher eine Anstalt, zu der man die Bauerknaben versammelte und die darauf abzielte, den weitläufig
gewordenen Park immer rein zu erhalten. Eduard hatte schon den Gedanken gehegt. Man ließ den Knaben eine Art von heiterer
Montierung machen, die sie in den Abendstunden anzogen, nachdem sie sich durchaus gereinigt und gesäubert hatten. Die Garderobe war
im Schloss; dem verständigsten, genausten Knaben vertraute man die Aufsicht an; der Architekt leitete das Ganze, und ehe man sich's
versah, so hatten die Knaben alle ein gewisses Geschick. Man fand an ihnen eine bequeme Dressur, und sie verrichteten ihr Geschäft
nicht ohne eine Art von Manöver. Gewiss, wenn sie mit ihren Scharreisen, gestielten Messerklingen, Rechen, kleinen Spaten und Hacken
und wedelartigen Besen einherzogen, wenn andre mit Körben hinterdrein kamen, um Unkraut und Steine beiseite zu
schaffen, andre das hohe, große, eiserne Walzenrad hinter sich herzogen, so gab es einen hübschen, erfreulichen Aufzug,
in welchem der Architekt eine artige Folge von Stellungen und Tätigkeiten für den Fries eines Gartenhauses sich anmerkte;
Ottilie hingegen sah darin nur eine Art von Parade, welche den rückkehrenden Hausherrn bald begrüßen sollte.

Dies gab ihr Mut und Lust, ihn mit etwas Ähnlichem zu empfangen. Man hatte zeither die Mädchen des Dorfes im Nähen,
Stricken, Spinnen und andern weiblichen Arbeiten zu ermuntern gesucht. Auch diese Tugenden hatten zugenommen seit jenen Anstalten
zu Reinlichkeit und Schönheit des Dorfes. Ottilie wirkte stets mit ein, aber mehr zufällig, nach Gelegenheit und Neigung.
Nun gedachte sie es vollständiger und folgerechter zu machen. Aber aus einer Anzahl Mädchen lässt sich kein Chor bilden
wie aus einer Anzahl Knaben. Sie folgte ihrem guten Sinne, und ohne sich's ganz deutlich zu machen, suchte sie nichts, als einem
jeden Mädchen Anhänglichkeit an sein Haus, seine Eltern und seine Geschwister einzuflößen.

Das gelang ihr mit vielen. Nur über ein kleines, lebhaftes Mädchen wurde immer geklagt, dass sie ohne Geschick sei und im
Hause nun ein für allemal nichts tun wolle. Ottilie konnte dem Mädchen nicht Feind sein, denn ihr war es besonders freundlich.
Zu ihr zog es sich, mit ihr ging und lief es, wenn sie es erlaubte. Da war es tätig, munter und unermüdet. Die Anhänglichkeit
an eine schöne Herrin schien dem Kinde Bedürfnis zu sein. Anfänglich duldete Ottilie die Begleitung des Kindes; dann
fasste sie selbst Neigung zu ihm; endlich trennten sie sich nicht mehr, und Nanny begleitete ihre Herrin überall hin.

Diese nahm öfters den Weg nach dem Garten und freute sich über das schöne Gedeihen.
Die Beeren- und Kirschenzeit ging zu Ende, deren Spätlinge jedoch Nanny sich besonders schmecken ließ.
Bei dem übrigen Obste, das für den Herbst eine so reichliche Ernte versprach, gedachte der Gärtner beständig
des Herrn und niemals, ohne ihn herbeizuwünschen. Ottilie hörte dem guten alten Manne so gern zu. Er verstand sein Handwerk
vollkommen und hörte nicht auf, ihr von Eduard vorzusprechen. Als Ottilie sich freute, dass die Pfropfreiser dieses Frühjahrs
alle so gar schön gekommen, erwiderte der Gärtner bedenklich: »Ich wünsche nur, dass der gute Herr viel
Freude daran erleben möge. Wäre er diesen Herbst hier, so würde er sehen, was für köstliche Sorten noch
von seinem Herrn Vater her im alten Schlossgarten stehen. Die jetzigen Herren Obstgärtner sind nicht so zuverlässig,
als sonst die Kartäuser waren. In den Katalogen findet man wohl lauter honette Namen. Man pfropft und erzieht und endlich, wenn
sie Fürchte tragen, so ist es nicht der Mühe wert, dass solche Bäume im Garten stehen«.

Am wiederholtesten aber fragte der treue Diener, fast so oft er Ottilien sah, nach der Rückkunft des Herrn und nach dem Termin
derselben. Und wenn Ottilie ihn nicht angeben konnte, so ließ ihr der gute Mann nicht ohne stille Betrübnis merken, dass
er glaube, sie vertraue ihm nicht, und peinlich war ihr das Gefühl der Unwissenheit, das ihr auf diese Weise recht aufgedrungen ward.
Doch konnte sie sich von diesen Rabatten und Beeten nicht trennen. Was sie zusammen zum Teil gesäet, alles gepflanzt hatten, stand
nun im völligen Flor; kaum bedurfte es noch einer Pflege, außer dass Nanny immer zum Gießen bereit war.
Mit welchen Empfindungen betrachtete Ottilie die späteren Blumen, die sich erst anzeigten, deren Glanz und Fülle dereinst
an Eduards Geburtstag, dessen Feier sie sich manchmal versprach, prangen, ihre Neigung und Dankbarkeit ausdrücken sollten!
Doch war die Hoffnung, dieses Fest zu sehen, nicht immer gleich lebendig. Zweifel und Sorgen umflüsterten stets die Seele
des guten Mädchens.

Zu einer eigentlichen, offnen Übereinstimmung mit Charlotten konnte es auch wohl nicht wieder gebracht werden. Denn freilich war
der Zustand beider Frauen sehr verschieden. Wenn alles beim Alten blieb, wenn man in das Gleis des gesetzmäßigen Lebens
zurückkehrte, gewann Charlotte an gegenwärtigem Glück, und eine frohe Aussicht in die Zukunft öffnete sich ihr;
Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl sagen alles; denn sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard gefunden, und in dem
gegenwärtigen Zustande fühlte sie eine unendliche Leere, wovon sie früher kaum etwas geahnet hatte. Denn ein Herz, das sucht,
fühlt wohl, dass ihm etwas mangle; ein Herz, das verloren hat, fühlt, dass es entbehre. Sehnsucht verwandelt sich in Unmut
und Ungeduld, und ein weibliches Gemüt, zum Erwarten und Abwarten gewöhnt, möchte nun aus seinem Kreise herausschreiten,
tätig werden, unternehmen und auch etwas für sein Glück tun.

Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt. Wie konnte sie es auch, obgleich Charlotte klug genug, gegen ihre eigne Überzeugung, die Sache
für bekannt annahm und als entschieden voraussetzte, dass ein freundschaftliches, ruhiges Verhältnis zwischen ihrem Gatten
und Ottilien möglich sei. Wie oft aber lag diese nachts, wenn sie sich eingeschlossen, auf den Knieen vor dem eröffneten
Koffer und betrachtete die Geburtstagsgeschenke, von denen sie noch nichts gebraucht, nichts zerschnitten, nichts gefertigt.
Wie oft eilte das gute Mädchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem sie sonst alle ihre Glückseligkeit gefunden hatte,
ins Freie hinaus, in die Gegend, die sie sonst nicht ansprach. Auch auf dem Boden mochte sie nicht verweilen. Sie sprang in den Kahn
und ruderte sich bis mitten in den See; dann zog sie eine Reisebeschreibung hervor, ließ sich von den bewegten Wellen schaukeln,
las, träumte sich in die Fremde, und immer fand sie dort ihren Freund; seinem Herzen war sie noch immer nahe geblieben, er dem ihrigen.
Achtzehntes Kapitel

Dass jener wunderlich tätige Mann, den wir bereits kennen gelernt, dass Mittler, nachdem er von dem Unheil, das unter diesen Freunden
ausgebrochen, Nachricht erhalten, obgleich kein Teil noch seine Hilfe angerufen, in diesem Falle seine Freundschaft, seine Geschicklichkeit
zu beweisen, zu üben geneigt war, lässt sich denken.
Doch schien es ihm rätlich, erst eine Weile zu zaudern; denn er wusste nur zu wohl, dass es schwerer sei, gebildeten Menschen bei sittlichen
Verworrenheiten zu Hilfe zu kommen als ungebildeten.
Er überließ sie deshalb eine Zeitlang sich selbst; allein zuletzt konnte er es nicht mehr aushalten und eilte, Eduarden aufzusuchen,
dem er schon auf die Spur gekommen war.

Sein Weg führte ihn zu einem angenehmen Tal, dessen anmutig grünen, baumreichen Wiesengrund die Wasserfülle eines immer lebendigen
Baches bald durchschlängelte, bald durchrauschte.
Auf den sanften Anhöhen zogen sich fruchtbare Felder und wohlbestandene Obstpflanzungen hin.
Die Dörfer lagen nicht zu nah aneinander, das Ganze hatte einen friedlichen Charakter, und die einzelnen Partien,
wenn auch nicht zum Malen, schienen doch zum Leben vorzüglich geeignet zu sein.

Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem reinlichen, bescheidenen Wohnhause, von Gärten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen.
Er vermutete, hier sei Eduards gegenwärtiger Aufenthalt, und er irrte nicht.

Von diesem einsamen Freunde können wir so viel sagen, dass er sich im Stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ
und dabei mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen nährte.
Er konnte sich nicht leugnen, dass er Ottilien hier zu sehen wünsche, dass er wünsche, sie hieher zu führen, zu locken,
und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.
Dann schwankte seine Einbildungskraft in allen Möglichkeiten herum.
Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmäßig besitzen können, so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen.
Hier sollte sie still für sich, unabhängig leben; sie sollte glücklich sein und, wenn ihn eine selbstquälerische
Einbildungskraft noch weiter führte, vielleicht mit einem andern glücklich sein.

So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Schmerz, zwischen Tränen und Heiterkeit, zwischen Vorsätzen,
Vorbereitungen und Verzweiflung. Der Anblick Mittlers überraschte ihn nicht.
Er hatte dessen Ankunft längst erwartet, und so war er ihm auch halb willkommen.
Glaubte er ihn von Charlotten gesendet, so hatte er sich schon auf allerlei Entschuldigungen und Verzögerungen
und sodann auf entscheidendere Vorschläge bereitet; hoffte er nun aber von Ottilien wieder etwas zu vernehmen,
so war ihm Mittler so lieb als ein himmlischer Bote.

Verdrießlich daher und verstimmt war Eduard, als er vernahm, Mittler komme nicht von dort her, sondern aus eignem Antriebe.
Sein Herz verschloss sich, und das Gespräch wollte sich anfangs nicht einleiten.
Doch wusste Mittler nur zu gut, dass ein liebevoll beschäftigtes Gemüt das dringende Bedürfnis hat, sich zu
äußern, das, was in ihm vorgeht, vor einem Freunde auszuschütten, und ließ sich daher gefallen, nach
einigem Hin- und Widerreden diesmal aus seiner Rolle herauszugehen und statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen.

Als er hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser: »O, ich wüsste nicht,
wie ich meine Zeit angenehmer zubringen sollte! Immer bin ich mit ihr beschäftigt, immer in ihrer Nähe.
Ich habe den unschätzbaren Vorteil, mir denken zu können, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht.
Ich sehe sie vor mir tun und handeln wie gewöhnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, was mir am meisten schmeichelt.
Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr glücklich sein!
Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie tun sollte, sich mir zu nähern.
Ich schreibe süße, zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blätter zusammen.
Ich habe versprochen, keinen Schritt gegen sie zu tun, und das will ich halten.
Aber was bindet sie, dass sie sich nicht zu mir wendet?
Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und Schwur von ihr zu fordern, dass sie mir nicht schreiben, keine Nachricht
von sich geben wolle?
Es ist natürlich, es ist wahrscheinlich, und doch finde ich es unerhört, unerträglich.
Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiß, warum entschließt sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen
und sich in meine Arme zu werfen? Sie sollte das, denke ich manchmal, sie könnte das.
Wenn sich etwas auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Türe. Sie soll hereintreten!, denk ich, hoff ich.
Ach! Und da das Mögliche unmöglich ist, bilde ich mir ein, das Unmögliche müsse möglich werden.
Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von
ihr vorüberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick, dass ich eine Art von Versicherung hätte, sie
denke mein, sie sei mein.

Eine einzige Freude bleibt mir noch.
Da ich ihr nahe war, träumte ich nie von ihr; jetzt aber, in der Ferne, sind wir im Traume zusammen, und sonderbar genug: seit ich
andre liebenswürdige Personen hier in der Nachbarschaft kennen gelernt, jetzt erst erscheint mir ihr Bild im Traum, als wenn sie mir
sagen wollte: siehe nur hin und her! Du findest doch nichts Schöneres und Lieberes als mich. Und so mischt sich ihr Bild in jeden
meiner Träume. Alles, was mir mit ihr begegnet, schiebt sich durch- und übereinander.
Bald unterschreiben wir einen Kontrakt; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige; beide löschen einander
aus, beide verschlingen sich.
Auch nicht ohne Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleien der Phantasie.
Manchmal tut sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe, dann fühl ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich
über alle Beschreibung geängstet bin. Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quält mich; aber sogleich
verändert sich ihr Bild, ihr schönes, rundes, himmlisches Gesichtchen verlängert sich: es ist eine andre.
Aber ich bin doch gequält, unbefriedigt und zerrüttet.

Lächeln Sie nicht, lieber Mittler, oder lächeln Sie auch! O ich schäme mich nicht dieser Anhänglichkeit,
dieser, wenn Sie wollen, törigen, rasenden Neigung. Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erst, was das heißt.
Bisher war alles in meinem Leben nur ein Vorspiel, nur Hinhalten, nur Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennen lernte, bis ich
sie liebte und ganz und eigentlich liebte.
Man hat mir nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Rücken den Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stümpere nur in den
meisten Dingen. Es mag sein; aber ich hatte das noch nicht gefunden, worin ich mich als Meister zeigen kann.
Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens übertrifft.

Zwar ist es ein jammervolles, ein schmerzen-, ein tränenreiches; aber ich finde es mir so natürlich, so eigen, dass
ich es wohl schwerlich je wieder aufgebe.«

Durch diese lebhaften, herzlichen Äußerungen hatte sich Eduard wohl erleichtert; aber es war ihm auch auf einmal jeder
einzelne Zug seines wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, dass er, vom schmerzlichen Widerstreit überwältigt,
in Tränen ausbrach, die um so reichlicher flossen, als sein Herz durch Mitteilung weich geworden war.

Mittler, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand um so weniger verleugnen konnte, als er sich durch diesen schmerzlichen
Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel seiner Reise verschlagen sah, äußerte aufrichtig und derb seine Missbilligung.
Eduard - hieß es - solle sich ermannen, solle bedenken, was er seiner Manneswürde schuldig sei, solle nicht vergessen, dass dem Menschen
zur höchsten Ehre gereiche, im Unglück sich zu fassen, den Schmerz mit Gleichmut und Anstand zu ertragen, um höchlich geschätzt,
verehrt und als Muster aufgestellt zu werden.

Aufgeregt, durchdrungen von den peinlichsten Gefühlen, wie Eduard war, mussten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen.
»Der Glückliche, der Behagliche hat gut reden«, fuhr Eduard auf; »aber schämen würde er sich, wenn er
einsähe, wie unerträglich er dem Leidenden wird. Eine unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will der starre
Behagliche nicht anerkennen. Es gibt Fälle, ja, es gibt deren!, wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist.
Verschmäht doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiß, keineswegs, die seinigen bei schmerzlichem Drange weinen zu lassen.
Selbst im Sprichwort sagt er: Tränenreiche Männer sind gut. Verlasse mich jeder, der trocknen Herzens, trockner Augen ist!
Ich verwünsche die Glücklichen, denen der Unglückliche nur zum Spektakel dienen soll.
Er soll sich in der grausamsten Lage körperlicher und geistiger Bedrängnis noch edel gebärden, um ihren Beifall zu erhalten,
und, damit sie ihm beim Verscheiden noch applaudieren, wie ein Gladiator mit Anstand vor ihren Augen umkommen.
Lieber Mittler, ich danke Ihnen für Ihren Besuch; aber Sie erzeigten mir eine große Liebe, wenn Sie sich im Garten,
in der Gegend umsähen. Wir kommen wieder zusammen. Ich suche gefasster und Ihnen ähnlicher zu werden.«

Mittler mochte lieber einlenken als die Unterhaltung abbrechen, die er so leicht nicht wieder anknüpfen konnte.
Auch Eduarden war es ganz gemäß, das Gespräch weiter fortzusetzen, das ohnehin zu seinem Ziele abzulaufen strebte.

»Freilich«, sagte Eduard, »hilft das Hin- und Widerdenken, das Hin- und Widerreden zu nichts; doch unter diesem
Reden bin ich mich selbst erst gewahr worden, habe ich erst entschieden gefühlt, wozu ich mich entschließen sollte, wozu ich
entschlossen bin. Ich sehe mein gegenwärtiges, mein zukünftiges Leben vor mir; nur zwischen Elend und Genuss habe ich zu wählen.
Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung, die so notwendig, die schon geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens Einwilligung!
Ich will nicht weiter ausführen, warum ich glaube, dass sie zu erlangen sein wird.
Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle, machen Sie uns glücklich!«

Mittler stockte.
Eduard fuhr fort: »Mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen.
Sehen Sie dieses Glas! Unsere Namenszüge sind dareingeschnitten.
Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber
es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu
überzeugen, dass alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat.«

»O wehe mir«, rief Mittler, »was muss ich nicht mit meinen Freunden für Geduld haben!
Nun begegnet mir noch gar der Aberglaube, der mir als das Schädlichste, was bei den Menschen einkehren kann, verhasst bleibt.
Wir spielen mit Voraussagungen und Träumen und machen dadurch das alltägliche Leben bedeutend.
Aber wenn das Leben nun selbst bedeutend wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dann wird das Gewitter durch jene Gespenster
nur noch fürchterlicher.«

»Lassen Sie in dieser Ungewissheit des Lebens«, rief Eduard, »zwischen diesem Hoffen und Bangen
dem bedürftigen Herzen doch nur eine Art von Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach steuern kann«.

»Ich ließe mirs wohl gefallen«, versetzte Mittler, »wenn dabei nur einige Konsequenz zu hoffen wäre,
aber ich habe immer gefunden: auf die warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und versprechenden allein
ist die Aufmerksamkeit gerichtet und der Glaube für sie ganz allein lebendig«.

Da sich nun Mittler sogar in die dunklen Regionen geführt sah, in denen er sich immer unbehaglicher fühlte,
je länger er darin verweilte, so nahm er den dringenden Wunsch Eduards, der ihn zu Charlotten gehen hieß, etwas williger auf.
Denn was wollte er überhaupt Eduarden in diesem Augenblicke noch entgegensetzen?
Zeit zu gewinnen, zu erforschen, wie es um die Frauen stehe, das war es, was ihm selbst nach seinen eignen Gesinnungen zu tun
übrig blieb.

Er eilte zu Charlotten, die er wie sonst gefasst und heiter fand.
Sie unterrichtete ihn gern von allem, was vorgefallen war; denn aus Eduards Reden konnte er nur die Wirkung abnehmen.
Er trat von seiner Seite behutsam heran, konnte es aber nicht über sich gewinnen, das Wort Scheidung auch nur im Vorbeigehn auszusprechen.
Wie verwundert, erstaunt und, nach seiner Gesinnung, erheitert war er daher, als Charlotte ihm in Gefolg so manches Unerfreulichen
endlich sagte: »Ich muss glauben, ich muss hoffen, dass alles sich wieder geben, dass Eduard sich wieder nähern werde.
Wie kann es auch wohl anders sein, da Sie mich guter Hoffnung finden.«

»Versteh ich Sie recht?«, fiel Mittler ein.
»Vollkommen«, versetzte Charlotte.
»Tausendmal gesegnet sei mir diese Nachricht!«, rief er, die Hände zusammenschlagend.
»Ich kenne die Stärke dieses Arguments auf ein männliches Gemüt.
Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt, befestigt, wieder hergestellt!
Mehr als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fürwahr die beste Hoffnung ist, die wir haben können.
Doch«, fuhr er fort, »was mich betrifft, so hätte ich alle Ursache, verdrießlich zu sein.
In diesem Falle, sehe ich wohl, wird meiner Eigenliebe nicht geschmeichelt.
Bei euch kann meine Tätigkeit keinen Dank verdienen.
Ich komme mir vor wie jener Arzt, mein Freund, dem alle Kuren gelangen, die er um Gottes willen an Armen tat, der aber
selten einen Reichen heilen konnte, der es gut bezahlen wollte.
Glücklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine Bemühungen, mein Zureden fruchtlos geblieben wären.«

Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu
tun, was herzustellen sei.
Er wollte das nicht eingehen.
»Alles ist schon getan«, rief er aus.
»Schreiben Sie!
Ein jeder Bote ist so gut als ich.
Muss ich doch meine Schritte hinwenden, wo ich nötiger bin.
Ich komme nur wieder, um Glück zu wünschen; ich komme zur Taufe.«

Charlotte war diesmal, wie schon öfters, über Mittlern unzufrieden.
Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine Übereilung war schuld an manchem Misslingen.
Niemand war abhängiger von augenblicklich vorgefassten Meinungen als er.

Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing.
Der Brief konnte ebenso gut für Nein als für Ja entscheiden.
Er wagte lange nicht, ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen, als er das Blatt gelesen, versteinert bei folgender
Stelle, womit es sich endigte.

»Gedenke jener nächtlichen Stunden, in denen du deine Gattin abenteuerlich als Liebender besuchtest,
sie unwiderstehlich an dich zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme schlossest.
Lass uns in dieser seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels verehren, die für ein neues
Band unserer Verhältnisse gesorgt hat in dem Augenblick, da das Glück unseres Lebens auseinander zu fallen
und zu verschwinden droht.«

Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging, würde schwer zu schildern sein.
In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu
töten und den Lebensraum auszufüllen.
Jagd und Krieg sind eine solche für den Edelmann immer bereite Aushilfe.
Eduard sehnte sich nach äußerer Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten.
Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost
zu denken, dass er nicht mehr sein werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde glücklich machen könne.
Niemand stellte seinem Willen ein Hindernis entgegen, da er seinen Entschluss verheimlichte.
Mit allen Förmlichkeiten setzte er sein Testament auf; es war ihm eine süße Empfindung, Ottilien das
Gut vermachen zu können.
Für Charlotten, für das Ungeborne, für den Hauptmann, für seine Dienerschaft war gesorgt.
Der wieder ausgebrochene Krieg begünstigte sein Vorhaben.
Militärische Halbheiten hatten ihm in seiner Jugend viel zu schaffen gemacht; er hatte deswegen den Dienst verlassen.
Nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem Feldherrn zu ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner
Anführung ist der Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiss.

Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Geheimnis bekannt geworden, betroffen wie Eduard, und mehr, ging in sich zurück.
Sie hatte nichts weiter zu sagen. Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie nicht.
Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzuteilen gedenken.
Die Wahlverwandtschaften /Zweiter Teil |
Erstes Kapitel

Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopöe als Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, dass nämlich, wenn die
Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untätigkeit hingeben, gleich sodann schon ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den
Platz füllt und, indem er seine ganze Tätigkeit äußert, uns gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und
Preises würdig erscheint.

So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Architekt täglich bedeutender, von welchem die Anordnung und
Ausführung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau, verständig und tätig erwies und zugleich den Damen auf
mancherlei Art beistand und in stillen, langwierigen Stunden sie zu unterhalten wusste.
Schon sein Äußeres war von der Art, dass es Zutrauen einflößte und Neigung erweckte.
Ein Jüngling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut, schlank, eher ein wenig zu groß, bescheiden ohne ängstlich, zutraulich
ohne zudringend zu sein. Freudig übernahm er jede Sorge und Bemühung, und weil er mit großer Leichtigkeit rechnete, so war
ihm bald das ganze Hauswesen kein Geheimnis, und überallhin verbreitete sich sein günstiger Einfluss.
Die Fremden ließ man ihn gewöhnlich empfangen, und er wusste einen unerwarteten Besuch entweder abzulehnen oder die Frauen
wenigstens dergestalt darauf vorzubereiten, dass ihnen keine Unbequemlichkeit daraus entsprang.

Unter andern gab ihm eines Tages ein junger Rechtsgelehrter viel zu schaffen, der, von einem benachbarten Edelmann gesendet, eine Sache
zur Sprache brachte, die, zwar von keiner sonderlichen Bedeutung, Charlotten dennoch innig berührte.
Wir müssen dieses Vorfalls gedenken, weil er verschiedenen Dingen einen Anstoß gab, die sonst vielleicht lange geruht hätten.

Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorgenommen hatte.
Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerückt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden.
Der übrige Raum war geebnet. Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbei zu dem jenseitigen Pförtchen
führte, war das übrige alles mit verschiedenen Arten Klee besäet, der auf das schönste grünte und blühte.
Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls
besäet werden. Niemand konnte leugnen, dass diese Anstalt beim sonn- und festtätigen Kirchgang eine heitere und würdige
Ansicht gewährte. Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der anfänglich mit der Einrichtung nicht
sonderlich zufrieden gewesen, hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philemon, mit seiner Baucis
vor der Hintertüre ruhend, statt der holprigen Grabstätten einen schönen, bunten Teppich vor sich sah, der noch
überdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen.

Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher gemissbilligt, dass man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre
Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht; denn die wohlerhaltenden Monumente zeigen zwar an,
wer begraben sei, aber nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie viele behaupteten.

Von ebensolcher Gesinnung war eine benachbarte Familie, die sich und den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestätte vor
mehreren Jahren ausbedungen und dafür der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet hatte.
Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu widerrufen und anzuzeigen, dass man nicht weiter zahlen werde,
weil die Bedingung, unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht
geachtet worden. Charlotte, die Urheberin dieser Veränderung, wollte den jungen Mann selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber
nicht allzu vorlaut seine und seines Prinzipals Gründe darlegte und der Gesellschaft manches zu denken gab.

»Sie sehen«, sprach er nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine Zudringlichkeit zu rechtfertigen wusste,
»Sie sehen, dass dem Geringsten wie dem Höchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die Seinigen aufbewahrt.
Dem ärmsten Landmann, der ein Kind begräbt, ist es eine Art von Trost, ein schwaches hölzernes Kreuz auf das Grab zu
stellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten, als der Schmerz währt, wenn auch ein
solches Merkzeichen, wie die Trauer selbst, durch die Zeit aufgehoben wird.
Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und schützen sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer
für mehrere Jahre. Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben Begüterte nichts Angelegeneres,
als einen Stein aufzurichten, der für mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen erneut und aufgefrischt
werden kann. Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute.
Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart.
Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grabhügel als im Denkmal, denn dieses ist für
sich eigentlich nur wenig; aber um dasselbe her sollen sich wie um einen Markstein Gatten, Verwandte, Freunde selbst nach
ihrem Hinscheiden noch versammeln, und der Lebende soll das Recht behalten, Fremde und Misswollende auch von der Seite
seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.

Ich halte deswegen dafür, dass mein Prinzipal völlig recht habe, die Stiftung zurückzunehmen; und dies ist
noch billig genug, denn die Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofür gar kein Ersatz zu denken ist.
Sie sollen das schmerzlich süße Gefühl entbehren, ihren Geliebten ein Totenopfer zu bringen, die tröstliche
Hoffnung, dereinst unmittelbar neben ihnen zu ruhen.«

»Die Sache ist nicht von der Bedeutung«, versetzte Charlotte, »dass man sich deshalb durch einen Rechtshandel
beunruhigen sollte. Meine Anstalt reut mich so wenig, dass ich die Kirche gern wegen dessen, was ihr entgeht, entschädigen will.
Nur muss ich Ihnen aufrichtig gestehen: Ihre Argumente haben mich nicht überzeugt. Das reine Gefühl einer endlichen allgemeinen
Gleichheit, wenigstens nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige, starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten,
Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse. - Und was sagen Sie hierzu?«, richtete sie ihre Frage an den Architekten.

»Ich möchte«, versetzte dieser, »in einer solchen Sache weder streiten noch den Ausschlag geben.
Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner Denkweise am nächsten liegt, bescheidentlich äußern.
Seitdem wir nicht mehr so glücklich sind, die Reste eines geliebten Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu drücken,
da wir weder reich noch heiter genug sind, sie unversehrt in großen, wohlausgezierten Sarkophagen zu verwahren, ja da wir
nicht einmal in den Kirchen mehr Platz für uns und für die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie gewiesen sind,
so haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie, meine gnädige Frau, eingeleitet haben, zu billigen.
Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, so ruhen sie bei und unter den Ihrigen; und wenn die
Erde uns einmal aufnehmen soll, so finde ich nichts natürlicher und reinlicher, als dass man die zufällig
entstandenen, nach und nach zusammensinkenden Hügel ungesäumt vergleiche und so die Decke, indem alle sie
tragen, einem jeden leichter gemacht werde.«

»Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der Erinnerung entgegenkäme, sollte das alles
so vorübergehen?«, versetzte Ottilie.

»Keineswegs!«, fuhr der Architekt fort; »nicht vom Andenken, nur vom Platze soll man sich lossagen.
Der Baukünstler, der Bildhauer sind höchlich interessiert, dass der Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von
ihrer Hand eine Dauer seines Daseins erwarte; und deswegen wünschte ich gut gedachte, gut ausgeführte Monumente,
nicht einzeln und zufällig ausgesäet, sondern an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer versprechen können.
Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht Verzicht tun, in den Kirchen persönlich zu ruhen, so stelle man
wenigstens dort oder in schönen Hallen um die Begräbnisplätze Denkzeichen, Denkschriften auf.
Es gibt tausenderlei Formen, die man ihnen vorschreiben, tausenderlei Zieraten, womit man sie ausschmücken
kann.«

»Wenn die Künstler so reich sind«, versetzte Charlotte, »so sagen Sie mir doch: wie kann man sich niemals
aus der Form eines kleinlichen Obelisken, einer abgestutzten Säule und eines Aschenkrugs herausfinden?
Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich rühmen, habe ich immer nur tausend Wiederholungen gesehen.«

»Das ist wohl bei uns so«, entgegnete ihr der Architekt, »aber nicht überall.
Und überhaupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen Anwendung eine eigne Sache sein.
Besonders hat es in diesem Falle manche Schwierigkeit, einen ernsten Gegenstand zu erheitern und bei einem unerfreulichen nicht ins
Unerfreuliche zu geraten. Was Entwürfe zu Monumenten aller Art betrifft, deren habe ich viele gesammelt und zeige sie gelegentlich;
doch bleibt immer das schönste Denkmal des Menschen eigenes Bildnis.
Dieses gibt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem, was er war; es ist der beste Text zu vielen oder wenigen Noten;
nur müsste es aber auch in seiner besten Zeit gemacht sein, welches gewöhnlich versäumt wird.
Niemand denkt daran, lebende Formen zu erhalten, und wenn es geschieht, so geschieht es auf unzulängliche Weise.
Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und eine solche Maske auf einen Block gesetzt, und das heißt man eine Büste.
Wie selten ist der Künstler imstande, sie völlig wieder zu beleben!«

»Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen und zu wollen«, versetzte Charlotte, »dies Gespräch ganz zu meinen Gunsten gelenkt.
Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall, wo es steht, steht es für sich, und wir werden von ihm nicht verlangen,
dass es die eigentliche Grabstätte bezeichne. Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfindung bekennen?
Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten
auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren.
Gedenkt man, wieviel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zumute!
Wir begegnen dem Geistreichen, ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten, ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten, ohne uns zu unterrichten,
dem Liebevollen, ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Und leider ereignet sich dies nicht bloß mit den Vorübergehenden.
Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Glieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Völker gegen
ihre trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.

Ich hörte fragen, warum man von den Toten so unbewunden Gutes sage, von den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht.
Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befürchten haben und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen könnten.
So unrein ist die Sorge für das Andenken der andern; es ist meist nur ein selbstischer Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernst wäre,
seine Verhältnisse gegen die Überbliebenen immer lebendig und tätig zu erhalten.«
Zweites Kapitel

Aufgeregt durch den Vorfall und die daran sich knüpfenden Gespräche, begab man sich des andern Tages nach dem Begräbnisplatz, zu dessen Verzierung und Erheiterung der Architekt manchen glücklichen Vorschlag tat.
Allein auch auf die Kirche sollte sich seine Sorgfalt erstrecken, auf ein Gebäude, das gleich anfänglich seine Aufmerksamkeit an sich gezogen hatte.

Diese Kirche stand seit mehrern Jahrhunderten, nach deutscher Art und Kunst in guten Maßen errichtet und auf eine glückliche Weise verziert.
Man konnte wohl nachkommen, dass der Baumeister eines benachbarten Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren Gebäude bewährt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestät genommen hatte.

Dem Architekten fiel es nicht schwer, sich von Charlotten eine mäßige Summe zu erbitten, wovon er das Äußere sowohl als das Innere im altertümlichen Sinne herzustellen und mit dem davor liegenden Auferstehungsfelde zur Übereinstimmung zu bringen gedachte.
Er hatte selbst viel Handgeschick, und einige Arbeiter, die noch am Hausbau beschäftigt waren, wollte man gern so lange beibehalten, bis auch dieses fromme Werk vollendet wäre.

Man war nunmehr in dem Falle, das Gebäude selbst mit allen Umgebungen und Angebäuden zu untersuchen, und da zeigte sich zum größten Erstaunen und Vergnügen des Architekten eine wenig bemerkte kleine Seitenkapelle von noch geistreichern und leichtern Maßen, von noch gefälligern und fleißigern Zieraten.
Sie enthielt zugleich manchen geschnitzten und gemalten Rest jenes älteren Gottesdienstes, der mit mancherlei Gebild und Gerätschaft die verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf seine eigne Weise zu feiern wusste.

Der Architekt konnte nicht unterlassen, die Kapelle sogleich in seinen Plan mit hereinzuziehen und besonders diesen engen Raum als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks wiederherzustellen.
Er hatte sich die leeren Flächen nach seiner Neigung schon verziert gedacht und freute sich, dabei sein malerisches Talent zu üben; allein er machte seinen Hausgenossen fürs Erste ein Geheimnis davon.

Vor allem andern zeigte er versprochenermaßen den Frauen die verschiedenen Nachbildungen und Entwürfe von alten Grabmonumenten, Gefäßen und andern dahin sich nähernden Dingen, und als man im Gespräch auf die einfachern Grabhügel der nordischen Völker zu reden kam, brachte er seine Sammlung von mancherlei Waffen und Gerätschaften, die darin gefunden worden, zur Ansicht.
Er hatte alles sehr reinlich und tragbar in Schubladen und Fächern auf eingeschnittenen, mit Tuch überzogenen Brettern, sodass diese alten, ernsten Dinge durch seine Behandlung etwas Putzhaftes annahmen und man mit Vergnügen darauf wie auf die Kästchen eines Modehändlers hinblickte.
Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einsamkeit eine Unterhaltung forderte, so pflegte er jeden Abend mit einem Teil seiner Schätze hervorzutreten.
Sie waren meistenteils deutschen Ursprungs: Brakteaten, Dickmünzen, Siegel und was sonst sich noch anschließen mag.
Alle diese Dinge richteten die Einbildungskraft gegen die ältere Zeit hin, und da er zuletzt mit den Anfängen des Drucks, Holzschnitten und den ältesten Kupfern seine Unterhaltung zierte und die Kirche täglich auch, jenem Sinne gemäß, an Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam der Vergangenheit entgegenwuchs, so musste man sich beinahe selbst fragen, ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, dass man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und Überzeugungen verweile.

Auf solche Art vorbereitet, tat ein größeres Portefeuille, das er zuletzt herbeibrachte, die beste Wirkung.
Es enthielt zwar meist nur umrissene Figuren, die aber, weil sie auf die Bilder selbst durchgezeichnet waren, ihren altertümlichen Charakter vollkommen erhalten hatten, und diesen, wie einnehmend fanden ihn die Beschauenden!
Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Dasein hervor; alle musste man, wo nicht für edel, doch für gut ansprechen.
Heitere Sammlung, willige Anerkennung eines Ehrwürdigen über uns, stille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in allen Gebärden ausgedrückt.
Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere Jüngling, der ernste Mann, der verklärte Heilige, der schwebende Engel, alle schienen selig in einem unschuldigen Genügen, in einem frommen Erwarten.
Das Gemeinste, was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.

Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin.
Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu fühlen.

Wer hätte nun widerstehen können, als der Architekt sich erbot, nach dem Anlass dieser Urbilder die Räume zwischen den Spitzbogen der Kapelle auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte zu stiften, wo es ihm so gut gegangen war.
Er erklärte sich hierüber mit einiger Wehmut; denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einsehen, dass sein Aufenthalt in so vollkommener Gesellschaft nicht immer dauern könne, ja vielleicht bald abgebrochen werden müsse.

Übrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch voller Anlässe zu ernsthafter Unterhaltung.
Wir nehmen daher Gelegenheit, von demjenigen, was Ottilie sich daraus in ihren Heften angemerkt, einiges mitzuteilen, wozu wir keinen schicklichern Übergang finden als durch ein Gleichnis, das sich uns beim Betrachten ihrer liebenswürdigen Blätter aufdringt.

Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte,
vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören.

Eben so zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüche und was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für sie von Bedeutung.
Selbst jede einzelne von uns ausgewählte und mitgeteilte Stelle gibt davon das entschiedenste Zeugnis.
Aus Ottiliens Tagebuche
Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das Leben hinausdenkt.
›Zu den Seinigen versammelt werden‹, ist ein so herzlicher Ausdruck.
Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abgeschiedene näher bringen.
Keins ist von der Bedeutung des Bildes.
Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit einem Freunde streiten.
Man fühlt auf eine angenehme Weise, dass man zu zweien ist und doch nicht auseinander kann.
Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit einem Bilde.
Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne dass er etwas dazu tut, ohne dass er etwas davon empfindet, dass er sich eben bloß zu uns wie ein Bild verhält.
Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man kennt.
Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert.
Man verlangt so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von diesen fordert man's.
Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn fassen würde.
Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden.
Daraus möchte denn entstehen, was wollte, wenn man nur nicht gerade darüber die Abbildungen so mancher lieben und teuren Menschen entbehren müsste.
Es ist wohl wahr, die Sammlung des Architekten von Waffen und alten Gerätschaften, die nebst dem Körper mit hohen Erdhügeln und Felsenstücken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnütz die Vorsorge des Menschen sei für die Erhaltung seiner Persönlichkeit nach dem Tode.
Und so widersprechend sind wir!
Der Architekt gesteht, selbst solche Grabhügel der Vorfahren geöffnet zu haben, und fährt dennoch fort, sich mit Denkmälern für die Nachkommen zu beschäftigen.
Warum soll man es aber so streng nehmen?
Ist denn alles, was wir tun, für die Ewigkeit getan?
Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen?
Verreisen wir nicht, um wiederzukehren?
Und warum sollten wir nicht wünschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und wenn es auch nur für ein Jahrhundert wäre?
Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der Überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben.
Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher oder später.
Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler lässt sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.
Drittes Kapitel

Es ist eine so angenehme Empfindung, sich mit etwas zu beschäftigen, was man nur halb kann, dass niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus in einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat.

Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des Architekten zum Ausmalen der Kapelle.
Die Farben waren bereitet, die Maße genommen, die Kartone gezeichnet; allen Anspruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt sich an seine Umrisse: nur die sitzenden und schwebenden Figuren geschickt auszuteilen, den Raum damit geschmackvoll auszuzieren, war seine Sorge.

Das Gerüste stand, die Arbeit ging vorwärts, und da schon einiges, was in die Augen fiel, erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider sein, dass Charlotte mit Ottilien ihn besuchte.
Die lebendigen Engelsgesichter, die lebhaften Gewänder auf dem blauen Himmelsgrunde erfreuten das Auge, indem ihr stilles frommes Wesen das Gemüt zur Sammlung berief und eine sehr zarte Wirkung hervorbrachte.

Die Frauen waren zu ihm aufs Gerüst gestiegen, und Ottilie bemerkte kaum, wie abgemessen leicht und bequem das alles zuging, als sich in ihr das durch frühern Unterricht Empfangene mit einmal zu entwickeln schien, sie nach Farbe und Pinsel griff und auf erhaltene Anweisung ein faltenreiches Gewand mit soviel Reinlichkeit als Geschicklichkeit anlegte.

Charlotte, welche gern sah, wenn Ottilie sich auf irgendeine Weise beschäftigte und zerstreute, ließ die beiden gewähren und ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die sie niemandem mitteilen konnte, für sich durchzuarbeiten.

Wenn gewöhnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenschaftlich ängstlichen Betragen aufgeregt, uns ein mitleidiges Lächeln abnötigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht ein Gemüt, in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden, das die Entwicklung dieser Empfängnis abwarten muss und weder das Gute noch das Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann.

Eduard hatte durch Charlottens Boten, den sie ihm in seine Einsamkeit gesendet, freundlich und teilnehmend, aber doch eher gefasst und ernst als zutraulich und liebevoll geantwortet.
Kurz darauf war Eduard verschwunden, und seine Gattin konnte zu keiner Nachricht von ihm gelangen, bis sie endlich von ungefähr seinen Namen in den Zeitungen fand, wo er unter denen, die sich bei einer bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorgetan hatten, mit Auszeichnung genannt war.
Sie wusste nun, welchen Weg er genommen hatte, sie erfuhr, dass er großen Gefahren entronnen war; allein sie überzeugte sich sogleich, dass er größere aufsuchen würde, und sie konnte sich daraus nur allzu sehr deuten, dass er in jedem Sinne schwerlich vom Äußersten würde zurückzuhalten sein.
Sie trug diese Sorgen für sich allein immer in Gedanken und mochte sie hin und wider legen, wie sie wollte, so konnte sie doch bei keiner Ansicht Beruhigung finden.

Ottilie, von alledem nichts ahnend, hatte indessen zu jener Arbeit die größte Neigung gefasst und von Charlotten gar leicht die Erlaubnis erhalten, regelmäßig darin fortfahren zu dürfen.
Nun ging es rasch weiter, und der azurne Himmel war bald mit würdigen Bewohnern bevölkert.
Durch eine anhaltende Übung gewannen Ottilie und der Architekt bei den letzten Bildern mehr Freiheit; sie wurden zusehends besser.
Auch die Gesichter, welche dem Architekten zu malen allein überlassen war, zeigten nach und nach eine ganz besondere Eigenschaft; sie fingen sämtlich an, Ottilien zu gleichen.
Die Nähe des schönen Kindes musste wohl in die Seele des jungen Mannes, der noch keine natürliche oder künstlerische Physiognomie vorgefasst hatte, einen so lebhaften Eindruck machen, dass ihm nach und nach auf dem Wege vom Auge zur Hand nichts verloren ging, ja dass beide zuletzt ganz gleichstimmig arbeiteten.
Genug, eins der letzten Gesichtchen glückte vollkommen, sodass es schien, als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen heruntersähe.

An dem Gewölbe war man fertig; die Wände hatte man sich vorgenommen einfach zu lassen und nur mit einer hellern bräunlichen Farbe zu überziehen; die zarten Säulen und künstlichen bildhauerischen Zieraten sollten sich durch eine dunklere auszeichnen.
Aber wie in solchen Dingen immer eins zum andern führt, so wurden noch Blumen und Fruchtgehänge beschlossen, welche Himmel und Erde gleichsam zusammenknüpfen sollten.
Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde.
Die Gärten lieferten die schönsten Muster, und obschon die Kränze sehr reich ausgestattet wurden, so kam man doch früher, als man gedacht hatte, damit zu Stande.

Noch sah aber alles wüste und roh aus.
Die Gerüste waren durcheinander geschoben, die Bretter übereinander geworfen, der ungleiche Fußboden durch mancherlei vergossene Farben noch mehr verunstaltet.
Der Architekt erbat sich nunmehr, dass die Frauenzimmer ihm acht Tage Zeit lassen und bis dahin die Kapelle nicht betreten möchten.
Endlich ersuchte er sie an einem schönen Abende, sich beiderseits dahin zu verfügen; doch wünschte er, sie nicht begleiten zu dürfen, und empfahl sich sogleich.

»Was er uns auch für eine Überraschung zugedacht haben mag«, sagte Charlotte, als er weggegangen war, »so habe
ich doch gegenwärtig keine Lust hinunterzugehen.
Du nimmst es wohl allein über dich und gibst mir Nachricht.
Gewiss hat er etwas Angenehmes zu Stande gebracht.
Ich werde es erst in deiner Beschreibung und dann gern in der Wirklichkeit genießen.«

Ottilie, die wohl wusste, dass Charlotte sich in manchen Stücken in Acht nahm, alle Gemütsbewegungen vermied und besonders nicht überrascht sein wollte, begab sich sogleich allein auf den Weg und sah sich unwillkürlich nach dem Architekten um, der aber nirgends erschien und sich mochte verborgen haben.
Sie trat in die Kirche, die sie offen fand.
Diese war schon früher fertig, gereinigt und eingeweiht.
Sie trat zur Türe der Kapelle, deren schwere, mit Erz beschlagene Last sich leicht vor ihr auftat und sie in einem bekannten Raume mit einem unerwarteten Anblick überraschte.

Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes, buntes Licht herein; denn es war von farbigen Gläsern anmutig zusammengesetzt.
Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung.
Die Schönheit des Gewölbes und der Wände ward durch die Zierde des Fußbodens erhöht, der aus besonders geformten, nach einem schönen Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsfläche verbundenen Ziegelsteinen bestand.
Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architekt heimlich bereiten lassen und konnte nun in kurzer Zeit alles zusammenfügen. Auch für Ruheplätze war gesorgt.
Es hatten sich unter jenen kirchlichen Altertümern einige schön geschnitzte Chorstühle vorgefunden, die nun gar schicklich an den Wänden angebracht umherstanden.

Ottilie freute sich der bekannten, ihr als ein unbekanntes Ganze entgegentretenden Teile.
Sie stand, ging hin und wider, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem sie auf- und umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher sehr lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse.

Sie verbarg sich nicht, in welche sonderbare Epoche diese Überraschung gefallen sei.
Es war der Abend vor Eduards Geburtstage.
Diesen hatte sie freilich ganz anders zu feiern gehofft.
Wie sollte nicht alles zu diesem Feste geschmückt sein!
Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichtum ungepflückt.
Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel, diese Astern sahen noch immer still bescheiden vor sich hin, und was allenfalls davon zu Kränzen gebunden war, hatte zum Muster gedient, einen Ort auszuschmücken, der, wenn er nicht bloß eine Künstlergrille bleiben, wenn er zu irgend etwas genutzt werden sollte, nur zu einer gemeinsamen Grabstätte geeignet schien.

Sie musste sich dabei der geräuschvollen Geschäftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert; sie musste des neu gerichteten Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich so viel Freundliches versprach.
Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fühlte sich auch nur um desto mehr allein.
Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stütze zu finden.
Aus Ottiliens Tagebuche
Eine Bemerkung des jungen Künstlers muss ich aufzeichnen: ›Wie am Handwerker so am bildenden Künstler kann man auf das Deutlichste gewahr werden, dass der Mensch sich am wenigsten zuzueignen vermag, was ihm ganz eigens angehört.
Seine Werke verlassen ihn so wie die Vögel das Nest, worin sie ausgebrütet worden.‹
Der Baukünstler vor allen hat hierin das wunderlichste Schicksal.
Wie oft wendet er seinen ganzen Geist, seine ganze Neigung auf, um Räume hervorzubringen, von denen er sich selbst ausschließen muss! Die königlichen Säle sind ihm ihre Pracht schuldig, deren größte Wirkung er nicht mitgenießt.
In den Tempeln zieht er eine Grenze zwischen sich und dem Allerheiligsten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur herzerhebenden Feierlichkeit gründete, so wie der Goldschmied die Monstranz nur von fern anbetet, deren Schmelz und Edelsteine er zusammengeordnet hat.
Dem Reichen übergibt der Baumeister mit dem Schlüssel des Palastes alle Bequemlichkeit und Behäbigkeit, ohne irgend etwas davon mitzugenießen.
Muss sich nicht allgemach auf diese Weise die Kunst von dem Künstler entfernen, wenn das Werk wie ein ausgestattetes Kind nicht mehr auf den Vater zurückwirkt?
Und wie sehr musste die Kunst sich selbst befördern, als sie fast allein mit dem Öffentlichen, mit dem, was allen und also auch dem Künstler gehörte, sich zu beschäftigen bestimmt war!
Eine Vorstellung der alten Völker ist ernst und kann furchtbar scheinen.
Sie dachten sich ihre Vorfahren in großen Höhlen ringsumher auf Thronen sitzend in stummer Unterhaltung.
Dem Neuen, der hereintrat, wenn er würdig genug war, standen sie auf und neigten ihm einen Willkommen.
Gestern, als ich in der Kapelle saß und meinem geschnitzten Stuhle gegenüber noch mehrere umhergestellt sah, erschien mir jener Gedanke gar freundlich und anmutig.
Warum kannst du nicht sitzen bleiben?, dachte ich bei mir selbst, still und in dich gekehrt sitzen bleiben, lange, lange, bis endlich die Freunde kämen, denen du
aufstündest und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwiesest. Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernsten Dämmerung, und jemand müsste eine ewige
Lampe stiften, damit auch die Nacht nicht ganz finster bliebe.
Man mag sich stellen, wie man will, und man denkt sich immer sehend.
Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen.
Es könnte wohl sein, dass das innere Licht einmal aus uns herausträte, sodass wir keines andern mehr bedürften.
Das Jahr klingt ab. Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns
noch an etwas Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der Taktschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, dass in der abgesichelten Ähre so viel Nährendes
und Lebendiges verborgen liegt.
Viertes Kapitel

Wie seltsam musste, nach solchen Ereignissen, nach diesem aufgedrungenen Gefühl von Vergänglichkeit und Hinschwinden Ottilie
durch die Nachricht getroffen werden, die ihr nicht länger verborgen bleiben konnte, dass Eduard sich dem wechselnden Kriegsglück überliefert habe.
Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabei zu machen Ursache hatte.
Glücklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Unglücks fassen; was darüber hinausgeht, vernichtet ihn oder lässt ihn gleichgültig.
Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fühllosigkeit verlieren.
Wie könnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stündlicher Gefahr wissen und dennoch unser tägliches, gewöhnliches Leben immer so forttreiben.

Es war daher, als wenn ein guter Geist für Ottilien gesorgt hätte, indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und unbeschäftigt
zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst führte, zugleich
in ihr das Gefühl eigener Kraft anregte.

Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Pension in die große Welt getreten, hatte kaum in dem Hause ihrer Tante sich von zahlreicher Gesellschaft
umgeben gesehen, als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen erregte und ein junger, sehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung empfand, sie zu besitzen.
Sein ansehnliches Vermögen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein Eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene
Frau, um die ihn die Welt so wie um das Übrige zu beneiden hätte.

Diese Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher sehr viel zu tun gab, der sie ihre ganze Überlegung, ihre Korrespondenz widmete,
insofern diese nicht darauf gerichtet war, von Eduard nähere Nachricht zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als sonst in der letzten Zeit allein blieb.
Diese wusste zwar um die Ankunft Lucianens; im Hause hatte sie deshalb die nötigsten Vorkehrungen getroffen; allein so nahe stellte man sich den Besuch nicht vor.
Man wollte vorher noch schreiben, abreden, näher bestimmen, als der Sturm auf einmal über das Schloss und Ottilien hereinbrach.

Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreifache Herrschaft im Hause zu haben;
aber nun erschienen erst die Gäste selbst: die Großtante mit Lucianen und einigen Freundinnen, der Bräutigam gleichfalls nicht unbegleitet.
Da lag das Vorhaus voll Sachen, Mantelsäcke und anderer lederner Gehäuse.
Mit Mühe sonderte man die vielen Kästchen und Futterale auseinander.
Des Gepäckes und Geschleppes war kein Ende. Dazwischen regnete es mit Gewalt, woraus manche Unbequemlichkeit entstand.
Diesem ungestümen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmütiger Tätigkeit, ja ihr heiteres Geschick erschien im schönsten Glanze;
denn sie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet.
Jedermann war logiert, jedermann nach seiner Art bequem, und glaubte gut bedient zu sein, weil er nicht gehindert war, sich selbst zu bedienen.

Nun hätten alle gern, nach einer höchst beschwerlichen Reise, einige Ruhe genossen; der Bräutigam hätte sich seiner
Schwiegermutter gern genähert, um ihr seine Liebe, seinen guten Willen zu beteuern; aber Luciane konnte nicht rasten.
Sie war nun einmal zu dem Glücke gelangt, ein Pferd besteigen zu dürfen.
Der Bräutigam hatte schöne Pferde, und sogleich musste man aufsitzen.
Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anschlag; es war, als wenn man nur lebte, um nass zu werden und sich wieder zu trocknen.
Fiel es ihr ein, zu Fuße auszugehen, so fragte sie nicht, was für Kleider sie anhatte und wie sie beschuht war: sie musste die
Anlagen besichtigen, von denen sie vieles gehört hatte.
Was nicht zu Pferde geschehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt.
Bald hatte sie alles gesehen und abgeurteilt.
Bei der Schnelligkeit ihres Wesens war ihr nicht leicht zu widersprechen.
Die Gesellschaft hatte manches zu leiden, am meisten aber die Kammermädchen, die mit Waschen und Bügeln, Auftrennen und Annähen
nicht fertig werden konnten.
Kaum hatte sie das Haus und die Gegend erschöpft, als sie sich verpflichtet fühlte, rings in der Nachbarschaft Besuch abzulegen.
Weil man sehr schnell ritt und fuhr, so reichte die Nachbarschaft ziemlich fern umher.
Das Schloss ward mit Gegenbesuchen überschwemmt, und damit man sich ja nicht verfehlen möchte, wurden bald bestimmte Tage angesetzt.

Indessen Charlotte mit der Tante und dem Geschäftsträger des Bräutigams die innern Verhältnisse festzustellen bemüht war
und Ottilie mit ihren Untergebenen dafür zu sorgen wusste, dass es an nichts bei so großem Zugang fehlen möchte, da denn Jäger
und Gärtner, Fischer und Krämer in Bewegung gesetzt wurden, zeigte sich Luciane immer wie ein brennender Kometenkern, der einen langen
Schweif nach sich zieht. Die gewöhnlichen Besuchsunterhaltungen dünkten ihr bald ganz unschmackhaft.
Kaum dass sie den ältesten Personen eine Ruhe am Spieltisch gönnte: wer noch einigermaßen beweglich war - und wer ließ
sich nicht durch ihre reizenden Zudringlichkeiten in Bewegung setzen? - musste herbei, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-, Straf- und Vexierspiel.
Und obgleich das alles, so wie hernach die Pfänderlösung, auf sie selbst berechnet war, so ging doch von der andern Seite niemand,
besonders kein Mann, er mochte von einer Art sein, von welcher er wollte , ganz leer aus; ja es glückte ihr, einige ältere Personen
von Bedeutung ganz für sich zu gewinnen, indem sie ihre eben einfallenden Geburts- und Namenstage ausgeforscht hatte und besonders feierte.
Dabei kam ihr ein ganz eignes Geschick zustatten, sodass, indem alle sich begünstigt sahen, jeder sich für den am meisten Begünstigten
hielt: eine Schwachheit, deren sich sogar der Älteste in der Gesellschaft am allermerklichsten schuldig machte.

Schien es bei ihr Plan zu sein, Männer, die etwas vorstellten, Rang, Ansehen, Ruhm oder sonst etwas Bedeutendes für sich hatten,
für sich zu gewinnen, Weisheit und Besonnenheit zuschanden zu machen und ihrem wilden, wunderlichen Wesen selbst bei der Bedächtlichkeit
Gunst zu erwerben, so kam die Jugend doch dabei nicht zu kurz; jeder hatte sein Teil, seinen Tag, seine Stunde, in der sie ihn zu entzücken und zu fesseln wusste.
So hatte sie den Architekten schon bald ins Auge gefasst, der jedoch aus seinem schwarzen, langlockigen Haar so unbefangen heraussah, so gerad und
ruhig in der Entfernung stand, auf alle Fragen kurz und verständig antwortete, sich aber auf nichts weiter einzulassen geneigt schien, dass
sie sich endlich einmal, halb unwillig halb listig, entschloss, ihn zum Helden des Tages zu machen und dadurch auch für ihren Hof zu gewinnen.

Nicht umsonst hatte sie so vieles Gepäcke mitgebracht, ja es war ihr noch manches gefolgt.
Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechselung in Kleidern vorgesehen.
Wenn es ihr Vergnügen machte, sich des Tages drei-, viermal umzuziehen und mit gewöhnlichen, in der Gesellschaft üblichen
Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechseln, so erschien sie dazwischen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Bäuerin
und Fischerin, als Fee und Blumenmädchen.
Sie verschmähte nicht, sich als alte Frau zu verkleiden, um desto frischer ihr junges Gesicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und
wirklich verwirrte sie dadurch das Gegenwärtige und das Eingebildete dergestalt, dass man sich mit der Saalnixe verwandt und
verschwägert zu sein glaubte.

Wozu sie aber diese Verkleidungen hauptsächlich benutzte, waren pantomimische Stellungen und Tänze, in denen sie verschiedene
Charaktere auszudrücken gewandt war.
Ein Kavalier aus ihrem Gefolge hatte sich eingerichtet, auf dem Flügel ihre Gebärden mit der wenigen nötigen Musik
zu begleiten; es bedurfte nur einer kurzen Abrede, und sie waren sogleich in Einstimmung.

Eines Tages, als man sie bei der Pause eines lebhaften Balls auf ihren eigenen heimlichen Antrieb gleichsam aus dem Stegreife zu einer
solchen Darstellung aufgefordert hatte, schien sie verlegen und überrascht und ließ sich wider ihre Gewohnheit lange bitten.
Sie zeigte sich unentschlossen, ließ die Wahl, bat wie ein Improvisator um einen Gegenstand, bis endlich jener Klavier spielende
Gehilfe, mit dem es abgeredet sein mochte, sich an den Flügel setzte, einen Trauermarsch zu spielen anfing und sie aufforderte,
jene Artemisia zu geben, welche sie so vortrefflich einstudiert habe.
Sie ließ sich erbitten, und nach einer kurzen Abwesenheit erschien sie, bei den zärtlich traurigen Tönen des Totenmarsches,
in Gestalt der königlichen Witwe, mit gemessenem Schritt, einen Aschenkrug vor sich hertragend.
Hinter ihr brachte man eine große schwarze Tafel und in einer goldenen Reißfeder ein wohlzugeschnitztes Stück Kreide.

Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem sie etwas ins Ohr sagte, ging sogleich den Architekten aufzufordern, zu nötigen und gewissermaßen
herbeizuschieben, dass er als Baumeister das Grab des Mausolus zeichnen und also keineswegs einen Statisten, sondern einen ernstlich Mitspielenden
vorstellen sollte. Wie verlegen der Architekt auch äußerlich erschien - denn er machte in seiner ganz schwarzen, knappen, modernen Zivilgestalt
einen wunderlichen Kontrast mit jenen Flören, Kreppen, Fransen, Schmelzen, Quasten und Kronen -, so fasste er sich doch gleich innerlich, allein
um so wunderlicher war es anzusehen. Mit dem größten Ernst stellte er sich vor die große Tafel, die von ein paar Pagen gehalten wurde,
und zeichnete mit viel Bedacht und Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardischen als einem karischen König wäre gemäß
gewesen, aber doch in so schönen Verhältnissen, so ernst in seinen Teilen, so geistreich in seinen Zieraten, dass man es mit Vergnügen
entstehen sah und, als es fertig war, bewunderte.

Er hatte sich in diesem ganzen Zeitraum fast nicht gegen die Königin gewendet, sondern seinem Geschäft alle Aufmerksamkeit gewidmet.
Endlich, als er sich vor ihr neigte und andeutete, dass er nun ihre Befehle vollzogen zu haben glaube, hielt sie ihm noch die Urne hin und
bezeichnete das Verlangen, diese oben auf dem Gipfel abgebildet zu sehen.
Er tat es, obgleich ungern, weil sie zu dem Charakter seines übrigen Entwurfs nicht passen wollte.
Was Lucianen betraf, so war sie endlich von ihrer Ungeduld erlöst; denn ihre Absicht war keineswegs, eine gewissenhafte Zeichnung von ihm zu haben.
Hätte er mit wenigen Strichen nur hinskizziert, was etwa einem Monument ähnlich gesehen, und sich die übrige Zeit mit ihr abgegeben,
so wäre das wohl dem Endzweck und ihren Wünschen gemäßer gewesen.
Bei seinem Benehmen dagegen kam sie in die größte Verlegenheit; denn ob sie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutungen,
ihrem Beifall über das nach und nach Entstehende ziemlich abzuwechseln suchte und sie ihn einige Mal beinahe herumzerrte, um nur mit ihm in eine
Art von Verhältnis zu kommen, so erwies er sich doch gar zu steif, dergestalt, dass sie allzu oft ihre Zuflucht zur Urne nehmen, sie an ihr
Herz drücken und zum Himmel schauen musste, ja zuletzt, weil sich doch dergleichen Situationen immer steigern, mehr einer Witwe von Ephesus
als einer Königin von Karien ähnlich sah.
Die Vorstellung zog sich daher in die Länge; der Klavierspieler, der sonst Geduld genug hatte, wusste nicht mehr, in welchen Ton er ausweichen sollte.
Er dankte Gott, als er die Urne auf der Pyramide stehn sah, und fiel unwillkürlich, als die Königin ihren Dank ausdrücken wollte, in ein
lustiges Thema, wodurch die Vorstellung zwar ihren Charakter verlor, die Gesellschaft jedoch völlig aufgeheitert wurde, die sich denn sogleich
teilte, der Dame für ihren vortrefflichen Ausdruck und dem Architekten für seine künstliche und zierliche Zeichnung eine freudige
Bewunderung zu beweisen.

Besonders der Bräutigam unterhielt sich mit dem Architekten.
»Es tut mir leid«, sagte jener, »dass die Zeichnung so vergänglich ist.
Sie erlauben wenigstens, dass ich sie mir auf mein Zimmer bringen lasse und mich mit Ihnen darüber unterhalte.«
»Wenn es Ihnen Vergnügen macht«, sagte der Architekt, »so kann ich Ihnen sorgfältige Zeichnungen
von dergleichen Gebäuden und Monumenten vorlegen, wovon dieses nur ein zufälliger, flüchtiger Entwurf ist«.

Ottilie stand nicht fern und trat zu den beiden. »Versäumen Sie nicht«, sagte sie zum Architekten, »den Herrn Baron
gelegentlich Ihre Sammlung sehen zu lassen; er ist ein Freund der Kunst und des Altertums; ich wünsche, dass Sie sich näher kennen lernen«.

Luciane kam herbeigefahren und fragte: »Wovon ist die Rede?« »Von einer Sammlung Kunstwerke«, antwortete der Baron,
»welche dieser Herr besitzt und die er uns gelegentlich zeigen will«.

»Er mag sie nur gleich bringen!«, rief Luciane. »Nicht wahr, Sie bringen sie gleich?«, setzte sie schmeichelnd hinzu,
indem sie ihn mit beiden Händen freundlich anfasste.

»Es möchte jetzt der Zeitpunkt nicht sein«, versetzte der Architekt.

»Was!«, rief Luciane gebieterisch, »Sie wollen dem Befehl Ihrer Königin nicht gehorchen?«
Dann legte sie sich auf ein neckisches Bitten.

»Sein Sie nicht eigensinnig!«, sagte Ottilie halb leise.

Der Architekt entfernte sich mit einer Beugung; sie war weder bejahend noch verneinend.

Kaum war er fort, als Luciane sich mit einem Windspiel im Saale herumjagte.
»Ach!«, rief sie aus, indem sie zufällig an ihre Mutter stieß, »wie bin ich nicht unglücklich!
Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat es mir abgeraten; es ist aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieses Vergnügen bringt.
Ich will ihn aber nachkommen lassen, es soll mir jemand hin, ihn zu holen.
Wenn ich nur sein Bildnis sehen könnte, so wäre ich schon vergnügt.
Ich will ihn aber gewiss auch malen lassen, und er soll mir nicht von der Seite kommen.«

»Vielleicht kann ich dich trösten«, versetzte Charlotte, »wenn ich dir aus der Bibliothek einen ganzen Band
der wunderlichsten Affenbilder kommen lasse.« Luciane schrie vor Freuden laut auf, und der Folioband wurde gebracht.
Der Anblick dieser menschenähnlichen und durch den Künstler noch mehr vermenschlichten abscheulichen Geschöpfe machte
Lucianen die größte Freude. Ganz glücklich aber fühlte sie sich, bei einem jeden dieser Tiere die Ähnlichkeit mit bekannten Menschen zu finden.
»Sieht der nicht aus wie der Onkel?«, rief sie unbarmherzig, »der wie der Galanteriehändler M-, der wie der Pfarrer S-, und
dieser ist der Dings - der - leibhaftig. Im Grunde sind doch die Affen die eigentlichen Incroyables, und es ist unbegreiflich, wie man sie aus der
besten Gesellschaft ausschließen mag.«

Sie sagte das in der besten Gesellschaft, doch niemand nahm es ihr übel.
Man war so gewohnt, ihrer Anmut vieles zu erlauben, dass man zuletzt ihrer Unart alles erlaubte.

Ottilie unterhielt sich indessen mit dem Bräutigam.
Sie hoffte auf die Rückkunft des Architekten, dessen ernstere, geschmackvollere Sammlungen die Gesellschaft von diesem Affenwesen befreien sollten.
In dieser Erwartung hatte sie sich mit dem Baron besprochen und ihn auf manches aufmerksam gemacht.
Allein der Architekt blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor er sich unter der Gesellschaft, ohne etwas mitzubringen und ohne zu tun, als
ob von etwas die Frage gewesen wäre.
Ottilie ward einen Augenblick - wie soll man's nennen? - verdrießlich, ungehalten, betroffen; sie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, sie
gönnte dem Bräutigam eine vergnügte Stunde nach seinem Sinne, der bei seiner unendlichen Liebe für Lucianen doch
von ihrem Betragen zu leiden schien.

Die Affen mussten einer Kollation Platz machen.
Gesellige Spiele, ja sogar noch Tänze, zuletzt ein freudeloses Herumsitzen und Wiederaufjagen einer schon gesunkenen Lust dauerten diesmal, wie sonst auch, weit über Mitternacht.
Denn schon hatte sich Luciane gewöhnt, morgens nicht aus dem Bette und abends nicht ins Bette gelangen zu können.

Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner angemerkt, dagegen häufiger auf das Leben bezügliche und
vom Leben abgezogene Maximen und Sentenzen. Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein können,
so ist es wahrscheinlich, dass man ihr irgendein Heft mitgeteilt, aus dem sie sich, was ihr gemütlich war, ausgeschrieben.
Manches Eigene von innigerem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu erkennen sein.
Aus Ottililiens Tagebuche
Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche
so gern zu unsern Gunsten heranleiten möchten.
Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken, der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns
auch unsre Freunde herbeiführen.
Man mag noch so eingezogen leben, so wird man, ehe man sich's versieht, ein Schuldner oder ein Gläubiger.
Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns ein.
Wie oft können wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne daran zu denken!
Sich mitzuteilen ist Natur; Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.
Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewusst wäre, wie oft er die andern missversteht.
Man verändert fremde Reden beim Wiederholen wohl nur darum so sehr, weil man sie nicht verstanden hat.
Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln, erregt Widerwillen.
Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.
Widerspruch und Schmeichelei machen beide ein schlechtes Gespräch.
Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet.
Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden.
Das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine unschädliche Weise für
die Sinne in Verbindung gebracht wird .
Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.
Der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast nichts.
Einem bejahrten Manne verdachte man, dass er sich noch um junge Frauenzimmer bemühte.
»Es ist das einzige Mittel«, versetzte er, »sich zu verjüngen, und das will doch jedermann.«
Man lässt sich seine Mängel vorhalten, man lässt sich strafen, man leidet manches um ihrer willen
mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man sie ablegen soll.
Gewisse Mängel sind notwendig zum Dasein des einzelnen.
Es würde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten ablegten.
Man sagt: ›er stirbt bald‹, wenn einer etwas gegen seine Art und Weise tut.
Was für Mängel dürfen wir behalten, ja an uns kultivieren? Solche, die den andern eher schmeicheln als sie verletzen.
Die Leidenschaften sind Mängel oder Tugenden, nur gesteigerte.
Unsre Leidenschaften sind wahre Phönixe.
Wie der alte verbrennt, steigt der neue sogleich wieder aus der Asche hervor.
Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung.
Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich.
Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durchs Bekennen.
In nichts wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerter als im Vertrauen und Verschweigen
gegen die, die wir lieben.
Fünftes Kapitel

So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor sich her.
Ihr Hofstaat vermehrte sich täglich, teils weil ihr Treiben so manchen erregte und anzog, teils weil sie sich andre durch Gefälligkeit
und Wohltun zu verbinden wusste.
Mitteilend war sie im höchsten Grade; denn da ihr durch die Neigung der Tante und des Bräutigams so viel Schönes und Köstliches
auf einmal zugeflossen war, so schien sie nichts Eigenes zu besitzen und den Wert der Dinge nicht zu kennen, die sich um sie gehäuft hatten.
So zauderte sie nicht einen Augenblick, einen kostbaren Schal abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhängen, das ihr gegen die übrigen
zu ärmlich gekleidet schien, und sie tat das auf eine so neckische, geschickte Weise, dass niemand eine solche Gabe ablehnen konnte.
Einer von ihrem Hofstaat hatte stets eine Börse und den Auftrag, in den Orten, wo sie einkehrten, sich nach den Ältesten und Kränksten
zu erkundigen und ihren Zustand wenigstens für den Augenblick zu erleichtern.
Dadurch entstand ihr in der ganzen Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manchmal unbequem ward, weil er allzu viel lästige
Notleidende an sie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ihren Ruf als durch ein auffallendes, gutes, beharrliches Benehmen gegen einen unglücklichen jungen Mann,
der die Gesellschaft floh, weil er, übrigens schön und wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich rühmlich, in der Schlacht verloren hatte.
Diese Verstümmlung erregte ihm einen solchen Missmut, es war ihm so verdrießlich, dass jede neue Bekanntschaft sich auch immer mit seinem
Unfall bekannt machen sollte, dass er sich lieber versteckte, sich dem Lesen und andern Studien ergab und ein für allemal mit der Gesellschaft
nichts wollte zu schaffen haben.

Das Dasein dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen.
Er musste herbei, erst in kleiner Gesellschaft, dann in größerer, dann in der größten.
Sie benahm sich anmutiger gegen ihn als gegen irgendeinen andern; besonders wusste sie durch zudringliche Dienstfertigkeit ihm seinen Verlust wert
zu machen, indem sie geschäftig war, ihn zu ersetzen. Bei Tafel musste er neben ihr seinen Platz nehmen; sie schnitt ihm vor, sodass er nur die
Gabel gebrauchen durfte.
Nahmen Ältere, Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte sie ihre Aufmerksamkeit über die ganze Tafel hin, und die eilenden
Bedienten mussten das ersetzen, was ihm die Entfernung zu rauben drohte.
Zuletzt munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben; er musste alle seine Versuche an sie richten, und so stand sie, entfernt oder nah,
immer mit ihm in Verhältnis.
Der junge Mann wusste nicht, wie ihm geworden war, und wirklich fing er von diesem Augenblick ein neues Leben an.

Vielleicht sollte man denken, ein solches Betragen wäre dem Bräutigam missfällig gewesen; allein es fand sich das Gegenteil.
Er rechnete ihr diese Bemühungen zu großem Verdienst an und war um so mehr darüber ganz ruhig, als er ihre fast übertriebenen
Eigenheiten kannte, wodurch sie alles, was im Mindesten verfänglich schien, von sich abzulehnen wusste.
Sie wollte mit jedermann nach Belieben umspringen, jeder war in Gefahr, von ihr einmal angestoßen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden;
niemand aber durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben, niemand sie nach Willkür berühren, niemand auch nur im entferntesten Sinne
eine Freiheit, die sie sich nahm, erwidern; und so hielt sie die andern in den strengsten Grenzen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen
andere jeden Augenblick zu übertreten schien.

Überhaupt hätte man glauben können, es sei bei ihr Maxime gewesen, sich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung
gleichmäßig auszusetzen.
Denn wenn sie die Menschen auf mancherlei Weise für sich zu gewinnen suchte, so verdarb sie es wieder mit ihnen gewöhnlich durch
eine böse Zunge, die niemanden schonte.
So wurde kein Besuch in der Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie und ihre Gesellschaft in Schlössern und Wohnungen freundlich aufgenommen,
ohne dass sie bei der Rückkehr auf das Ausgelassenste merken ließ, wie sie alle menschlichen Verhältnisse nur von der
lächerlichen Seite zu nehmen geneigt sei.
Da waren drei Brüder, welche unter lauter Komplimenten, wer zuerst heiraten sollte, das Alter übereilt hatte; hier eine kleine,
junge Frau mit einem großen, alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner, munterer Mann und eine unbehilfliche Riesin.
In dem einen Hause stolperte man bei jedem Schritt über ein Kind; das andre wollte ihr bei der größten Gesellschaft nicht
voll erscheinen, weil keine Kinder gegenwärtig waren.
Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch wieder einmal jemand im Hause zum Lachen käme, da ihnen keine
Noterben gegeben waren.
Junge Eheleute sollten reisen, weil das Haushalten sie gar nicht kleide.
Und wie mit den Personen, so machte sie es auch mit den Sachen, mit den Gebäuden wie mit dem Haus- und Tischgeräte.
Besonders alle Wandverzierungen reizten sie zu lustigen Bemerkungen.
Von dem ältesten Hautelisseteppich bis zu der neusten Papiertapete, vom ehrwürdigsten Familienbilde bis zum frivolsten neuen
Kupferstich, eins wie das andre musste leiden, eins wie das andre wurde durch ihre spöttischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, sodass
man sich hätte verwundern sollen, wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch existierte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in diesem verneinenden Bestreben; ein selbstischer Mutwille mochte sie gewöhnlich anreizen; aber
eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in ihrem Verhältnis zu Ottilien erzeugt.
Auf die ruhige, ununterbrochene Tätigkeit des lieben Kindes, die von jedermann bemerkt und gepriesen wurde, sah sie mit Verachtung herab;
und als zur Sprache kam, wie sehr sich Ottilie der Gärten und der Treibhäuser annehme, spottete sie nicht allein darüber,
indem sie uneingedenk des tiefen Winters, in dem man lebte, sich zu verwundern schien, dass man weder Blumen noch Früchte gewahr werde,
sondern sie ließ auch von nun an so viel Grünes, so viel Zweige und was nur irgend keimte, herbeiholen und zur täglichen Zierde
der Zimmer und des Tisches verschwenden, dass Ottilie und der Gärtner nicht wenig gekränkt waren, ihre Hoffnungen für das
nächste Jahr und vielleicht auf längere Zeit zerstört zu sehen.

Ebenso wenig gönnte sie Ottilien die Ruhe des häuslichen Ganges, worin sie sich mit Bequemlichkeit fortbewegte.
Ottilie sollte mit auf die Lust- und Schlittenfahrten, sie sollte mit auf die Bälle, die in der Nachbarschaft veranstaltet wurden; sie
sollte weder Schnee noch Kälte noch gewaltsame Nachtstürme scheuen, da ja so viel andre nicht davon stürben.
Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts dabei; denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war sie doch
oder so schien sie wenigstens immer den Männern die Schönste.
Ein sanftes Anziehen versammelte alle Männer um sie her, sie mochte sich in den großen Räumen am ersten oder am letzten Platze
befinden; ja der Bräutigam Lucianens selbst unterhielt sich oft mit ihr, und zwar um so mehr, als er in einer Angelegenheit, die ihn
beschäftigte, ihren Rat, ihre Mitwirkung verlangte.

Er hatte den Architekten näher kennen lernen, bei Gelegenheit seiner Kunstsammlung viel über das Geschichtliche mit ihm gesprochen,
in andern Fällen auch, besonders bei Betrachtung der Kapelle, sein Talent schätzen gelernt.
Der Baron war jung, reich; er sammelte, er wollte bauen; seine Liebhaberei war lebhaft, seine Kenntnisse schwach; er glaubte in dem Architekten
seinen Mann zu finden, mit dem er mehr als einen Zweck zugleich erreichen könnte.
Er hatte seiner Braut von dieser Absicht gesprochen; sie lobte ihn darum und war höchlich mit dem Vorschlag zufrieden, doch vielleicht mehr,
um diesen jungen Mann Ottilien zu entziehen - denn sie glaubte so etwas von Neigung bei ihm zu bemerken -, als dass sie gedacht hätte, sein
Talent zu ihren Absichten zu benutzen.
Denn ob er gleich bei ihren extemporierten Festen sich sehr tätig erwiesen und manche Ressourcen bei dieser und jener Anstalt dargeboten,
so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen; und da ihre Erfindungen gewöhnlich gemein waren, so reichte, um sie auszuführen,
die Geschicklichkeit eines gewandten Kammerdieners ebenso gut hin als die des vorzüglichsten Künstlers.
Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekränzung, es mochte nun ein gipsernes oder ein lebendes Haupt sein, konnte
ihre Einbildungskraft sich nicht versteigen, wenn sie irgend jemand zum Geburts- und Ehrentage ein festliches Kompliment zu machen gedachte.

Ottilie konnte dem Bräutigam, der sich nach dem Verhältnis des Architekten zum Hause erkundigte, die beste Auskunft geben.
Sie wusste, dass Charlotte sich schon früher nach einer Stelle für ihn umgetan hatte; denn wäre die Gesellschaft nicht gekommen,
so hätte sich der junge Mann gleich nach Vollendung der Kapelle entfernt, weil alle Bauten den Winter über still stehn sollten und
mussten; und es war daher sehr erwünscht, wenn der geschickte Künstler durch einen neuen Gönner wieder genutzt und befördert wurde.

Das persönliche Verhältnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und unbefangen.
Seine angenehme und tätige Gegenwart hatte sie wie die Nähe eines ältern Bruders unterhalten und erfreut.
Ihre Empfindungen für ihn blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen Oberfläche der Blutsverwandtschaft; denn in ihrem Herzen war
kein Raum mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedrängt ausgefüllt, und nur die Gottheit, die alles durchdringt, konnte dieses
Herz zugleich mit ihm besitzen.

Indessen je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je unzugänglicher die Wege, desto anziehender schien es, in so guter
Gesellschaft die abnehmenden Tage zuzubringen.
Nach kurzen Ebben überflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus.
Offiziere von entfernteren Garnisonen, die gebildeten zu ihrem großen Vorteil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Gesellschaft,
zogen sich herbei; am Zivilstande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen eines Tages der Graf und die Baronesse zusammen angefahren.

Ihre Gegenwart schien erst einen wahren Hof zu bilden.
Die Männer von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen ließen der Baronesse Gerechtigkeit widerfahren.
Man verwunderte sich nicht lange, sie beide zusammen und so heiter zu sehen; denn man vernahm, des Grafen Gemahlin sei gestorben, und eine
neue Verbindung werde geschlossen sein, sobald es die Schicklichkeit nur erlaube.
Ottilie erinnerte sich jenes ersten Besuchs, jedes Worts, was über Ehestand und Scheidung, über Verbindung und Trennung, über
Hoffnung, Erwartung, Entbehren und Entsagen gesprochen ward.
Beide Personen, damals noch ganz ohne Aussichten, standen nun vor ihr, dem gehofften Glück so nahe, und ein unwillkürlicher Seufzer
drang aus ihrem Herzen.

Luciane hörte kaum, dass der Graf ein Liebhaber von Musik sei, so wusste sie ein Konzert zu veranstalten; sie wollte sich dabei mit Gesang
zur Gitarre hören lassen.
Es geschah.
Das Instrument spielte sie nicht ungeschickt, ihre Stimme war angenehm; was aber die Worte betraf, so verstand man sie so wenig, als wenn sonst
eine deutsche Schöne zur Gitarre singt.
Indes versicherte jedermann, sie habe mit viel Ausdruck gesungen, und sie konnte mit dem lauten Beifall zufrieden sein.
Nur ein wunderliches Unglück begegnete bei dieser Gelegenheit. In der Gesellschaft befand sich ein Dichter, den sie auch besonders
zu verbinden hoffte, weil sie einige Lieder von ihm an sie gerichtet wünschte, und deshalb diesen Abend meist nur von seinen Liedern vortrug.
Er war überhaupt, wie alle, höflich gegen sie, aber sie hatte mehr erwartet.
Sie legte es ihm einige Mal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm vernehmen, bis sie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn
schickte und sondieren ließ, ob er denn nicht entzückt gewesen sei, seine vortrefflichen Gedichte so vortrefflich vortragen
zu hören.
»Meine Gedichte?«, versetzte dieser mit Erstaunen.
»Verzeihen Sie, mein Herr«, fügte er hinzu; »ich habe nichts als Vokale gehört und die nicht einmal alle.
Unterdessen ist es meine Schuldigkeit, mich für eine so liebenswürdige Intention dankbar zu erweisen.«
Der Hofmann schwieg und verschwieg.
Der andre suchte sich durch einige wohltönende Komplimente aus der Sache zu ziehen.
Sie ließ ihre Absicht nicht undeutlich merken, auch etwas eigens für sie Gedichtetes zu besitzen.
Wenn es nicht allzu unfreundlich gewesen wäre, so hätte er ihr das Alphabet überreichen können, um sich daraus ein
beliebiges Lobgedicht zu irgendeiner vorkommenden Melodie selbst einzubilden.
Doch sollte sie nicht ohne Kränkung aus dieser Begebenheit scheiden.
Kurze Zeit darauf erfuhr sie, er habe noch selbigen Abend einer von Ottiliens Lieblingsmelodien ein allerliebstes Gedicht untergelegt,
das noch mehr als verbindlich sei.

Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen, was ihnen vorteilhaft und was ihnen nachteilig ist , wollte nun ihr
Glück im Rezitieren versuchen.
Ihr Gedächtnis war gut, aber, wenn man aufrichtig reden sollte, ihr Vortrag geistlos und heftig, ohne leidenschaftlich zu sein.
Sie rezitierte Balladen, Erzählungen und was sonst in Deklamatorien vorzukommen pflegt.
Dabei hatte sie die unglückliche Gewohnheit angenommen, das, was sie vortrug, mit Gesten zu begleiten, wodurch man das, was eigentlich
episch und lyrisch ist, auf eine unangenehme Weise mit dem Dramatischen mehr verwirrt als verbindet.

Der Graf, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft, ihre Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen übersah, brachte
Lucianen glücklicher- oder unglücklicherweise auf eine neue Art von Darstellung, die ihrer Persönlichkeit sehr gemäß war.
»Ich finde«, sagte er, »hier so manche wohlgestaltete Personen, denen es gewiss nicht fehlt, malerische Bewegungen und
Stellungen nachzuahmen.
Sollten sie es noch nicht versucht haben, wirkliche, bekannte Gemälde vorzustellen?
Eine solche Nachbildung, wenn sie auch manche mühsame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor.«

Schnell ward Luciane gewahr, dass sie hier ganz in ihrem Fach sein würde.
Ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr
schlanker Hals, alles war schon wie aufs Gemälde berechnet; und hätte sie nun gar gewusst, dass sie schöner aussah, wenn sie
still stand, als wenn sie sich bewegte, indem ihr im letzten Falle manchmal etwas störendes Ungraziöses entschlüpfte, so
hätte sie sich mit noch mehrerem Eifer dieser natürlichen Bildnerei ergeben.

Man suchte nun Kupferstiche nach berühmten Gemälden, man wählte zuerst den Belisar nach van Dyck.
Ein großer und wohlgebauter Mann von gewissen Jahren sollte den sitzenden blinden General, der Architekt den vor ihm teilnehmend traurig
stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas ähnlich sah.
Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde gewählt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die flache
Hand zählt, indes eine Alte sie abzumahnen und ihr vorzustellen scheint, dass sie zuviel tue.
Eine andre, ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht vergessen.

Mit diesen und andern Bildern beschäftigte man sich sehr ernstlich.
Der Graf gab dem Architekten über die Art der Einrichtung einige Winke, der sogleich ein Theater dazu aufstellte und wegen der Beleuchtung
die nötige Sorge trug. Man war schon tief in die Anstalten verwickelt, als man erst bemerkte, dass ein solches Unternehmen einen
ansehnlichen Aufwand verlangte und dass auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfordernis abging.
Deshalb ließ, damit ja nichts stocken möge, Luciane beinah ihre sämtliche Garderobe zerschneiden, um die verschiedenen Kostüme
zu liefern, die jene Künstler willkürlich genug angegeben haben.

Der Abend kam herbei, und die Darstellung wurde vor einer großen Gesellschaft und zu allgemeinem Beifall ausgeführt.
Eine bedeutende Musik spannte die Erwartung. Jener Belisar eröffnete die Bühne.
Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt, die Beleuchtung so kunstreich, dass man fürwahr in einer andern
Welt zu sein glaubte, nur dass die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.

Der Vorhang fiel und ward auf Verlangen mehr als einmal wieder aufgezogen.
Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die Gesellschaft, die man durch ein Bild höherer Art überraschen wollte.
Es war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasverus und Esther.
Diesmal hatte sich Luciane besser bedacht.
Sie entwickelte in der ohnmächtig hingesunkenen Königin alle ihre Reize und hatte sich klugerweise zu den umgebenden, unterstützenden
Mädchen lauter hübsche, wohlgebildete Figuren ausgesucht, worunter sich jedoch keine mit ihr auch nur im Mindesten messen konnte.
Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den übrigen ausgeschlossen.
Auf den goldnen Thron hatten sie, um den zeusgleichen König vorzustellen, den rüstigsten und schönsten Mann der Gesellschaft gewählt,
sodass dieses Bild wirklich eine unvergleichliche Vollkommenheit gewann.

Als drittes hatte man die sogenannte ›Väterliche Ermahnung‹ von Terborch gewählt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupferstich
unseres Wille von diesem Gemälde! Einen Fuß über den andern geschlagen, sitzt ein edler, ritterlicher Vater und scheint seiner vor
ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden.Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen, weißen Atlaskleide, wird zwar nur von hinten gesehen,
aber ihr ganzes Wesen scheint anzudeuten, dass sie sich zusammennimmt.
Dass jedoch die Ermahnung nicht heftig und beschämend sei, sieht man aus der Miene und Gebärde des Vaters; und was die Mutter betrifft, so
scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein Glas Wein blickt, das sie eben auszuschlürfen im Begriff ist.

Bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze erscheinen.
Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden
Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst
vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodass ganz ohne Frage
diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte.
Man konnte mit dem Wiederverlangen nicht endigen, und der ganz natürliche Wunsch, einem so schönen Wesen, das man genugsam von der Rückseite
gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, nahm dergestalt überhand, dass ein lustiger, ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer
Seite zu schreiben pflegt - ›Tournez s'il vous plait‹ - laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte.
Die Darstellenden aber kannten ihren Vorteil zu gut und hatten den Sinn dieser Kunststücke zu wohl gefasst, als dass sie dem allgemeinen Ruf hätten
nachgeben sollen.
Die beschämt scheinende Tochter blieb ruhig stehen, ohne den Zuschauern den Ausdruck ihres Angesichts zu gönnen; der Vater blieb in seiner
ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich, ob sie gleich zu trinken schien, der
Wein nicht verminderte. - Was sollen wir noch viel von kleinen Nachstücken sagen, wozu man niederländische Wirtshaus- und Jahrmarktsszenen gewählt hatte?

Der Graf und die Baronesse reisten ab und versprachen, in den ersten glücklichen Wochen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und Charlotte hoffte
nunmehr, nach zwei mühsam überstandenen Monaten, die übrige Gesellschaft gleichfalls loszuwerden.
Sie war des Glücks ihrer Tochter gewiss, wenn bei dieser der erste Braut- und Jugendtaumel sich würde gelegt haben; denn der Bräutigam
hielt sich für den glücklichsten Menschen von der Welt.
Bei großem Vermögen und gemäßigter Sinnesart schien er auf eine wunderbare Weise von dem Vorzuge geschmeichelt, ein Frauenzimmer
zu besitzen, das der ganzen Welt gefallen musste.
Er hatte einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie auf sich zu beziehen, dass es ihm eine unangenehme Empfindung machte, wenn
sich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Aufmerksamkeit auf sie richtete und mit ihm, wie es wegen seiner guten Eigenschaften besonders von
älteren Personen oft geschah, eine nähere Verbindung suchte, ohne sich sonderlich um sie zu kümmern.
Wegen des Architekten kam es bald zur Richtigkeit.
Aufs Neujahr sollte ihm dieser folgen und den Karneval mit ihm in der Stadt zubringen, wo Luciane sich von der Wiederholung der so schön eingerichteten
Gemälde sowie von hundert andern Dingen die größte Glückseligkeit versprach, um so mehr, als Tante und Bräutigam jeden Aufwand
für gering zu achten schienen, der zu ihrem Vergnügen erfordert wurde.

Nun sollte man scheiden, aber das konnte nicht auf eine gewöhnliche Weise geschehen.
Man scherzte einmal ziemlich laut, dass Charlottens Wintervorräte nun bald aufgezehrt seien, als der Ehrenmann, der den Belisar vorgestellt hatte
und freilich reich genug war, von Lucianens Vorzügen hingerissen, denen er nun schon so lange huldigte, unbedachtsam ausrief: »So lassen Sie
es uns auf polnische Art halten! Kommen Sie nun und zehren mich auch auf! Und so geht es dann weiter in der Runde herum.«
Gesagt, getan: Luciane schlug ein. Den andern Tag war gepackt, und der Schwarm warf sich auf ein anderes Besitztum.
Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und Einrichtung.
Daraus entstand manches Unschickliche, das erst Lucianen recht glücklich machte.
Das Leben wurde immer wüster und wilder.
Treibjagen im tiefsten Schnee, und was man sonst nur Unbequemes auffinden konnte, wurde veranstaltet.
Frauen so wenig als Männer durften sich ausschließen, und so zog man jagend und reitend, schlittenfahrend und lärmend von einem Gute
zum andern, bis man sich endlich der Residenz näherte; da denn die Nachrichten und Erzählungen, wie man sich bei Hofe und in der Stadt
vergnüge, der Einbildungskraft eine andere Wendung gaben und Lucianen mit ihrer sämtlichen Begleitung, indem die Tante schon vorausgegangen
war, unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis hineinzogen.
Aus Ottiliens Tagebuche
Man nimmt in der Welt jeden, wofür er sich gibt; aber er muss sich auch für etwas geben.
Man erträgt die Unbequemen lieber, als man die Unbedeutenden duldet.
Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat.
Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.
Ich finde es beinahe natürlich, dass wir an Besuchenden mancherlei auszusetzen haben, dass wir sogleich, wenn sie weg sind, über sie
nicht zum Liebevollsten urteilen; denn wir haben sozusagen ein Recht, sie nach unserm Maßstabe zu messen.
Selbst verständige und billige Menschen enthalten sich in solchen Fällen kaum einer scharfen Zensur.
Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen Zuständen
gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich
zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwürdig scheinen müsste.
Durch das, was wir Betragen und gute Sitten nennen, soll das erreicht werden, was außerdem nur durch Gewalt oder auch nicht einmal durch
Gewalt zu erreichen ist.
Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten.
Wie kann der Charakter, die Eigentümlichkeit des Menschen, mit der Lebensart bestehen?
Das Eigentümliche müsste durch die Lebensart erst recht hervorgehoben werden.
Das Bedeutende will jedermann, nur soll es nicht unbequem sein.
Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat.
Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil doch meist hinter der Stärke eine
Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist im Notfall auch mit ihnen auszukommen.
Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Zivilstande.
Von ihm könnte man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem zu beschäftigen hat.
Wenn wir mit Menschen leben, die ein zartes Gefühl für das Schickliche haben, so wird es uns angst um ihretwillen, wenn etwas
Ungeschicktes begegnet.
So fühle ich immer für und mit Charlotten, wenn jemand mit dem Stuhle schaukelt, weil sie das in den Tod nicht leiden kann.
Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wüsste, dass uns Frauen
sogleich die Lust vergeht, ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.
Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer lächerlich.
Es würde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Kompliment gemacht hat, wenn er wüsste, wie komisch das aussieht.
Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte.
Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte.
Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.
Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt.
Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.
Freiwillige Abhängigkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe.
Wir sind nie entfernter von unsern Wünschen, als wenn wir uns einbilden, das Gewünschte zu besitzen.
Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.
Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt.
Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei.
Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.
Es ist was Schreckliches um einen vorzüglichen Mann, auf den sich die Dummen was zugute tun.
Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden.
Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann.
Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen wissen.
Es gibt keinen größern Trost für die Mittelmäßigkeit, als dass das Genie nicht unsterblich sei.
Die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammen.
Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.
Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich.
Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die gefährlichsten.
Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.
Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Not bedürfen wir des Künstlers.
Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten.
Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des Unmöglichen.
Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt.
Säen ist nicht so beschwerlich als ernten.
Sechstes Kapitel

Die große Unruhe, welche Charlotten durch diesen Besuch erwuchs, ward ihr dadurch vergütet, dass sie ihre
Tochter völlig begreifen lernte, worin ihr die Bekanntschaft mit der Welt sehr zu Hilfe kam.
Es war nicht zum ersten Mal, dass ihr ein so seltsamer Charakter begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieser Höhe erschien.
Und doch hatte sie aus der Erfahrung, dass solche Personen, durchs Leben, durch mancherlei Ereignisse, durch elterliche Verhältnisse
gebildet, eine sehr angenehme und liebenswürdige Reife erlangen können, indem die Selbstigkeit gemildert wird und die
schwärmende Tätigkeit eine entschiedene Richtung erhält.
Charlotte ließ als Mutter sich um desto eher eine für andere vielleicht unangenehme Erscheinung gefallen, als es
Eltern wohl geziemt, da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wünschen oder wenigstens nicht belästigt sein wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weise jedoch sollte Charlotte nach ihrer Tochter Abreise getroffen werden,
indem diese nicht sowohl durch das Tadelnswerte in ihrem Betragen als durch das, was man daran lobenswürdig
hätte finden können, eine üble Nachrede hinter sich gelassen hatte.
Luciane schien sich's zum Gesetz gemacht zu haben, nicht allein mit den Fröhlichen fröhlich, sondern
auch mit den Traurigen traurig zu sein und, um den Geist des Widerspruchs recht zu üben, manchmal die
Fröhlichen verdrießlich und die Traurigen heiter zu machen.
In allen Familien, wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den Kranken und Schwachen, die nicht in
Gesellschaft erscheinen konnten. Sie besuchte sie auf ihren Zimmern, machte den Arzt und drang einem jeden aus
ihrer Reiseapotheke, die sie beständig im Wagen mit sich führte, energische Mittel auf; da denn
eine solche Kur, wie sich vermuten lässt, gelang oder misslang, wie es der Zufall herbeiführte.

In dieser Art von Wohltätigkeit war sie ganz grausam und ließ sich gar nicht einreden, weil sie
fest überzeugt war, dass sie vortrefflich handle. Allein es missriet ihr auch ein Versuch von der sittlichen
Seite, und dieser war es, der Charlotten viel zu schaffen machte, weil er Folgen hatte und jedermann darüber sprach.
Erst nach Lucianens Abreise hörte sie davon; Ottilie, die gerade jene Partie mitgemacht hatte, musste ihr
umständlich davon Rechenschaft geben.

Eine der Töchter eines angesehenen Hauses hatte das Unglück gehabt, an dem Tode eines ihrer jüngeren
Geschwister schuld zu sein und sich darüber nicht beruhigen noch wiederfinden können.
Sie lebte auf ihrem Zimmer beschäftigt und still und ertrug selbst den Anblick der Ihrigen nur, wenn sie
einzeln kamen; denn sie argwohnte sogleich, wenn mehrere beisammen waren, dass man untereinander über
sie und ihren Zustand reflektiere. Gegen jedes allein äußerte sie sich vernünftig und
unterhielt sich stundenlang mit ihm.

Luciane hatte davon gehört und sich sogleich im Stillen vorgenommen, wenn sie in das Haus käme, gleichsam
ein Wunder zu tun und das Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben.
Sie betrug sich dabei vorsichtiger als sonst, wusste sich allein bei der Seelenkranken einzuführen und,
soviel man merken konnte, durch Musik ihr Vertrauen zu gewinnen.
Nur zuletzt versah sie es; denn eben weil sie Aufsehn erregen wollte, so brachte sie das schöne,
blasse Kind, das sie genug vorbereitet wähnte, eines Abends plötzlich in die bunte, glänzende
Gesellschaft; und vielleicht wäre auch das noch gelungen, wenn nicht die Sozietät selbst aus Neugierde
und Apprehension sich ungeschickt benommen, sich um die Kranke versammelt, sie wieder gemieden, sie durch
Flüstern, Köpfezusammenstecken irre gemacht und aufgeregt hätte. Die zart Empfindende ertrug das nicht.
Sie entwich unter fürchterlichem Schreien, das gleichsam ein Entsetzen vor einem eindringenden
Ungeheuren auszudrücken schien. Erschreckt fuhr die Gesellschaft nach allen Seiten auseinander, und
Ottilie war unter denen, welche die völlig Ohnmächtige wieder auf ihr Zimmer begleiteten.

Indessen hatte Luciane eine starke Strafrede nach ihrer Weise an die Gesellschaft gehalten, ohne im Mindesten daran zu
denken, dass sie allein alle Schuld habe, und ohne sich durch dieses und andres Misslingen von ihrem Tun und Treiben abhalten zu lassen.

Der Zustand der Kranken war seit jener Zeit bedenklicher geworden, ja das Übel hatte sich so gesteigert, dass
die Eltern das arme Kind nicht im Hause behalten konnten, sondern einer öffentlichen Anstalt überantworten mussten.
Charlotten blieb nichts übrig, als durch ein besonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter
verursachten Schmerz einigermaßen zu lindern. Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; sie
bedauerte das arme Mädchen um so mehr, als sie überzeugt war, wie sie auch gegen Charlotten nicht leugnete,
dass bei einer konsequenten Behandlung die Kranke gewiss herzustellen gewesen wäre.

So kam auch, weil man sich gewöhnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr als vom Angenehmen unterhält,
ein kleines Missverständnis zur Sprache, das Ottilien an dem Architekten irre gemacht hatte, als er jenen Abend
seine Sammlung nicht vorzeigen wollte, ob sie ihn gleich so freundlich darum ersuchte. Es war ihr dieses abschlägige
Betragen immer in der Seele geblieben, und sie wusste selbst nicht warum. Ihre Empfindungen waren sehr richtig; denn was
ein Mädchen wie Ottilie verlangen kann, sollte ein Jüngling wie der Architekt nicht versagen.
Dieser brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leisen Vorwürfe ziemlich gültige Entschuldigungen zur Sprache.

»Wenn Sie wüssten«, sagte er, »wie roh selbst gebildete Menschen sich gegen die schätzbarsten
Kunstwerke verhalten, Sie würden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag.
Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufassen; sie betasten das schönste Gepräge, den reinsten Grund,
lassen die köstlichsten Stücke zwischen dem Daumen und Zeigefinger hin und her gehen, als wenn man Kunstformen
auf diese Weise prüfte. Ohne daran zu denken, dass man ein großes Blatt mit zwei Händen anfassen müsse,
greifen sie mit einer Hand nach einem unschätzbaren Kupferstich, einer unersetzlichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher
Politiker eine Zeitung fasst und durch das Zerknittern des Papiers schon im Voraus sein Urteil über die Weltbegebenheiten
zu erkennen gibt. Niemand denkt daran, dass, wenn nur zwanzig Menschen mit einem Kunstwerke hintereinander ebenso
verführen, der einundzwanzigste nicht mehr viel daran zu sehen hätte.«

»Habe ich Sie nicht auch manchmal«, fragte Ottilie, »in solche Verlegenheit gesetzt?
Habe ich nicht etwan Ihre Schätze, ohne es zu ahnen, gelegentlich einmal beschädigt?«

»Niemals«, versetzte der Architekt, »niemals!
Ihnen wäre es unmöglich; das Schickliche ist mit Ihnen geboren.«

»Auf alle Fälle«, versetzte Ottilie, »wäre es nicht übel, wenn man künftig in das
Büchlein von guten Sitten nach den Kapiteln, wie man sich in Gesellschaft beim Essen und Trinken benehmen soll, ein
recht umständliches einschöbe, wie man sich in Kunstsammlungen und Museen zu betragen habe.«

»Gewiss«, versetzte der Architekt, »würden alsdann Kustoden und Liebhaber ihre Seltenheiten
fröhlicher mitteilen«.

Ottilie hatte ihm schon lange verziehen; als er sich aber den Vorwurf sehr zu Herzen zu nehmen schien und immer aufs Neue
beteuerte, dass er gewiss gerne mitteile, gern für Freunde tätig sei, so empfand sie, dass sie sein zartes
Gemüt verletzt habe, und fühlte sich als seine Schuldnerin. Nicht wohl konnte sie ihm daher eine Bitte rund
abschlagen, die er in Gefolg dieses Gesprächs an sie tat, ob sie gleich, indem sie schnell ihr Gefühl zu
Rate zog, nicht einsah, wie sie ihm seine Wünsche gewähren könne.

Die Sache verhielt sich also.
Dass Ottilie durch Lucianens Eifersucht von den Gemäldedarstellungen ausgeschlossen worden, war ihm höchst
empfindlich gewesen; dass Charlotte diesem glänzenden Teil der geselligen Unterhaltung nur unterbrochen beiwohnen
können, weil sie sich nicht wohl befand, hatte er gleichfalls mit Bedauern bemerkt.
Nun wollte er sich nicht entfernen, ohne seine Dankbarkeit auch dadurch zu beweisen, dass er zur Ehre der einen und
zur Unterhaltung der andern eine weit schönere Darstellung veranstaltete, als die bisherigen gewesen waren.
Vielleicht kam hierzu, ihm selbst unbewusst, ein andrer geheimer Antrieb: es ward ihm so schwer, dieses Haus, diese
Familie zu verlassen, ja es schien ihm unmöglich, von Ottiliens Augen zu scheiden, von deren ruhig freundlich
gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast ganz allein gelebt hatte.

Die Weihnachtsfeiertage nahten sich, und es wurde ihm auf einmal klar, dass eigentlich jene Gemäldedarstellungen
durch runde Figuren von dem sogenannten Präsepe ausgegangen, von der frommen Vorstellung, die man in dieser
heiligen Zeit der göttlichen Mutter und dem Kinde widmete, wie sie in ihrer scheinbaren Niedrigkeit erst von
Hirten, bald darauf von Königen verehrt werden.

Er hatte sich die Möglichkeit eines solchen Bildes vollkommen vergegenwärtigt.
Ein schöner, frischer Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber ohne
Ottilien war die Sache nicht auszuführen.
Der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben, und wenn sie es abschlug, so war bei
ihm keine Frage, dass das Unternehmen fallen müsse.
Ottilie, halb verlegen über seinen Antrag, wies ihn mit seiner Bitte an Charlotten.
Diese erteilte ihm gern die Erlaubnis, und auch durch sie ward die Scheu Ottiliens, sich jener heiligen Gestalt
anzumaßen, auf eine freundliche Weise überwunden.
Der Architekt arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts fehlen möge.

Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne.
Er hatte ohnehin wenig Bedürfnisse, und Ottiliens Gegenwart schien ihm statt alles Labsals zu sein; indem er um
ihretwillen arbeitete, war es, als wenn er keines Schlafs, indem er sich um sie beschäftigte, keiner Speise bedürfte.
Zur feierlichen Abendstunde war deshalb alles fertig und bereit. Es war ihm möglich gewesen, wohltönende Blasinstrumente
zu versammeln, welche die Einleitung machten und die gewünschte Stimmung hervorzubringen wussten. Als der Vorhang sich hob,
war Charlotte wirklich überrascht. Das Bild, das sich ihr vorstellte, war so oft in der Welt wiederholt, dass man kaum
einen neuen Eindruck davon erwarten sollte. Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre besonderen Vorzüge.
Der ganze Raum war eher nächtlich als dämmernd und doch nichts undeutlich im Einzelnen der Umgebung.
Den unübertrefflichen Gedanken, dass alles Licht vom Kinde ausgeht, hatte der Künstler durch einen klugen
Mechanismus der Beleuchtung auszuführen gewusst, der durch die beschatteten, nur von Streiflichtern erleuchteten
Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde. Frohe Mädchen und Knaben standen umher, die frischen Gesichter scharf von unten beleuchtet.
Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem göttlichen verdunkelt, deren ätherischer Leib
vor dem göttlich-menschlichen verdichtet und lichtsbedürftig schien.

Glücklicherweise war das Kind in der anmutigsten Stellung eingeschlafen, sodass nichts die Betrachtung störte,
wenn der Blick auf der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmut einen Schleier aufgehoben hatte, um den
verborgenen Schatz zu offenbaren. In diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu sein.
Physisch geblendet, geistig überrascht, schien das umgebende Volk sich eben bewegt zu haben, um die getroffenen
Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust als Bewunderung und Verehrung
anzuzeigen, obgleich diese auch nicht vergessen und einigen ältern Figuren der Ausdruck derselben übertragen war.

Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je ein Maler dargestellt hat.
Der gefühlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen hätte, wäre in Furcht geraten, es möge sich
nur irgend etwas bewegen; er wäre in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne.
Unglücklicherweise war niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen vermocht hätte.
Der Architekt allein, der als langer, schlanker Hirt von der Seite über die Knieenden hereinsah, hatte,
obgleich nicht in dem genauesten Standpunkt, noch den größten Genuss.
Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin?
Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheidenheit bei einer großen, unverdient
erhaltenden Ehre, einem unbegreiflich unermesslichen Glück bildete sich in ihren Zügen, sowohl indem
sich ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung ausdrückte, die sie sich von dem machen konnte,
was sie spielte.

Charlotten erfreute das schöne Gebilde, doch wirkte hauptsächlich das Kind auf sie.
Ihre Augen strömten von Tränen, und sie stellte sich auf das Lebhafteste vor, dass sie ein ähnliches
liebes Geschöpf bald auf ihrem Schoße zu hoffen habe.

Man hatte den Vorhang niedergelassen, teils um den Vorstellenden einige Erleichterung zu geben, teils eine
Veränderung in dem Dargestellten anzubringen. Der Künstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht- und
Niedrigkeitsbild in ein Tag- und Glorienbild zu verwandeln, und deswegen von allen Seiten eine unmäßige
Erleuchtung vorbereitet, die in der Zwischenzeit angezündet wurde.

Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die größte Beruhigung gewesen, dass außer
Charlotten und wenigen Hausgenossen niemand dieser frommen Kunstmummerei zugesehen. Sie wurde daher einigermaßen
betroffen, als sie in der Zwischenzeit vernahm, es sei ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich
begrüßt. Wer es war, konnte man ihr nicht sagen. Sie ergab sich darein, um keine Störung zu verursachen.
Lichter und Lampen brannten, und eine ganz unendliche Hellung umgab sie. Der Vorhang ging auf, für die
Zuschauenden ein überraschender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und statt des völlig aufgehobenen
Schattens blieben nur die Farben übrig, die bei der klugen Auswahl eine liebliche Mäßigung hervorbrachten.
Unter ihren langen Augenwimpern hervorblickend, bemerkte Ottilie eine Mannsperson neben Charlotten sitzend. Sie erkannte
ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehilfen aus der Pension zu hören. Eine wunderbare Empfindung ergriff sie.
Wie vieles war begegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers nicht vernommen! Wie im zackigen Blitz fuhr die
Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell vor ihrer Seele vorbei und regte die Frage auf: Darfst du ihm alles bekennen
und gestehen? Und wie wenig wert bist du, unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu erscheinen, und wie seltsam muss
es ihm vorkommen, dich, die er nur natürlich gesehen, als Maske zu erblicken? Mit einer Schnelligkeit, die
keinesgleichen hat, wirkten Gefühl und Betrachtung in ihr gegeneinander. Ihr Herz war befangen, ihre Augen
füllten sich mit Tränen, indem sie sich zwang, immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh
war sie, als der Knabe sich zu regen anfing und der Künstler sich genötiget sah, das Zeichen zu geben,
dass der Vorhang wieder fallen sollte!

Hatte das peinliche Gefühl, einem werten Freunde nicht entgegeneilen zu können, sich schon die
letzten Augenblicke zu den übrigen Empfindungen Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch größerer
Verlegenheit. Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn? Sollte sie sich umkleiden? Sie
wählte nicht, sie tat das Letzte und suchte sich in der Zwischenzeit zusammenzunehmen, sich zu beruhigen, und war
nur erst wieder mit sich selbst in Einstimmung, als sie endlich im gewohnten Kleide den Angekommenen begrüßte.
Siebentes Kapitel

Insofern der Architekt seinen Gönnerinnen das Beste wünschte, war es ihm angenehm, da er doch endlich scheiden
musste, sie in der guten Gesellschaft des schätzbaren Gehilfen zu wissen; indem er jedoch ihre Gunst auf sich selbst
bezog, empfand er es einigermaßen schmerzhaft, sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit dünken mochte,
so gut, ja vollkommen ersetzt zu sehen. Er hatte noch immer gezaudert, nun aber drängte es ihn hinweg; denn was er
sich nach seiner Entfernung musste gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwärtig nicht erleben.

Zu großer Erheiterung dieser halb traurigen Gefühle machten ihm die Damen beim Abschiede noch ein Geschenk
mit einer Weste, an der er sie beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid über den unbekannten
Glücklichen, dem sie dereinst werden könnte. Eine solcher Gabe ist die angenehmste, die ein liebender,
verehrender Mann erhalten mag; denn wenn er dabei des unermüdeten Spiels der schönen Finger gedenkt,
so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln, das Herz werde bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz
ohne Teilnahme geblieben sein.

Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirten, dem sie wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte.
Das weibliche Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtrünnig
macht; im äußern, geselligen Verhältnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann bestimmen,
der sie eben beschäftigt; und so durch Abweisen wie durch Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit
führen sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.

Hatte der Architekt, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine Talente vor den Freundinnen zum Vergnügen
und zu den Zwecken derselben geübt und bewiesen, war Beschäftigung und Unterhaltung in diesem Sinne und
nach solchen Absichten eingerichtet, so machte sich in kurzer Zeit durch die Gegenwart des Gehilfen eine andere
Lebensweise. Seine große Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhältnisse, besonders in Bezug auf
Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln. Und so entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich
fühlbarer Gegensatz, um so mehr, als der Gehilfe nicht ganz dasjenige billigte, womit man sich die Zeit über
ausschließlich beschäftigt hatte.

Von dem lebendigen Gemälde, das ihn bei seiner Ankunft empfing, sprach er gar nicht. Als man ihm hingegen Kirche,
Kapelle und was sich darauf bezog, mit Zufriedenheit sehen ließ, konnte er seine Meinung, seine Gesinnungen darüber
nicht zurückhalten. »Was mich betrifft«, sagte er, »so will mir diese Annäherung, diese
Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, dass man sich gewisse besondere
Räume widmet, weihet und aufschmückt, um erst dabei ein Gefühl der Frömmigkeit zu hegen und zu unterhalten.
Keine Umgebung, selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefühl des Göttlichen stören, das uns überall hin
begleiten und jede Stätte zu einem Tempel einweihen kann. Ich mag gern einen Hausgottesdienst in dem Saale gehalten sehen,
wo man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit Spiel und Tanz zu ergötzen pflegt. Das Höchste, das Vorzüglichste
am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten.«

Charlotte, die seine Gesinnungen schon im Ganzen kannte und sie noch mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem
Fache zur Tätigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architekt vor seiner Abreise eben gemustert hatte, in dem großen
Saal aufmarschieren ließ, da sie sich denn in ihren heitern, reinlichen Uniformen, mit gesetzlichen Bewegungen und einem natürlichen,
lebhaften Wesen sehr gut ausnahmen. Der Gehilfe prüfte sie nach seiner Weise und hatte durch mancherlei Fragen und Wendungen gar
bald die Gemütsarten und Fähigkeiten der Kinder zutage gebracht und, ohne dass es so schien, in Zeit von weniger als einer
Stunde sie wirklich bedeutend unterrichtet und gefördert.

»Wie machen Sie das nur?«, sagte Charlotte, indem die Knaben wegzogen. »Ich habe sehr aufmerksam zugehört;
es sind nichts als ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch wüsste ich nicht, wie ich es anfangen sollte, sie in so
kurzer Zeit, bei so vielem Hin- und Widerreden, in solcher Folge zur Sprache zu bringen.«

»Vielleicht sollte man«, versetzte der Gehilfe, »aus den Vorteilen seines Handwerks ein Geheimnis machen.
Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieses und noch viel mehr zu leisten vermag.
Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht fest; machen Sie sich
ihn in allen seinen Teilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht sein, gesprächsweise an einer Masse Kinder zu
erfahren, was sich davon schon in ihnen entwickelt hat, was noch anzuregen, zu überliefern ist.
Die Antworten auf Ihre Fragen mögen noch so ungehörig sein, mögen noch so sehr ins Weite gehen, wenn nur
sodann Ihre Gegenfrage Geist und Sinn wieder hereinwärts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem Standpunkte verrücken
lassen, so müssen die Kinder zuletzt denken, begreifen, sich überzeugen, nur von dem, was und wie es der Lehrende will.
Sein größter Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit in die Weite reißen läßt,
wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten weiß, den er eben jetzt behandelt.
Machen Sie nächstens einen Versuch, und es wird zu Ihrer großen Unterhaltung dienen.«

»Das ist artig«, sagte Charlotte; »die gute Pädagogik ist also gerade das Umgekehrte von der guten Lebensart.
In der Gesellschaft soll man auf nichts verweilen, und bei dem Unterricht wäre das höchste Gebot, gegen alle Zerstreuung
zu arbeiten.«

»Abwechselung ohne Zerstreuung wäre für Lehre und Leben der schönste Wahlspruch, wenn dieses löbliche
Gleichgewicht nur so leicht zu erhalten wäre!«, sagte der Gehilfe und wollte weiter fortfahren, als ihn Charlotte
aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug sich soeben über den Hof bewegte.
Er bezeigte seine Zufriedenheit, dass man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte.
»Männer«, so sagte er, »sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewöhnen müssen,
zusammen zu handeln, sich unter ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten.
Auch befördert jede Art von Uniform einen militärischen Sinn sowie ein knapperes, strackeres Betragen, und alle
Knaben sind ja ohnehin geborne Soldaten; man sehe nur ihre Kampf- und Streitspiele, ihr Erstürmen und Erklettern.«

»So werden Sie mich dagegen nicht tadeln«, versetzte Ottilie, »daß ich meine Mädchen nicht
überein kleide. Wenn ich sie Ihnen vorführe, hoffe ich Sie durch ein buntes Gemisch zu ergötzen.«

»Ich billige das sehr«, versetzte jener.
»Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach eigner Art und Weise, damit eine jede fühlen lernte,
was ihr eigentlich gut stehe und wohl zieme.
Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln.«

»Das scheint mir sehr paradox«, versetzte Charlotte; »sind wir doch fast niemals für uns.«

»O ja!«, versetzte der Gehilfe, »in Absicht auf andere Frauen ganz gewiss.
Man betrachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter, immer steht sie isoliert, immer ist sie
allein und will allein sein. Ja die Eitle selbst ist in dem Falle. Jede Frau schließt die andre aus, ihrer Natur nach;
denn von jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt.
Nicht so verhält es sich mit den Männern. Der Mann verlangt den Mann; er würde sich einen zweiten erschaffen,
wenn es keinen gäbe; eine Frau könnte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihresgleichen hervorzubringen.«

»Man darf«, sagte Charlotte, »das Wahre nur wunderlich sagen, so scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr.
Wir wollen uns aus Ihren Bemerkungen das Beste herausnehmen und doch als Frauen mit Frauen zusammenhalten und auch gemeinsam wirken,
um den Männern nicht allzu große Vorzüge über uns einzuräumen. Ja, Sie werden uns eine kleine
Schadenfreude nicht übel nehmen, die wir künftig um desto lebhafter empfinden müssen, wenn sich die Herren
untereinander auch nicht sonderlich vertragen.«

Mit vieler Sorgfalt untersuchte der verständige Mann nunmehr die Art, wie Ottilie ihre kleinen Zöglinge behandelte,
und bezeigte darüber seinen entschiedenen Beifall.
»Sehr richtig heben Sie«, sagte er, »Ihre Untergebenen nur zur nächsten Brauchbarkeit heran.
Reinlichkeit veranlasst die Kinder, mit Freuden etwas auf sich selbst zu halten, und alles ist gewonnen, wenn sie das,
was sie tun, mit Munterkeit und Selbstgefühl zu leisten angeregt sind.«

Übrigens fand er zu seiner großen Befriedigung nichts auf den Schein und nach außen getan, sondern alles
nach innen und für die unerlässlichen Bedürfnisse.
»Mit wie wenig Worten«, rief er aus, »ließe sich das ganze Erziehungsgeschäft aussprechen,
wenn jemand Ohren hätte zu hören!«

»Mögen Sie es nicht mit mir versuchen?«, fragte freundlich Ottilie.

»Recht gern«, versetzte jener; »nur müssen Sie mich nicht verraten.
Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird es überall wohl stehn.«

»Zu Müttern«, versetzte Ottilie, »das könnten die Frauen noch hingehen lassen, da sie sich,
ohne Mütter zu sein, doch immer einrichten müssen, Wärterinnen zu werden; aber freilich zu Dienern würden
sich unsre jungen Männer viel zu gut halten, da man jedem leicht ansehen kann, dass er sich zum Gebieten fähiger dünkt.«

»Deswegen wollen wir es ihnen verschweigen«, sagte der Gehilfe.
»Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns nicht.
Wieviel Menschen mögen denn das freiwillig zugestehen, was sie am Ende doch müssen?
Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier nicht berühren!

Ich preise Sie glücklich, dass Sie bei Ihren Zöglingen ein richtiges Verfahren anwenden können.
Wenn Ihre kleinsten Mädchen sich mit Puppen herumtragen und einige Läppchen für sie zusammenflicken,
wenn ältere Geschwister alsdann für die jüngern sorgen und das Haus sich in sich selbst bedient und aufhilft:
dann ist der weitere Schritt ins Leben nicht groß, und ein solches Mädchen findet bei ihrem Gatten, was sie bei
ihren Eltern verließ.

Aber in den gebildeten Ständen ist die Aufgabe sehr verwickelt.
Wir haben auf höhere, zartere, feinere, besonders auf gesellschaftliche Verhältnisse Rücksicht zu nehmen.
Wir andern sollen daher unsre Zöglinge nach außen bilden; es ist notwendig, es ist unerlässlich und
möchte recht gut sein, wenn man dabei nicht das Maß überschritte; denn indem man die Kinder für
einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn
eigentlich die innere Natur fordert. Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern gelöst oder
verfehlt wird.

Bei Manchem, womit wir unsere Schülerinnen in der Pension ausstatten, wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von
wie geringem Gebrauch es künftig sein werde. Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit
überantwortet, sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Hausfrau, der Mutter befindet!

Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich einmal diesem Geschäft gewidmet habe, dass es
mir dereinst in Gesellschaft einer treuen Gehilfin gelingen möge, an meinen Zöglingen dasjenige rein auszubilden,
was sie bedürfen, wenn sie in das Feld eigener Tätigkeit und Selbständigkeit hinüberschreiten; dass
ich mir sagen könnte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet.
Freilich schließt sich eine andere immer wieder an, die beinahe mit jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns
selbst, doch von den Umständen veranlasst wird.«

Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung!
Was hatte nicht eine ungeahnte Leidenschaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen! Was sah sie nicht alles für
Prüfungen vor sich schweben, wenn sie nur aufs Nächste, aufs Nächstkünftige hinblickte!

Der junge Mann hatte nicht ohne Vorbedacht einer Gehilfin, einer Gattin erwähnt; denn bei aller seiner Bescheidenheit
konnte er nicht unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja er war durch mancherlei Umstände
und Vorfälle aufgeregt worden, bei diesem Besuch einige Schritte seinem Ziele näher zu tun.

Die Vorsteherin der Pension war bereits in Jahren; sie hatte sich unter ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schon
lange nach einer Person umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft träte, und zuletzt dem Gehilfen, dem sie
zu vertrauen höchlich Ursache hatte, den Antrag getan, er solle mit ihr die Lehranstalt fortführen, darin als
in dem Seinigen mitwirken und nach ihrem Tode als Erbe und einziger Besitzer eintreten. Die Hauptsache schien hiebei, dass
er eine einstimmende Gattin finden müsse. Er hatte im Stillen Ottilien vor Augen und im Herzen; allein es regten
sich mancherlei Zweifel, die wieder durch günstige Ereignisse einiges Gegengewicht erhielten. Luciane hatte die
Pension verlassen, Ottilie konnte freier zurückkehren; von dem Verhältnisse zu Eduard hatte zwar etwas verlautet,
allein man nahm die Sache, wie ähnliche Vorfälle mehr, gleichgültig auf, und selbst dieses Ereignis konnte
zu Ottiliens Rückkehr beitragen. Doch wäre man zu keinem Entschluss gekommen, kein Schritt wäre geschehen,
hätte nicht ein unvermuteter Besuch auch hier eine besondere Anregung gegeben, wie denn die Erscheinung von bedeutenden
Menschen in irgendeinem Kreise niemals ohne Folgen bleiben kann.

Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, über den Wert verschiedener Pensionen befragt zu werden,
weil fast jedermann um die Erziehung seiner Kinder verlegen ist, hatten sich vorgenommen, diese besonders kennen zu lernen,
von der soviel Gutes gesagt wurde, und konnten nunmehr in ihren neuen Verhältnissen zusammen eine solche Untersuchung anstellen.
Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas anderes. Während ihres letzten Aufenthalts bei Charlotten hatte sie mit
dieser alles umständlich durchgesprochen, was sich auf Eduarden und Ottilien bezog.
Sie bestand aber- und abermals darauf: Ottilie müsse entfernt werden.
Sie suchte Charlotten hiezu Mut einzusprechen, welche sich vor Eduards Drohungen noch immer fürchtete.
Man sprach über die verschiedenen Auswege, und bei Gelegenheit der Pension war auch von der Neigung des Gehilfen die
Rede, und die Baronesse entschloss sich um so mehr zu dem gedachten Besuch.

Sie kommt an, lernt den Gehilfen kennen, man beobachtet die Anstalt und spricht von Ottilien. Der Graf selbst unterhält
sich gern über sie, indem er sie bei dem neulichen Besuch genauer kennen gelernt. Sie hatte sich ihm genähert, ja sie
ward von ihm angezogen, weil sie durch sein gehaltvolles Gespräch dasjenige zu sehen und zu kennen glaubte, was ihr
bisher ganz unbekannt geblieben war. Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, so schien ihr in der
Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wünschenswert zu sein. Jede Anziehung ist wechselseitig.
Der Graf empfand eine Neigung für Ottilien, dass er sie gern als seine Tochter betrachtete.
Auch hier war sie der Baronesse zum zweiten Mal und mehr als das erste Mal im Wege. Wer weiß, was diese in Zeiten
lebhafterer Leidenschaft gegen sie angestiftet hätte! Jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen
unschädlicher zu machen.

Sie regte daher den Gehilfen auf eine leise, doch wirksame Art klüglich an, dass er sich zu einer kleinen Exkursion
auf das Schloss einrichten und seinen Planen und Wünschen, von denen er der Dame kein Geheimnis gemacht, sich
ungesäumt nähern solle.

Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise an und hegte in seinem Gemüte die besten Hoffnungen.
Er weiß, Ottilie ist ihm nicht ungünstig; und wenn zwischen ihnen einiges Missverständnis des Standes war,
so glich sich dieses gar leicht durch die Denkart der Zeit aus. Auch hatte die Baronesse ihn wohl fühlen lassen, dass
Ottilie immer ein armes Mädchen bleibe. Mit einem reichen Hause verwandt zu sein, hieß es, kann niemandem helfen;
denn man würde sich selbst bei dem größten Vermögen ein Gewissen daraus machen, denjenigen eine ansehnliche
Summe zu entziehen, die dem näheren Grade nach ein vollkommeneres Recht auf ein Besitztum zu haben scheinen.
Und gewiss bleibt es wunderbar, dass der Mensch das große Vorrecht, nach seinem Tode noch über seine Habe zu
disponieren, sehr selten zugunsten seiner Lieblinge gebraucht und, wie es scheint, aus Achtung für das Herkommen nur
diejenigen begünstigt, die nach ihm sein Vermögen besitzen würden, wenn er auch selbst keinen Willen hätte.

Sein Gefühl setzte ihn auf der Reise Ottilien völlig gleich. Eine gute Aufnahme erhöhte seine Hoffnungen.
Zwar fand er gegen sich Ottilien nicht ganz so offen wie sonst; aber sie war auch erwachsener, gebildeter und, wenn man will,
im Allgemeinen mitteilender, als er sie gekannt hatte. Vertraulich ließ man ihn in manches Einsicht nehmen, was sich
besonders auf sein Fach bezog. Doch wenn er seinem Zwecke sich nähern wollte, so hielt ihn immer eine gewisse innere
Scheu zurück.

Einst gab ihm jedoch Charlotte hiezu Gelegenheit, indem sie in Beisein Ottiliens zu ihm sagte: »Nun, Sie haben alles,
was in meinem Kreise heranwächst, so ziemlich geprüft; wie finden Sie denn Ottilien?
Sie dürfen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen.«

Der Gehilfe bezeichnete hierauf mit sehr viel Einsicht und ruhigem Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freieren
Betragens, einer bequemeren Mitteilung, eines höheren Blicks in die weltlichen Dinge, der sich mehr in ihren Handlungen
als in ihren Worten betätige, sehr zu ihrem Vorteil verändert finde, dass er aber doch glaube, es könne ihr
sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension zurückkehre, um das in einer gewissen Folge
gründlich und für immer sich zuzueignen, was die Welt nur stückweise und eher zur Verwirrung als zur
Befriedigung, ja manchmal nur allzu spät überliefere. Er wolle darüber nicht weitläufig sein; Ottilie
wisse selbst am besten, aus was für zusammenhängenden Lehrvorträgen sie damals herausgerissen worden.

Ottilie konnte das nicht leugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was sie bei diesen Worten empfand, weil sie sich es
kaum selbst auszulegen wusste.
Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff
nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zusammenhängen könne.

Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit.
Sie sagte, dass sowohl sie als Ottilie eine Rückkehr nach der Pension längst gewünscht hätten.
In dieser Zeit nur sei ihr die Gegenwart einer so lieben Freundin und Helferin unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in
der Folge nicht hinderlich sein, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe, wieder auf so lange dorthin zurückzukehren,
bis sie das Angefangene geendet und das Unterbrochene sich vollständig zugeeignet.

Der Gehilfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie durfte nichts dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedanken
schauderte. Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte, Eduard sollte sich erst als glücklicher Vater
wiederfinden und einfinden, dann, war sie überzeugt, würde sich alles geben und auch für Ottilien auf
eine oder die andere Weise gesorgt werden.

Nach einem bedeutenden Gespräch, über welches alle Teilnehmenden nachzudenken haben, pflegt ein
gewisser Stillstand einzutreten, der einer allgemeinen Verlegenheit ähnlich sieht.
Man ging im Saale auf und ab, der Gehilfe blätterte in einigen Büchern und kam endlich an den Folioband,
der noch von Lucianens Zeiten her liegen geblieben war. Als er sah, dass darin nur Affen enthalten waren, schlug er
ihn gleich wieder zu. Dieser Vorfall mag jedoch zu einem Gespräch Anlass gegeben haben, wovon wir die Spuren in
Ottiliens Tagebuch finden.
Aus Ottiliens Tagebuche
Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig abzubilden!
Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem
Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.
Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit Karikaturen und Zerrbildern abzugeben.
Unserm guten Gehilfen danke ich's, dass ich nicht mit der Naturgeschichte gequält worden bin; ich konnte mich
mit den Würmern und Käfern niemals befreunden.
Diesmal gestand er mir, dass es ihm ebenso gehe.
»Von der Natur«, sagte er, »sollten wir nichts kennen, als was uns unmittelbar lebendig umgibt.
Mit den Bäumen, die um uns blühen, grünen, Frucht tragen, mit jeder Staude, an der wir vorbeigehen,
mit jedem Grashalm, über den wir hinwandeln, haben wir ein wahres Verhältnis; sie sind unsre echten Kompatrioten.
Die Vögel, die auf unsern Zweigen hin und wider hüpfen, die in unserm Laube singen, gehören uns an,
sie sprechen zu uns von Jugend auf, und wir lernen ihre Sprache verstehen.
Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschöpf einen gewissen ängstlichen
Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird.
Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben dazu, um Affen, Papageien und Mohren um sich zu
ertragen.«
Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden
beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltäglicher Verbindung sieht.
Aber auch er wird ein anderer Mensch.
Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo
Elefanten und Tiger zu Hause sind.
Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller
Nachbarschaft jedes Mal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß.
Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!
Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische Grabstätte, wo die verschiedenen Tier- und
Pflanzengötzen balsamiert umherstehen.
Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnisvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen
Unterricht sollte dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als etwas Näheres und Würdigeres
sich dadurch leicht verdrängt sieht.
Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet
mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert;
denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies wissen können, dass das Menschengebild am Vorzüglichsten
und Einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.
Dem Einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was
ihm nützlich deucht; aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.
Achtes Kapitel

Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Nächstvergangenen zu beschäftigen wissen. Entweder das Gegenwärtige hält
uns mit Gewalt an sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das völlig Verlorene, wie es nur möglich
sein will, wieder hervorzurufen und herzustellen. Selbst in großen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles schuldig sind,
pflegt es so zu gehen, dass man des Großvaters mehr als des Vaters gedenkt.

Zu solchen Betrachtungen ward unser Gehilfe aufgefordert, als er an einem der schönen Tage, an welchen der
scheidende Winter den Frühling zu lügen pflegt, durch den großen, alten Schlossgarten gegangen war
und die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen, die sich von Eduards Vater herschrieben, bewundert hatte.
Sie waren vortrefflich gediehen in dem Sinne desjenigen, der sie pflanzte, und nun, da sie erst anerkannt und genossen
werden sollten, sprach niemand mehr von ihnen; man besuchte sie kaum und hatte Liebhaberei und Aufwand gegen eine andere
Seite hin ins Freie und Weite gerichtet.

Er machte bei seiner Rückkehr Charlotten die Bemerkung, die sie nicht ungünstig aufnahm.
»Indem uns das Leben fortzieht«, versetzte sie, »glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre
Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur
die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind«.

»Gewiss«, sagte der Gehilfe; »und wer widersteht dem Strome seiner Umgebungen?
Die Zeit rückt fort und in ihr Gesinnungen, Meinungen, Vorurteile und Liebhabereien.
Fällt die Jugend eines Sohnes gerade in die Zeit der Umwendung, so kann man versichert sein, dass er
mit seinem Vater nichts gemein haben wird.
Wenn dieser in einer Periode lebte, wo man Lust hatte, sich manches zuzueignen, dieses Eigentum zu sichern,
zu beschränken, einzuengen und in der Absonderung von der Welt seinen Genuss zu befestigen, so wird
jener sodann sich auszudehnen suchen, mitteilen, verbreiten und das Verschlossene eröffnen.«

»Ganze Zeiträume«, versetzte Charlotte, »gleichen diesem Vater und Sohn, den Sie schildern.
Von jenen Zuständen, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Gräben haben musste, da man jeden Edelhof noch
in einen Sumpf baute und die geringsten Schlösser nur durch eine Zugbrücke zugänglich waren, davon
können wir uns kaum einen Begriff machen.
Sogar größere Städte tragen jetzt ihre Wälle ab, die Gräben selbst fürstlicher
Schlösser werden ausgefüllt, die Städte bilden nur große Flecken, und wenn man so auf Reisen
das ansieht, sollte man glauben, der allgemeine Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der Tür.
Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien Lande ähnlich sieht; an Kunst, an Zwang
soll nichts erinnern; wir wollen völlig frei und unbedingt Atem schöpfen.
Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, dass man aus diesem in einen andern, in den vorigen Zustand
zurückkehren könne?«

»Warum nicht?«, versetzte der Gehilfe; »jeder Zustand hat seine Beschwerlichkeit, der
beschränkte sowohl als der losgebundene.
Der letztere setzt Überfluss voraus und führt zur Verschwendung.
Lassen Sie uns bei Ihrem Beispiel bleiben, das auffallend genug ist.
Sobald der Mangel eintritt, sogleich ist die Selbstbeschränkung wiedergegeben.
Menschen, die ihren Grund und Boden zu nutzen genötigt sind, führen schon wieder Mauern um
ihre Gärten auf, damit sie ihrer Erzeugnisse sicher seien. Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der Dinge.
Das Nützliche erhält wieder die Oberhand, und selbst der Vielbesitzende meint zuletzt
auch das alles nutzen zu müssen. Glauben Sie mir: es ist möglich, dass Ihr Sohn die sämtlichen
Parkanlagen vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden
seines Großvaters zurückzieht.«

Charlotte war im Stillen erfreut, sich einen Sohn verkündigt zu hören, und verzieh dem Gehilfen deshalb die
etwas unfreundliche Prophezeiung, wie es dereinst ihrem lieben, schönen Park ergehen könne.
Sie versetzte deshalb ganz freundlich: »Wir sind beide noch nicht alt genug, um dergleichen Widersprüche
mehrmals erlebt zu haben; allein wenn man sich in seine frühe Jugend zurückdenkt, sich erinnert,
worüber man von älteren Personen klagen gehört, Länder und Städte mit in die Betrachtung
aufnimmt, so möchte wohl gegen die Bemerkung nichts einzuwenden sein.
Sollte man denn aber einem solchen Naturgang nichts entgegensetzen, sollte man Vater und Sohn, Eltern und Kinder
nicht in Übereinstimmung bringen können?
Sie haben mir freundlich einen Knaben geweissagt; müsste denn der gerade mit seinem Vater im Widerspruch stehen?
Zerstören, was seine Eltern erbaut haben, anstatt es zu vollenden und zu erheben, wenn er in demselben
Sinne fortfährt?«

»Dazu gibt es auch wohl ein vernünftiges Mittel«, versetzte der Gehilfe, »das aber von
den Menschen selten angewandt wird.
Der Vater erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen, -pflanzen und erlaube ihm, wie sich
selbst, eine unschädliche Willkür.
Eine Tätigkeit lässt sich in die andre verweben, keine an die andre anstückeln.
Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachsener Ast
mehr anzufügen ist.«

Es freute den Gehilfen, in dem Augenblick, da er Abschied zu nehmen sich genötigt sah, Charlotten zufälligerweise
etwas Angenehmes gesagt und ihre Gunst aufs Neue dadurch befestigt zu haben.
Schon allzu lange war er von Hause weg; doch konnte er zur Rückreise sich nicht eher entschließen als
nach völliger Überzeugung, er müsse die herannahende Epoche von Charlottens Niederkunft erst vorbeigehen
lassen, bevor er wegen Ottiliens irgendeine Entscheidung hoffen könne.
Er fügte sich deshalb in die Umstände und kehrte mit diesen Aussichten und Hoffnungen wieder zur
Vorsteherin zurück.

Charlottens Niederkunft nahte heran.
Sie hielt sich mehr in ihren Zimmern.
Die Frauen, die sich um sie versammelt hatten, waren ihre geschlossenere Gesellschaft.
Ottilie besorgte das Hauswesen, indem sie kaum daran denken durfte, was sie tat.
Sie hatte sich zwar völlig ergeben; sie wünschte für Charlotten, für das Kind, für Eduarden
sich auch noch ferner auf das Dienstlichste zu bemühen; aber sie sah nicht ein, wie es möglich werden wollte.
Nichts konnte sie vor völliger Verworrenheit retten, als dass sie jeden Tag ihre Pflicht tat.

Ein Sohn war glücklich zur Welt gekommen, und die Frauen versicherten sämtlich, es sei der ganze leibhafte Vater.
Nur Ottilie konnte es im Stillen nicht finden, als sie der Wöchnerin Glück wünschte und das Kind auf
das Herzlichste begrüßte.
Schon bei den Anstalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten die Abwesenheit ihres Gemahls höchst
fühlbar gewesen; nun sollte der Vater auch bei der Geburt des Sohnes nicht gegenwärtig sein; er sollte den
Namen nicht bestimmen, bei dem man ihn künftig rufen würde.

Der erste von allen Freunden, die sich beglückwünschend sehen ließen, war Mittler, der seine Kundschafter
ausgestellt hatte, um von diesem Ereignis sogleich Nachricht zu erhalten. Er fand sich ein, und zwar sehr behaglich.
Kaum dass er seinen Triumph in Gegenwart Ottiliens verbarg, so sprach er sich gegen Charlotten laut aus und war der Mann,
alle Sorgen zu heben und alle augenblicklichen Hindernisse beiseite zu bringen. Die Taufe sollte nicht lange aufgeschoben werden.
Der alte Geistliche, mit einem Fuß schon im Grabe, sollte durch seinen Segen das Vergangene mit dem Zukünftigen
zusammenknüpfen; Otto sollte das Kind heißen; es konnte keinen andern Namen führen als den Namen des
Vaters und des Freundes.

Es bedurfte der entschiedenen Zudringlichkeit dieses Mannes, um die hunderterlei Bedenklichkeiten, das Widerreden,
Zaudern, Stocken, Besser- oder Anderswissen, das Schwanken, Meinen, Um- und Wiedermeinen zu beseitigen, da gewöhnlich
bei solchen Gelegenheiten aus einer gehobenen Bedenklichkeit immer wieder neue entstehen und, indem man alle Verhältnisse
schonen will, immer der Fall eintritt, einige zu verletzten.

Alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe übernahm Mittler; sie sollten gleich ausgefertigt sein, denn ihm war selbst
höchlich daran gelegen, ein Glück, das er für die Familie so bedeutend hielt, auch der übrigen
mitunter misswollenden und missredenden Welt bekannt zu machen.
Und freilich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfälle dem Publikum nicht entgangen, das ohnehin in der
Überzeugung steht, alles, was geschieht, geschehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe.

Die Feier des Taufaktes sollte würdig, aber beschränkt und kurz sein.
Man kam zusammen, Ottilie und Mittler sollten das Kind als Taufzeugen halten.
Der alte Geistliche, unterstützt vom Kirchdiener, trat mit langsamen Schritten heran.
Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah,
erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen; eine solche
Übereinstimmung hätte jeden überraschen müssen.
Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so
auffallende Ähnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen war.

Die Schwäche des guten alten Geistlichen hatte ihn gehindert, die Taufhandlung mit Mehrerem als der
gewöhnlichen Liturgie zu begleiten.
Mittler indessen, voll von dem Gegenstande, gedachte seiner frühern Amtsverrichtungen und hatte überhaupt
die Art, sich sogleich in jedem Falle zu denken, wie er nun reden, wie er sich äußern würde.
Diesmal konnte er sich um so weniger zurückhalten, als es nur eine kleine Gesellschaft von lauter Freunden war,
die ihn umgab.
Er fing daher an, gegen das Ende des Akts mit Behaglichkeit sich an die Stelle des Geistlichen zu versetzen, in
einer muntern Rede seine Patenpflichten und Hoffnungen zu äußern und um so mehr dabei zu verweilen,
als er Charlottens Beifall in ihrer zufriedenen Miene zu erkennen glaubte.

Dass der gute alte Mann sich gern gesetzt hätte, entging dem rüstigen Redner, der noch viel weniger
dachte, dass er ein größeres Übel hervorzubringen auf dem Wege war; denn nachdem er das
Verhältnis eines jeden Anwesenden zum Kinde mit Nachdruck geschildert und Ottiliens Fassung dabei ziemlich
auf die Probe gestellt hatte, so wandte er sich zuletzt gegen den Greis mit diesen Worten: »Und Sie,
mein würdiger Altvater, können nunmehr mit Simeon sprechen: Herr, lass deinen Diener in Frieden fahren;
denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses gesehen.«

Nun war er im Zuge, recht glänzend zu schließen, aber er bemerkte bald, dass der Alte, dem er das Kind
hinhielt, sich zwar erst gegen dasselbe zu neigen schien, nachher aber schnell zurücksank.
Vom Fall kaum abgehalten, ward er in einen Sessel gebracht, und man musste ihn ungeachtet aller augenblicklichen
Beihilfe für tot ansprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege nebeneinander zu sehen und zu denken, nicht bloß mit der
Einbildungskraft, sondern mit den Augen diese ungeheuern Gegensätze zusammenzufassen, war für die
Umstehenden eine schwere Aufgabe, je überraschender sie vorgelegt wurde.
Ottilie allein betrachtete den Eingeschlummerten, der noch immer seine freundliche, einnehmende Miene
behalten hatte, mit einer Art von Neid.
Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der Körper noch erhalten werden?

Führten sie auf diese Weise gar manchmal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der
Vergänglichkeit, des Scheidens, des Verlierens, so waren ihr dagegen wundersame nächtliche Erscheinungen
zum Trost gegeben, die ihr das Dasein des Geliebten versicherten und ihr eigenes befestigten und belebten.
Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt und im süßen Gefühl noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte,
schien es ihr, als wenn sie in einen ganz hellen, doch mild erleuchteten Raum hineinblickte.
In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich, und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen, sondern im
kriegerischen Anzug, jedes Mal in einer andern Stellung, die aber vollkommen natürlich war und nichts
Phantastisches an sich hatte: stehend, gehend, liegend, reitend. Die Gestalt, bis aufs Kleinste ausgemalt,
bewegte sich willig vor ihr, ohne dass sie das Mindeste dazu tat, ohne dass sie wollte oder die Einbildungskraft
anstrengte.
Manchmal sah sie ihn auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem, das dunkler war als der helle Grund; aber
sie unterschied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume und Gebirge
vorkommen konnten.
Gewöhnlich schlief sie über der Erscheinung ein, und wenn sie nach einer ruhigen Nacht morgens
wieder erwachte, so war sie erquickt, getröstet; sie fühlte sich überzeugt, Eduard lebe noch,
sie stehe mit ihm noch in dem innigsten Verhältnis.
Neuntes Kapitel

Der Frühling war gekommen, später, aber auch rascher und freudiger als gewöhnlich.
Ottilie fand nun im Garten die Frucht ihres Vorsehens; alles keimte, grünte und blühte zur rechten Zeit; manches, was
hinter wohlangelegten Glashäusern und Beeten vorbereitet worden, trat nun sogleich der endlich von außen wirkenden
Natur entgegen, und alles, was zu tun und zu besorgen war, blieb nicht bloß hoffnungsvolle Mühe wie bisher,
sondern ward zum heitern Genusse.

An dem Gärtner aber hatte sie zu trösten über manche durch Lucianens Wildheit entstandene Lücke unter
den Topfgewächsen, über die zerstörte Symmetrie mancher Baumkrone.
Sie machte ihm Mut, dass sich das alles bald wieder herstellen werde; aber er hatte zu ein tiefes Gefühl, zu einen
reinen Begriff von seinem Handwerk, als dass diese Trostgründe viel bei ihm hätten fruchten sollen.
So wenig der Gärtner sich durch andere Liebhabereien und Neigungen zerstreuen darf, so wenig darf der ruhige Gang
unterbrochen werden, den die Pflanze zur dauernden oder zur vorübergehenden Vollendung nimmt.
Die Pflanze gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt.
Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahrszeit, in jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird
vielleicht von niemandem mehr als vom Gärtner verlangt.

Diese Eigenschaften besaß der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen auch Ottilie so gern mit ihm wirkte; aber sein
eigentliches Talent konnte er schon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausüben.
Denn ob er gleich alles, was die Baum- und Küchengärtnerei betraf, auch die Erfordernisse eines ältern
Ziergartens, vollkommen zu leisten verstand, wie denn überhaupt einem vor dem andern dieses oder jenes gelingt,
ob er schon in Behandlung der Orangerie, der Blumenzwiebeln, der Nelken- und Aurikelnstöcke die Natur selbst
hätte herausfordern können, so waren ihm doch die neuen Zierbäume und Modeblumen einigermaßen
fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde der Botanik, das sich nach der Zeit auftat, und den darin
herumsummenden fremden Namen eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich machte.
Was die Herrschaft voriges Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er um so mehr für unnützen Aufwand und
Verschwendung, als er gar manche kostbare Pflanze ausgehen sah und mit den Handelsgärtnern, die ihn, wie er
glaubte, nicht redlich genug bedienten, in keinem sonderlichen Verhältnisse stand.

Er hatte sich darüber nach mancherlei Versuchen eine Art von Plan gemacht, in welchem ihn Ottilie um so mehr
bestärkte, als er auf die Wiederkehr Eduards eigentlich gegründet war, dessen Abwesenheit man in diesem
wie in manchem andern Falle täglich nachteiliger empfinden musste.

Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel schlugen und
Zweige trieben, fühlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Räume gefesselt.
Gerade vor einem Jahre trat sie als Fremdling, als ein unbedeutendes Wesen hier ein; wie viel hatte sie sich seit
jener Zeit nicht erworben! Aber leider wie viel hatte sie nicht auch seit jener Zeit wieder verloren!
Sie war nie so reich und nie so arm gewesen. Das Gefühl von beidem wechselte augenblicklich miteinander ab,
ja durchkreuzte sich aufs Innigste, sodass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als dass sie immer wieder
das Nächste mit Anteil, ja mit Leidenschaft ergriff.

Dass alles, was Eduarden besonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am stärksten an sich zog, lässt sich denken;
ja warum sollte sie nicht hoffen, dass er selbst nun bald wiederkommen, dass er die fürsorgliche Dienstlichkeit,
die sie dem Abwesenden geleistet, dankbar gegenwärtig bemerken werde.

Aber noch auf eine viel andre Weise war sie veranlasst, für ihn zu wirken.
Sie hatte vorzüglich die Sorge für das Kind übernommen, dessen unmittelbare Pflegerin sie um so mehr werden
konnte, als man es keiner Amme übergeben, sondern mit Milch und Wasser aufzuziehen sich entschieden hatte.
Es sollte in jener schönen Zeit der freien Luft genießen; und so trug sie es am liebsten selbst heraus, trug
das schlafende, unbewusste zwischen Blumen und Blüten her, die dereinst seiner Kindheit so freundlich entgegenlachen
sollten, zwischen jungen Sträuchen und Pflanzen, die mit ihm in die Höhe zu wachsen durch ihre Jugend bestimmt schienen.
Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich nicht, zu welchem großen, reichen Zustande das Kind geboren sei;
denn fast alles, wohin das Auge blickte, sollte dereinst ihm gehören.
Wie wünschenswert war es zu diesem allen, dass es vor den Augen des Vaters, der Mutter aufwächse und eine
erneute, frohe Verbindung bestätigte!

Ottilie fühlte dies alles so rein, dass sie sich's als entschieden wirklich dachte und sich selbst dabei gar nicht empfand.
Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr auf einmal klar, dass ihre Liebe, um sich zu vollenden,
völlig uneigennützig werden müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie diese Höhe schon erreicht zu haben.
Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich fähig, ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wiederzusehen,
wenn sie ihn nur glücklich wisse.
Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals einem andern anzugehören.

Dass der Herbst ebenso herrlich würde wie der Frühling, dafür war gesorgt.
Alle sogenannten Sommergewächse, alles, was im Herbst mit Blühen nicht enden kann und sich der Kälte noch keck
entgegen entwickelt, Astern besonders, waren in der größten Mannigfaltigkeit gesäet und sollten nun, überall hin
verpflanzt, einen Sternhimmel über die Erde bilden.
Aus Ottiliens Tagebuche
Einen guten Gedanken, den wir gelesen, etwas Auffallendes, das wir gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch. Nähmen wir uns aber
zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche
Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden. Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie zuletzt
einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste, unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andre. Ich
nehme mir vor, dieses Versäumnis wieder gut zu machen.
So wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn. Wir sind nun wieder, Gott sei Dank! an seinem artigsten Kapitel.
Veilchen und Maiblumen sind wie Überschriften oder Vignetten dazu.
Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem Buche des Lebens wieder aufschlagen.
Wir schelten die Armen, besonders die Unmündigen, wenn sie sich an den Straßen herumlegen und betteln.
Bemerken wir nicht, dass sie gleich tätig sind, sobald es was zu tun gibt?
Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schätze, so sind die Kinder dahinterher, um ein Gewerbe zu eröffnen;
keines bettelt mehr, jedes reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepflückt, ehe du vom Schlaf erwachtest,
und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe.
Niemand sieht erbärmlich aus, der sich einiges Recht fühlt, fordern zu dürfen.
Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so kurz scheint und so lang in der Erinnerung!
Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im Garten, wie Vergängliches und Dauerndes ineinander greift.
Und doch ist nichts so flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht seinesgleichen zurücklasse.
Man lässt sich den Winter auch gefallen.
Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen.
Sie sind nichts, aber sie decken auch nichts zu.
Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegen drängt.
Alles Vollkommene in seiner Art muss über seine Art hinausgehen, es muss etwas anderes, Unvergleichbares werden.
In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich singen heiße.
Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine Comédie à tiroir, ein schlechtes Schubladenstück.
Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und eilt zur folgenden.
Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich zusammen.
Man muss überall von vorn anfangen und möchte überall enden.
Zehntes Kapitel

Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl. Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende Gestalt ihr
Auge und Gemüt stündlich beschäftigt. Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.
Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch hinsieht, im vergangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am Getanen.
Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch
als auf einen häuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plätze leer sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung
für sie und Ottilien dringt hervor.

Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum
Gatten wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher.
So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch
auch schon ehemals in dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten.
Ihr war nicht unbekannt geblieben, dass jene Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat wieder verschwunden sei.

Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind. Jene überließ sich mancherlei Betrachtungen.
Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das Schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig.
Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet! Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin gestört!
Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft werden wir von einem scharf ins Auge gefassten Ziel abgelenkt, um ein
höheres zu erreichen! Der Reisende bricht unterwegs zu seinem höchsten Verdruss ein Rad und gelangt durch diesen unangenehmen Zufall
zu den erfreulichsten Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluss haben. Das Schicksal gewährt uns unsre Wünsche,
aber auf seine Weise, um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können.

Diese und ähnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum neuen Gebäude auf der Höhe gelangte, wo sie
vollkommen bestätigt wurden. Denn die Umgebung war viel schöner, als man sich's hatte denken können.
Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte,
trat reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken
auszufüllen und die abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.

Das Haus selbst war nahezu bewohnbar, die Aussicht, besonders aus den obern Zimmern, höchst mannigfaltig. Je länger
man sich umsah, desto mehr Schönes entdeckte man.
Was mussten nicht hier die verschiedenen Tagszeiten, was Mond und Sonne für Wirkungen hervorbringen!
Hier zu verweilen war höchst wünschenswert, und wie schnell ward die Lust zu bauen und zu schaffen in Charlotten
wieder erweckt, da sie alle grobe Arbeit getan fand! Ein Tischer, ein Tapezier, ein Maler, der mit Patronen und leichter Vergoldung
sich zu helfen wusste, nur dieser bedurfte man, und in kurzer Zeit war das Gebäude im Stande.
Keller und Küche wurden schnell eingerichtet; denn in der Entfernung vom Schlosse musste man alle Bedürfnisse um sich versammeln.
So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eröffneten sich
ihnen unerwartete Spaziergänge. Sie genossen vergnüglich in einer höheren Region der freien, frischen Luft bei
dem schönsten Wetter.

Ottiliens liebster Weg, teils allein, teils mit dem Kinde, ging herunter nach den Platanen auf einem bequemen Fußsteig, der
sodann zu dem Punkte leitete, wo einer der Kähne angebunden war, mit denen man überzufahren pflegte.
Sie erfreute sich manchmal einer Wasserfahrt, allein ohne das Kind, weil Charlotte deshalb einige Besorgnis zeigte.
Doch verfehlte sie nicht, täglich den Gärtner im Schlossgarten zu besuchen und an seiner Sorgfalt für die vielen
Pflanzenzöglinge, die nun alle der freien Luft genossen, freundlich teilzunehmen.

In dieser schönen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Engländers sehr gelegen, der Eduarden auf Reisen kennen gelernt,
einige Mal getroffen hatte und nunmehr neugierig war, die schönen Anlagen zu sehen, von denen er soviel Gutes erzählen
hörte. Er brachte ein Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte zugleich einen stillen, aber sehr gefälligen
Mann als seinen Begleiter vor. Indem er nun bald mit Charlotten und Ottilien, bald mit Gärtnern und Jägern, öfters
mit seinem Begleiter und manchmal allein die Gegend durchstrich, so konnte man seinen Bemerkungen wohl ansehen, dass er ein
Liebhaber und Kenner solcher Anlagen war, der wohl auch manche dergleichen selbst ausgeführt hatte. Obgleich in Jahren, nahm
er auf eine heitere Weise an allem teil, was dem Leben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.

In seiner Gegenwart genossen die Frauenzimmer erst vollkommen ihrer Umgebung. Sein geübtes Auge empfing jeden Effekt
ganz frisch, und er hatte um so mehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher nicht gekannt und, was man daran
getan, von dem, was die Natur geliefert, kaum zu unterscheiden wusste.

Man kann wohl sagen, dass durch seine Bemerkungen der Park wuchs und sich bereicherte.
Schon zum Voraus erkannte er, was die neuen, heranstrebenden Pflanzungen versprachen.
Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgendeine Schönheit hervorzuheben oder anzubringen war.
Hier deutete er auf eine Quelle, welche, gereinigt, die Zierde einer ganzen Buschpartie zu werden versprach, hier auf eine
Höhle, die, ausgeräumt und erweitert, einen erwünschten Ruheplatz geben konnte, indessen man nur wenige
Bäume zu fällen brauchte, um von ihr aus herrliche Felsenmassen aufgetürmt zu erblicken.
Er wünschte den Bewohnern Glück, dass ihnen so manches nachzuarbeiten übrig blieb, und
ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern für folgende Jahre sich das Vergnügen des Schaffens und
Einrichtens vorzubehalten.

Übrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs lästig; denn er beschäftigte sich die
größte Zeit des Tags, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und
zu zeichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne Frucht zu gewinnen.
Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste
und interessanteste Sammlung verschafft. Ein großes Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen vor
und unterhielt sie teils durch das Bild, teils durch die Auslegung. Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so
bequem zu durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte, Kastelle und manches andre Lokal,
das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu sehen.

Jede von beiden Frauen hatte ein besonderes Interesse, Charlotte das allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch
Merkwürdiges fand, während Ottilie sich vorzüglich bei den Gegenden aufhielt, wovon Eduard viel zu erzählen
pflegte, wo er gern verweilt, wohin er öfters zurückgekehrt; denn jeder Mensch hat in der Nähe und in der Ferne
gewisse örtliche Einzelheiten, die ihn anziehen, die ihm seinem Charakter nach, um des ersten Eindrucks, gewisser
Umstände, der Gewohnheit willen besonders lieb und aufregend sind.

Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle und wo er nun seine Wohnung aufschlagen würde, wenn er
zu wählen hätte. Da wusste er denn mehr als eine schöne Gegend vorzuzeigen und, was ihm dort widerfahren, um sie ihm
lieb und wert zu machen, in seinem eigens akzentuierten Französisch gar behaglich mitzuteilen.

Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewöhnlich aufhalte, wohin er am liebsten zurückkehre, ließ
er sich ganz unbewunden, doch den Frauen unerwartet, also vernehmen.

»Ich habe mir nun angewöhnt, überall zu Hause zu sein, und finde zuletzt nichts bequemer, als dass
andre für mich bauen, pflanzen und sich häuslich bemühen. Nach meinen eigenen Besitzungen sehne ich mich nicht
zurück, teils aus politischen Ursachen, vorzüglich aber, weil mein Sohn,
für den ich alles eigentlich getan und eingerichtet, dem ich es zu übergeben, mit dem ich es noch zu genießen hoffte,
an allem keinen Teil nimmt, sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben dort, wie mancher andere, höher zu nutzen oder
gar zu vergeuden.

Gewiss, wir machen viel zu viel vorarbeitenden Aufwand aufs Leben. Anstatt dass wir gleich anfingen, uns in einem mäßigen
Zustand behaglich zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns immer unbequemer zu machen.
Wer genießt jetzt meine Gebäude, meinen Park, meine Gärten? Nicht ich, nicht einmal die Meinigen: fremde Gäste,
Neugierige, unruhige Reisende.

Selbst bei vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause, besonders auf dem Lande, wo uns manches Gewohnte der Stadt fehlt.
Das Buch, das wir am eifrigsten wünschten, ist nicht zur Hand, und gerade, was wir am meisten bedürften, ist vergessen.
Wir richten uns immer häuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn wir es nicht mit Willen und Willkür tun, so wirken
Verhältnisse, Leidenschaften, Zufälle, Notwendigkeit und was nicht alles.«

Der Lord ahnete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die Freundinnen getroffen wurden.
Und wie oft kommt nicht jeder in diese Gefahr, der eine allgemeine Betrachtung selbst in einer Gesellschaft, deren Verhältnisse
ihm sonst bekannt sind, ausspricht! Charlotten war eine solche zufällige Verletzung auch durch Wohlwollende und Gutmeinende
nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so deutlich vor ihren Augen, dass sie keinen besondern Schmerz empfand, wenn gleich jemand
sie unbedachtsam und unvorsichtig nötigte, ihren Blick da- oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten.
Ottilie hingegen, die in halbbewusster Jugend mehr ahnete als sah und ihren Blick wegwenden durfte, ja musste von dem, was sie
nicht sehen mochte und sollte, Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den schrecklichsten Zustand versetzt; denn es
zerriss mit Gewalt vor ihr der anmutige Schleier, und es schien ihr, als wenn alles, was bisher für Haus und Hof, für
Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehörte, es nicht
genösse, weil auch der, wie der gegenwärtige Gast, zum Herumschweifen in der Welt, und zwar zu dem gefährlichsten,
durch die Liebsten und Nächsten gedrängt worden. Sie hatte sich an Hören und Schweigen gewöhnt, aber sie
saß diesmal in der peinlichsten Lage, die durch des Fremden weiteres Gespräch eher vermehrt als vermindert wurde,
das er mit heiterer Eigenheit und Bedächtlichkeit fortsetzte.

»Nun glaub ich«, sagte er, »auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich immerfort als einen Reisenden betrachte, der
vielem entsagt, um vieles zu genießen. Ich bin an den Wechsel gewöhnt, ja er wird mir Bedürfnis, wie man in der Oper immer wieder
auf eine neue Dekoration wartet, gerade weil schon so viele da gewesen. Was ich mir von dem besten und dem schlechtesten Wirtshause versprechen darf,
ist mir bekannt; es mag so gut oder so schlimm sein, als es will, nirgends find ich das Gewohnte, und am Ende läuft es auf eins hinaus,
ganz von einer notwendigen Gewohnheit oder ganz von der willkürlichsten Zufälligkeit abzuhangen.
Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruss, dass etwas verlegt oder verloren ist, dass mir ein tägliches Wohnzimmer unbrauchbar
wird, weil ich es muss reparieren lassen, dass man mir eine liebe Tasse zerbricht und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will.
Alles dessen bin ich überhoben, und wenn mir das Haus über dem Kopf zu brennen anfängt, so packen meine Leute gelassen ein
und auf, und wir fahren zu Hofraum und Stadt hinaus. Und bei allen diesen Vorteilen, wenn ich es genau berechne, habe ich am Ende des Jahres
nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hause gekostet hätte.«

Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun auch mit Entbehren und Beschwerde auf ungebahnten Straßen
hinziehe, mit Gefahr und Not zu Felde liege und bei so viel Unbestand und Wagnis sich gewöhne, heimatlos und freundlos zu sein,
alles wegzuwerfen, nur um nicht verlieren zu können. Glücklicherweise trennte sich die Gesellschaft für einige Zeit.
Ottilie fand Raum, sich in der Einsamkeit auszuweinen. Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als diese Klarheit,
die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es zu tun pflegt, dass man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege ist,
gepeinigt zu werden.

Der Zustand Eduards kam ihr so kümmerlich, so jämmerlich vor, dass sie sich entschloss, es koste, was es wolle, zu seiner
Wiedervereinigung mit Charlotten alles beizutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch
irgendeine Art von Tätigkeit zu betrügen.

Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verständiger, ruhiger Mann und guter
Beobachter, den Missgriff in der Unterhaltung bemerkt und die Ähnlichkeit der Zustände seinem Freunde offenbart.
Dieser wusste nichts von den Verhältnissen der Familie; allein jener, den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessierte
als die sonderbaren Ereignisse, welche durch natürliche und künstliche Verhältnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen
und des Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte
sich schon früher und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt gemacht, was vorgegangen war und noch vorging.

Dem Lord tat es leid, ohne dass er darüber verlegen gewesen wäre. Man müsste ganz in Gesellschaft schweigen,
wenn man nicht manchmal in den Fall kommen sollte; denn nicht allein bedeutende Bemerkungen, sondern die trivialsten
Äußerungen können auf eine so missklingende Weise mit dem Interesse der Gegenwärtigen zusammentreffen.
»Wir wollen es heute abend wieder gut machen«, sagte der Lord, »und uns aller allgemeinen Gespräche enthalten.
Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen angenehmen und bedeutenden Anekdoten und Geschichten zu hören, womit Sie
Ihr Portefeuille und Ihr Gedächtnis auf unserer Reise bereichert haben!«

Allein auch mit dem besten Vorsatze gelang es den Fremden nicht, die Freunde diesmal mit einer unverfänglichen
Unterhaltung zu erfreuen. Denn nachdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende, heitere, rührende, furchtbare
Geschichten die Aufmerksamkeit erregt und die Teilnahme aufs Höchste gespannt hatte, so dachte er mit einer zwar sonderbaren,
aber sanfteren Begebenheit zu schließen und ahnete nicht, wie nahe diese seinen Zuhörern verwandt war.
Die wunderlichen Nachbarskinder
Novelle

Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in verhältnismäßigem Alter,
um dereinst Gatten zu werden, ließ man in dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die beiderseitigen
Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung.
Doch man bemerkte gar bald, dass die Absicht zu misslingen schien, indem sich zwischen den beiden trefflichen Naturen
ein sonderbarer Widerwille hervortrat. Vielleicht waren sie einander zu ähnlich.
Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsätzen; jedes einzeln geliebt und geehrt
von seinen Gespielen; immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich allein, immer wechselsweise
zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck;
gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig, indem sie sich aufeinander bezogen.

Diese wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen, es zeigte sich bei zunehmenden Jahren.
Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte
sich das trotzig mutige Mädchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das andre mit solcher Gewalt
und Erbitterung, dass dieses schimpflich wäre in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher
sich nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt entwaffnet und gefangen genommen hätte.
Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, dass er, um seine Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu
beschädigen, sein seidenes Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden musste.

Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche, ihn zu beschädigen, dass die Eltern,
die auf diese seltsamen Leidenschaften schon längst Acht gehabt, sich miteinander verständigten und beschlossen,
die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzugeben.

Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede Art von Unterricht schlug bei ihm an.
Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande. Überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt.
Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne
deutliches Bewusstsein, recht glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm
zugedacht hatte.

Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand. Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr
noch ein gewisses inneres Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der
Knaben auszuüben pflegte. Im Ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen wäre,
ihren Hass zu erregen. Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.

Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt
in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu. Es war das erste Mal, dass sich ein Freund,
ein Liebhaber, ein Diener um sie bemühte.
Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter, glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl.
Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne dass er zudringlich gewesen wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen
unangenehmen Zufällen, sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben,
da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äußern,
nun von der Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen.
Sie war so oft Braut genannt worden, dass sie sich endlich selbst dafür hielt, und weder sie noch irgend jemand
dachte daran, dass noch eine Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange
Zeit für ihren Bräutigam galt.

Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verlöbnis nicht beschleunigt worden.
Man ließ eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute
Jahreszeit durchaus noch als einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens genießen.

Indessen hatte der Entfernte sich zum Schönsten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen
und kam mit Urlaub, die Seinigen zu besuchen.
Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner schönen Nachbarin abermals entgegen.
Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit
allem, was sie umgab, in Übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es auch auf gewisse Weise.
Aber nun stand ihr zum ersten Mal seit langer Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses
unfähig geworden, ja der kindische Hass, der eigentlich nur ein dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen,
äußerte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingestehn, halb willigem
halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles war wechselseitig. Eine lange Entfernung gab zu längeren
Unterhaltungen Anlass. Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu scherzhafter Erinnerung,
und es war, als wenn man sich jenen neckischen Hass wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung
vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen
bleiben dürfe.

Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten Maß.
Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschäftigten ihn so reichlich, dass er
die Freundlichkeit der schönen Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie
deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem Bräutigam zu missgönnen, mit
dem er übrigens in den besten Verhältnissen stand.

Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus. Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht.
Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter
der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung.
Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als dass sie ihn immer geliebt habe.
Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten
Gefühls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden
zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruss unternommen hatte, kam ihr nur
als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte
die schleppende, träumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können;
sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es nehmen will.

Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheim hielt, entwickeln und mit ihr teilen können, so würde er
sie nicht gescholten haben; denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aushalten, sobald
man sie nebeneinander sah. Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste
Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten; und dachte
man gar an höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn
einem der andere vollkommene Gewissheit gab. Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren,
und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.

Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige
auszusprechen im Fall war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was Pflicht anzuraten
und zu gebieten, ja was eine unabänderliche Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte
das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne
Zusage unauflöslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein Geheimnis von seinen Gesinnungen,
Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies und nun gar
von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen
Tücken und Gewaltsamkeiten wieder erwachte und sich nun auf einer höheren Lebensstufe mit Unwillen rüstete,
bedeutender und verderblicher zu wirken. Sie beschloss zu sterben, um den ehemals Gehassten und nun so heftig Geliebten
für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft,
seiner Reue auf ewig zu vermählen. Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören, sich
Vorwürfe zu machen, dass er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschätzt habe.

Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überall hin. Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen
gleich wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre Ursache zu entdecken.

Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von mancherlei Festen erschöpft.
Kaum verging ein Tag, dass nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden wäre.
Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt und zum Empfang vieler froher
Gäste bereitet hätte. Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das Seinige tun
und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt.
Man bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der Jachten, die einen kleinen
Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.

Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte sich bei heißer Tageszeit in den
untern Räumen versammelt, um sich an Geistes- und Glücksspielen zu ergötzen.
Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister
abzulösen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er
sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flussbette verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der
einen, bald an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser zubereiteten.
Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sich's
zu und fuhr gegen die Enge.
In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren.
Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden. »Nimm dies zum Andenken!«, rief sie aus.
»Störe mich nicht!«, rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; »ich bedarf aller
meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit«.
»Ich störe dich nicht weiter«, rief sie; »du siehst mich nicht wieder!« Sie
sprach's und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige Stimmen riefen: »Rettet!
Rettet! Sie ertrinkt.« Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit. Über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister,
will das Ruder ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff
strandet, und in eben dem Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich ins Wasser
und schwamm der schönen Feindin nach.

Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist und es zu behandeln weiß.
Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es.
Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne erreicht; er fasste sie, wusste sie zu heben und zu tragen; beide
wurden vom Strom gewaltsam fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten und der Fluss wieder
breit und gemächlich zu fließen anfing.
Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not, in der er ohne Besinnung nur mechanisch
gehandelt; er blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer flachen, buschichten
Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluss verlief.
Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu spüren.
Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs Gebüsch lief, in die Augen leuchtete.
Er belud sich aufs Neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine einsame Wohnung und erreichte sie.
Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar. Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus.
Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet. Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden über
ein Lager gebreitet, Pelze, Felle und was Erwärmendes vorrätig war, schnell herbeigetragen.
Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung. Nichts ward versäumt, den schönen,
halbstarren, nackten Körper wieder ins Leben zu rufen. Es gelang. Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den
Freund, umschlang seinen Hals mit ihren himmlischen Armen. So blieb sie lange; ein Tränenstrom stürzte
aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung. »Willst du mich verlassen«, rief sie aus, »da ich
dich so wiederfinde?« »Niemals«, rief er, »niemals!« und wusste nicht, was er sagte
noch was er tat. »Nur schone dich«, rief er hinzu, »schone dich! Denke an dich um deinet- und meinetwillen.«

Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie war.
Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen; aber sie entließ ihn gern, damit er für sich
sorgen möge; denn noch war, was ihn umgab, nass und triefend.

Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der Schönen das Hochzeitskleid an, das noch
vollständig da hing, um ein Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden.
In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen, sondern geputzt.
Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentraten, und fielen sich mit unmäßiger
Leidenschaft, und doch halb lächelnd über die Vermummung, gewaltsam in die Arme.
Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken völlig wieder her,
und es fehlte nur die Musik, um sie zum Tanz aufzufordern.

Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum
Entzücken, aus der Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles in einem
Augenblick - der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren.
Hiebei muss das Herz das Beste tun, wenn eine solche Überraschung ertragen werden soll.

Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen
denken, und fast konnten sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen wieder begegnen wollten.
»Sollen wir fliehen? Sollen wir uns verbergen?«, sagte der Jüngling.
»Wir wollen zusammenbleiben«, sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.

Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer.
Das Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe losgebracht worden.
Man fuhr aufs Ungewisse fort in Hoffnung, die Verlornen wiederzufinden. Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden
aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Winken und Rufen nicht
aufhörte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie landeten! Die Eltern der
beiden Verlobten drängten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Bräutigam hatte fast die Besinnung verlassen. Kaum
hatten sie vernommen, dass die lieben Kinder gerettet seien, so traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor.
Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren. »Wen seh ich?«, riefen die Mütter. »Was
seh ich?«, riefen die Väter. Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder. »Eure Kinder!«, riefen sie aus,
»ein Paar«. »Verzeiht!«, rief das Mädchen. »Gebt uns Euren Segen!«, rief der Jüngling.
»Gebt uns Euren Segen!«, riefen beide, da alle Welt staunend verstummte. »Euren Segen!«, ertönte
es zum dritten Mal, und wer hätte den versagen können!
Elftes Kapitel

Der Erzählende machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt, als er bemerken musste, dass Charlotte höchst bewegt sei;
ja sie stand auf und verließ mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer; denn die Geschichte war ihr bekannt.
Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Engländer
erzählte, doch war sie in den Hauptzügen nicht entstellt, nur im Einzelnen mehr ausgebildet und ausgeschmückt,
wie es dergleichen Geschichten zu gehen pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die Phantasie
eines geist- und geschmackreichen Erzählers durchgehen. Es bleibt zuletzt meist alles und nichts, wie es war.

Ottilie folgte Charlotten, wie es die beiden Fremden selbst verlangten, und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, dass
vielleicht abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar Verwandtes erzählt worden.
»Wir müssen uns hüten«, fuhr er fort, »dass wir nicht noch mehr Übles stiften.
Für das viele Gute und Angenehme, das wir hier genossen, scheinen wir den Bewohnerinnen wenig Glück zu bringen;
wir wollen uns auf eine schickliche Weise zu empfehlen suchen.«

»Ich muss gestehen«, versetzte der Begleiter, »dass mich hier noch etwas anderes festhält, ohne
dessen Aufklärung und nähere Kenntnis ich dieses Haus nicht gern verlassen möchte.
Sie waren gestern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer durch den Park zogen, viel zu beschäftigt,
sich einen wahrhaft malerischen Standpunkt auszuwählen, als dass Sie hätten bemerken sollen, was nebenher vorging.
Sie lenkten vom Hauptwege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenüber anbot.
Ottilie, die uns begleitete, stand an zu folgen und bat, sich auf dem Kahne dorthin begeben zu dürfen.
Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit der schönen Schifferin.
Ich versicherte ihr, dass ich seit der Schweiz, wo auch die reizendsten Mädchen die Stelle des Fährmanns
vertreten, nicht so angenehm sei über die Wellen geschaukelt worden, konnte mich aber nicht enthalten, sie zu
fragen, warum sie eigentlich abgelehnt, jenen Seitenweg zu machen; denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von
ängstlicher Verlegenheit.
›Wenn Sie mich nicht auslachen wollen‹, versetzte sie freundlich, ›so kann ich Ihnen darüber
wohl einige Auskunft geben, obgleich selbst für mich dabei ein Geheimnis obwaltet.
Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne dass mich ein ganz eigener Schauer überfallen hätte, den
ich sonst nirgends empfinde und den ich mir nicht zu erklären weiß.
Ich vermeide daher lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen, um so mehr, als sich gleich darauf ein Kopfweh
an der linken Seite einstellt, woran ich sonst auch manchmal leide.‹
Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen, und ich untersuchte indes die Stelle, die sie mir aus der Ferne
deutlich angegeben hatte.
Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche Spur von Steinkohlen entdeckte, die mich
überzeugt, man würde bei einigem Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden.

Verzeihen Sie, Mylord, ich sehe Sie lächeln und weiß recht gut, dass Sie mir eine leidenschaftliche
Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die Sie keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen;
aber es ist mir unmöglich, von hier zu scheiden, ohne das schöne Kind auch die Pendelschwingungen
versuchen zu lassen.«

Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, dass der Lord nicht seine Gründe dagegen abermals
wiederholte, welche der Begleiter bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bei seiner Meinung, bei
seinen Wünschen verharrte.
Auch er gab wiederholt zu erkennen, dass man deswegen, weil solche Versuche nicht jedermann gelängen,
die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher untersuchen müsste, da
sich gewiss noch manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen
sie und abermals untereinander offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen seien.

Er hatte seinen Apparat von goldnen Ringen, Markasiten und andern metallischen Substanzen, den er in einem
schönen Kästchen immer bei sich führte, schon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an
Fäden schwebend, über liegende Metalle zum Versuche nieder.
»Ich gönne Ihnen die Schadenfreude, Mylord«, sagte er dabei, »die ich auf Ihrem Gesichte
lese, dass sich bei mir und für mich nichts bewegen will.
Meine Operation ist aber auch nur ein Vorwand.
Wenn die Damen zurückkehren, sollen sie neugierig werden, was wir Wunderliches hier beginnen.«

Die Frauenzimmer kamen zurück. Charlotte verstand sogleich, was vorging.
»Ich habe manches von diesen Dingen gehört«, sagte sie, »aber niemals eine Wirkung gesehen.
Da Sie alles so hübsch bereit haben, lassen Sie mich versuchen, ob es mir nicht auch anschlägt.«

Sie nahm den Faden in die Hand, und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn stet und ohne Gemütsbewegung;
allein auch nicht das mindeste Schwanken war zu bemerken.
Darauf ward Ottilie veranlasst.
Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangener, unbewusster über die unterliegenden Metalle.
Aber in dem Augenblicke ward das Schwebende wie in einem entschiedenen Wirbel fortgerissen und drehte sich,
je nachdem man die Unterlage wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in Kreisen,
jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte,
ja über alle seine Erwartung.

Der Lord selbst stutzte einigermaßen, aber der andere konnte vor Lust und Begierde gar nicht enden und bat immer
um Wiederholung und Vermannigfaltigung der Versuche.
Ottilie war gefällig genug, sich in sein Verlangen zu finden, bis sie ihn zuletzt freundlich ersuchte, er möge
sie entlassen, weil ihr Kopfweh sich wieder einstelle.
Er, darüber verwundert, ja entzückt, versicherte ihr mit Enthusiasmus, dass er sie von diesem Übel
völlig heilen wolle, wenn sie sich seiner Kurart anvertraue.
Man war einen Augenblick ungewiss; Charlotte aber, die geschwind begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten
Antrag ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke Apprehension
gefühlt hatte.

Die Fremden hatten sich entfernt und, ungeachtet man von ihnen auf eine sonderbare Weise berührt worden war,
doch den Wunsch zurückgelassen, dass man sie irgendwo wieder antreffen möchte.
Charlotte benutzte nunmehr die schönen Tage, um in der Nachbarschaft ihre Gegenbesuche zu enden, womit sie kaum
fertig werden konnte, indem sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andre bloß der
Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekümmert hatten.
Zu Hause belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiss jeder Liebe, jeder Sorgfalt wert.
Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, höchst erfreulich dem Anblick, an Größe,
Ebenmaß, Stärke und Gesundheit; und was noch mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte Ähnlichkeit,
die sich immer mehr entwickelte.
Den Gesichtszügen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Augen ließen sich
immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden.

Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch das schöne Gefühl der Frauen geleitet,
welche das Kind eines geliebten Mannes, auch von einer andern, mit zärtlicher Neigung umfangen, ward Ottilie
dem heranwachsenden Geschöpf soviel als eine Mutter oder vielmehr eine andre Art von Mutter.
Entfernte sich Charlotte, so blieb Ottilie mit dem Kinde und der Wärterin allein.
Nanny hatte sich seit einiger Zeit, eifersüchtig auf den Knaben, dem ihre Herrin alle Neigung zuzuwenden
schien, trotzig von ihr entfernt und war zu ihren Eltern zurückgekehrt.
Ottilie fuhr fort, das Kind in die freie Luft zu tragen, und gewöhnte sich an immer weitere Spaziergänge.
Sie hatte das Milchfläschchen bei sich, um dem Kinde, wenn es nötig, seine Nahrung zu reichen.
Selten unterließ sie dabei, ein Buch mitzunehmen, und so bildete sie, das Kind auf dem Arm, lesend und
wandelnd, eine gar anmutige Penserosa.
Zwölftes Kapitel

Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht und Eduard, mit Ehrenzeichen geschmückt, rühmlich entlassen.
Er begab sich sogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne dass
sie es bemerkten und wussten, scharf hatte beobachten lassen.
Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs Freundlichste entgegen; denn man hatte indessen nach seiner Anordnung manches
eingerichtet, gebessert und gefördert, sodass die Anlagen und Umgebungen, was ihnen an Weite und Breite fehlte,
durch das Innere und zunächst Genießbare ersetzten.

Eduard, durch einen raschen Lebensgang an entschiedenere Schritte gewöhnt, nahm sich nunmehr vor, dasjenige auszuführen,
was er lange genug zu überdenken Zeit gehabt hatte. Vor allen Dingen berief er den Major.
Die Freude des Wiedersehens war groß. Jugendfreundschaften wie Blutsverwandtschaften haben den bedeutenden Vorteil, dass
ihnen Irrungen und Missverständnisse, von welcher Art sie auch seien, niemals von Grund aus schaden und die alten
Verhältnisse sich nach einiger Zeit wieder herstellen.

Zum frohen Empfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des Freundes und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wünschen
ihn das Glück begünstigt habe. Halb scherzend vertraulich fragte Eduard sodann, ob nicht auch eine schöne Verbindung im Werke sei.
Der Freund verneinte es mit bedeutendem Ernst.

»Ich kann und darf nicht hinterhältig sein«, fuhr Eduard fort; »ich muss dir meine Gesinnungen und Vorsätze sogleich entdecken.
Du kennst meine Leidenschaft für Ottilien und hast längst begriffen, dass sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestürzt hat.
Ich leugne nicht, dass ich gewünscht hatte, ein Leben loszuwerden, das mir ohne sie nichts weiter nütze war; allein zugleich
muss ich dir gestehen, dass ich es nicht über mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln.
Das Glück mit ihr war so schön, so wünschenswert, dass es mir unmöglich blieb, völlig Verzicht darauf zu tun.
So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne
die Meine werden. Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern;
es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Händen. So will ich mich denn selbst, rief ich mir zu, als ich an diesem
einsamen Orte so viel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen,
ob unsre Verbindung möglich sei oder nicht. Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer, der zu leben hofft.
Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder
Verschanzung, in jeder belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe. Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben,
im Sinne, Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren. Diese Gefühle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle
Gefahren beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu seinem Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden
hat, dem nun nichts mehr im Wege steht. Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der Ausführung liegt, kann
ich nur für nichts bedeutend ansehen.«

»Du löschest«, versetzte der Major, »mit wenig Zügen alles aus, was man dir entgegensetzen könnte und sollte;
und doch muss es wiederholt werden. Das Verhältnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir zurückzurufen, überlasse ich
dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir schuldig, dich hierüber nicht zu verdunkeln. Wie kann ich aber nur gedenken, dass euch
ein Sohn gegeben ist, ohne zugleich auszusprechen, dass ihr einander auf immer angehört, dass ihr um dieses Wesens willen schuldig
seid, vereint zu leben, damit ihr vereint für seine Erziehung und für sein künftiges Wohl sorgen möget.«

»Es ist bloß ein Dünkel der Eltern«, versetzte Eduard, »wenn sie sich einbilden, dass ihr Dasein für
die Kinder so nötig sei. Alles, was lebt, findet Nahrung und Beihilfe; und wenn der Sohn nach dem frühen Tode des Vaters
keine so bequeme, so begünstigte Jugend hat, so gewinnt er vielleicht eben deswegen an schnellerer Bildung für die Welt,
durch zeitiges Anerkennen, dass er sich in andere schicken muss, was wir denn doch früher oder später alle lernen müssen.
Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere Kinder zu versorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohltat,
auf ein Haupt so viele Güter zu häufen.«

Als der Major mit einigen Zügen Charlottens Wert und Eduards lange bestandenes Verhältnis zu ihr anzudeuten gedachte,
fiel ihm Eduard hastig in die Rede: »Wir haben eine Torheit begangen, die ich nur allzuwohl einsehe.
Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche und Hoffnungen realisieren will, betrügt sich immer; denn jedes
Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten.
Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch Umstände oder durch Wahn veranlasst wird!
Wir haben eine Torheit begangen; soll sie es denn fürs ganze Leben sein?
Sollen wir uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen?
In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurück, und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo
vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Komplex des Lebens
die Rede ist!«

Der Major verfehlte nicht, auf eine ebenso geschickte als nachdrückliche Weise Eduarden die verschiedenen Bezüge
zu seiner Gemahlin, zu den Familien, zu der Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht, irgendeine Teilnahme zu erregen.

»Alles dieses, mein Freund«, erwiderte Eduard, »ist mir vor der Seele vorbeigegangen, mitten im Gewühl der
Schlacht, wenn die Erde vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts und links die Gefährten
niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut durchlöchert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen nächtlichen Feuer
unter dem gestirnten Gewölbe des Himmels. Dann traten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie durchgedacht,
durchgefühlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun für immer.

In solchen Augenblicken, wie kann ich dir's verschweigen, warst auch du mir gegenwärtig, auch du gehörtest in meinen Kreis;
und gehören wir denn nicht schon lange zueinander? Wenn ich dir etwas schuldig geworden, so komme ich jetzt in den Fall,
dir es mit Zinsen abzutragen; wenn du mir je etwas schuldig geworden, so siehst du dich nun im Stande, mir es zu vergelten.
Ich weiß, du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiß, du bist ihr nicht gleichgültig, und warum
sollte sie deinen Wert nicht erkennen! Nimm sie von meiner Hand, führe mir Ottilien zu! Und wir sind die glücklichsten
Menschen auf der Erde.«

»Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst«, versetzte der Major, »muss ich desto
vorsichtiger, desto strenger sein. Anstatt dass dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache erleichtern möchte,
erschwert er sie vielmehr. Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem Schicksal, so auch von dem guten
Namen, von der Ehre zweier Männer, die, bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn wir sie auch nicht
anders nennen wollen, in Gefahr kommen, vor der Welt in einem höchst seltsamen Lichte zu erscheinen.«

»Eben dass wir unbescholten sind«, versetzte Eduard, »gibt uns das Recht, uns auch einmal schelten zu lassen.
Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der macht eine Handlung zuverlässig, die bei andern
zweideutig erscheinen würde. Was mich betrifft, ich fühle mich durch die letzten Prüfungen, die ich mir auferlegt,
durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich für andere getan, berechtigt, auch etwas für mich zu tun. Was dich
und Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheim gegeben; mich aber wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurückhalten.
Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erbötig; will man mich mir selbst überlassen oder mir wohl
gar entgegen sein, so muss ein Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle.«

Der Major hielt es für seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als möglich Widerstand zu leisten, und er bediente
sich nun gegen seinen Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die Form, den Geschäftsgang zur
Sprache brachte, durch welchen man diese Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte. Da trat denn so manches Unerfreuliche,
Beschwerliche, Unschickliche hervor, dass sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fühlte.

»Ich sehe wohl«, rief dieser endlich, »nicht allein von Feinden, sondern auch von Freunden muss, was man
wünscht, erstürmt werden. Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es
ergreifen und gewiss bald und behände. Dergleichen Verhältnisse, weiß ich wohl, heben sich nicht auf und bilden
sich nicht, ohne dass manches falle, was steht, ohne dass manches weiche, was zu beharren Lust hat.
Durch Überlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende
Waagschale lässt sich immer wieder ein Gegengewicht legen. Entschließe dich also, mein Freund, für mich,
für dich zu handeln, für mich, für dich diese Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen!
Lass dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin schon von uns reden machen; sie wird noch einmal
von uns reden, uns sodann, wie alles übrige, was aufhört neu zu sein, vergessen und uns gewähren lassen,
wie wir können, ohne weitern Teil an uns zu nehmen.«

Der Major hatte keinen andern Ausweg und musste endlich zugeben, dass Eduard ein für allemal die Sache als etwas
Bekanntes und Vorausgesetztes behandelte, dass er, wie alles anzustellen sei, im Einzelnen durchsprach und sich über
die Zukunft auf das Heiterste, sogar in Scherzen erging.

Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: »Wollten wir uns der Hoffnung, der Erwartung überlassen, dass
alles sich von selbst wieder finden, dass der Zufall uns leiten und begünstigen solle, so wäre dies ein sträflicher Selbstbetrug.
Auf diese Weise können wir uns unmöglich retten, unsre allseitige Ruhe nicht wieder herstellen; und wie sollte ich
trösten können, da ich unschuldig die Schuld an allem bin! Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht,
dich ins Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser Veränderung bei uns eingetreten.
Wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschädlich zu machen, die
Verhältnisse zu unserm Glücke zu leiten. Magst du die Augen von den schönen und freundlichen Aussichten abwenden,
die ich uns eröffne, magst du mir, magst du uns allen ein trauriges Entsagen gebieten, insofern du dir's möglich denkst,
insofern es möglich wäre: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen, in die alten Zustände zurückzukehren,
manches Unschickliche, Unbequeme, Verdrießliche zu übertragen, ohne dass irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus entspränge?
Würde der glückliche Zustand, in dem du dich befindest, dir wohl Freude machen, wenn du gehindert wärst, mich zu
besuchen, mit mir zu leben? Und nach dem, was vorgegangen ist, würde es doch immer peinlich sein.
Charlotte und ich würden mit allem unserm Vermögen uns nur in einer traurigen Lage befinden.
Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, dass Jahre, dass Entfernung solche Empfindungen abstumpfen,
so tief eingegrabene Züge auslöschen, so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz
und Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will. Und nun zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch
unserm äußern und innern Zustande nach das allenfalls abwarten könnten, was soll aus Ottilien werden, die unser
Haus verlassen, in der Gesellschaft unserer Vorsorge entbehren und sich in der verruchten, kalten Welt jämmerlich herumdrücken müsste!
Male mir einen Zustand, worin Ottilie ohne mich, ohne uns glücklich sein könnte, dann sollst du ein Argument ausgesprochen haben,
das stärker ist als jedes andre, das ich, wenn ich's auch nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs
Neue in Betrachtung und Überlegung ziehen will.«

Diese Aufgabe war so leicht nicht zu lösen, wenigstens fiel dem Freunde hierauf keine hinlängliche Antwort ein, und es
blieb ihm nichts übrig, als wiederholt einzuschärfen, wie wichtig, wie bedenklich und in manchem Sinne gefährlich
das ganze Unternehmen sei, und dass man wenigstens, wie es anzugreifen wäre, auf das Ernstlichste zu bedenken habe.
Eduard ließ sich's gefallen, doch nur unter der Bedingung, dass ihn der Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie
über die Sache völlig einig geworden und die ersten Schritte getan seien.
Dreizehntes Kapitel

Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr
Inneres wechselseitig heraus, und es muss eine gewisse Vertraulichkeit entstehen.
Um so mehr lässt sich erwarten, dass unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, täglich
und stündlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb.
Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major verhehlte nicht, dass Charlotte Eduarden,
als er von Reisen zurückgekommen, Ottilien zugedacht, dass sie ihm das schöne Kind in der Folge zu vermählen gemeint habe.
Eduard, bis zur Verwirrung entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne Rückhalt von der gegenseitigen
Neigung Charlottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben ausmalte.

Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr.
Er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen.
Alle Teile brauchten nur in das zu willigen, was sie wünschten; eine Scheidung war gewiss zu erlangen; eine baldige
Verbindung sollte folgen, und Eduard wollte mit Ottilien reisen.

Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge
Gatten ihr neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu genießen und einen dauernden Bund an so viel
wechselnden Zuständen zu prüfen und zu bestätigen hoffen.
Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschränkte Vollmacht haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen
und die irdischen wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit einzuleiten,
dass alle Teile zufrieden sein könnten.
Worauf jedoch Eduard am allermeisten zu fußen, wovon er sich den größten Vorteil zu versprechen schien,
war dies: da das Kind bei der Mutter bleiben sollte, so würde der Major den Knaben erziehen, ihn nach seinen Einsichten
leiten, seine Fähigkeiten entwickeln können.
Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beiderseitigen Namen Otto gegeben.

Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, dass er keinen Tag länger anstehen mochte, der Ausführung näher zu treten.
Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein Haus besaß, wo er verweilen und
die Rückkunft des Majors abwarten wollte.
Doch konnte er sich nicht überwinden, daselbst sogleich abzusteigen, und begleitete den Freund noch durch den Ort.
Sie waren beide zu Pferde, und in bedeutendem Gespräch verwickelt ritten sie zusammen weiter.

Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe, dessen rote Ziegeln sie zum ersten Mal blinken sahen.
Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgetan sein.
In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht
überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung ihrer Gesinnung nötigen.
Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie übergetragen hatte, glaubte nicht anders, als dass er ihren entschiedenen
Wünschen entgegenkomme, und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen andern Willen haben konnte.

Er sah den glücklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem Lauernden schnell verkündigt würde, sollten
einige Kanonenschläge losgebrannt werden und, wäre es Nacht geworden, einige Raketen steigen.

Der Major ritt nach dem Schlosse zu. Er fand Charlotten nicht, sondern erfuhr vielmehr, dass sie gegenwärtig oben auf
dem neuen Gebäude wohne, jetzt aber einen Besuch in der Nachbarschaft ablege, von welchem sie heute wahrscheinlich nicht so bald nach Hause komme.
Er ging in das Wirtshaus zurück, wohin er sein Pferd gestellt hatte.

Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern
und Fischern bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er
zum ersten Mal vollkommen und rein erblickte.

Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht. Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit.
So gelangte sie zu den Eichen bei der Überfahrt. Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und
fuhr fort zu lesen. Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder loslassen.
Sie vergaß Zeit und Stunde und dachte nicht, dass sie zu Lande noch einen weiten Rückweg nach dem neuen Gebäude habe;
aber sie saß versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig anzusehen, dass die Bäume, die Sträuche ringsumher
hätten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen.
Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.

Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter.
Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen.
Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen.
Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden.
Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiss auch nie an der seinigen. Er bitte sie um ihre Einwilligung. Sie zauderte, er beschwur sie;
er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin.

Eduard erblickt es und staunt. »Großer Gott!«, ruft er aus, »wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln,
so würde diese Gestalt fürchterlich gegen sie zeugen. Ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen.«

»Nicht doch!«, versetzte Ottilie; »alle Welt sagt, es gleiche mir.«
»Wär es möglich?«, versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei große,
schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen,
die vor ihm standen. Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien. »Du bist's!«, rief er aus, »deine Augen sind's.
Ach! Aber lass mich nur in die deinigen schaun. Lass mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab.
Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen Gedanken erschrecken, dass Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz
drücken und einen gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche entheiligen können? Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein
Verhältnis zu Charlotten getrennt werden muss, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es nicht sagen? Warum soll ich das harte
Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt! Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir,
wie es uns hätte verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, dass ich in den
Armen einer andern dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, dass ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur
in deinen Armen abbüßen kann!«

»Horch!«, rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuss zu hören glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte.
Es war ein Jäger, der im benachbarten Gebirg geschossen hatte. Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.

Nun erst sah Ottilie, dass die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte. Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück.
»Entferne dich, Eduard!«, rief Ottilie. »O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet.
Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind. Sie muss unser Schicksal entscheiden, lass uns ihr nicht vorgreifen.
Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muss ich dir entsagen. Da du die Entscheidung so nah glaubst, so lass uns erwarten.
Geh in das Dorf zurück, wo der Major dich vermutet. Wie manches kann vorkommen, das eine Erklärung fordert.
Ist es wahrscheinlich, dass ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg seiner Unterhandlungen verkünde?
Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick. Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich; er kann ihr entgegen gegangen sein,
denn man wusste, wo sie hin war. Wie vielerlei Fälle sind möglich! Lass mich! Jetzt muss sie kommen.
Sie erwartet mich mit dem Kinde dort oben.«

Ottilie sprach in Hast.
Sie rief sich alle Möglichkeiten zusammen. Sie war glücklich in Eduards Nähe und fühlte, dass sie ihn jetzt entfernen müsse.
»Ich bitte, ich beschwöre dich, Geliebter!«, rief sie aus, »kehre zurück und erwarte den Major!«
»Ich gehorche deinen Befehlen«, rief Eduard, indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in seine Arme schloss.
Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das Zärtlichste an ihre Brust. Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel
fällt, über ihre Häupter weg. Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum ersten Mal entschiedene,
freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.

Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht um den See. Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem
Berghause hinüber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen. Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens
ungeduldiges Harren nach dem Kinde. Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem
Gebäude hinaufführt. Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen. Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen,
verschwindet in diesem Drange. Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, dass ihr Herz pocht, dass ihre Füße schwanken, dass ihr
die Sinne zu vergehen drohn.

Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab.
Sie muss Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts.
Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn.
Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.
Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen.
Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingt's, sie zieht das Kind aus dem Wasser,
aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen.

In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees,
das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen, jemanden zu sehen! Von allem abgesondert, schwebt sie
auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente.

Sie sucht Hilfe bei sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört. Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt.
Sie entkleidet das Kind und trocknet's mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum ersten Mal dem freien Himmel;
zum ersten Mal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren
Busen bis ins innerste Herz. Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärm' und Leben.
Sie lässt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen
glaubt sie jene Hilfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind.

Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier
lässt ihr schönes Gemüt sie nicht hilflos. Sie wendet sich nach oben.
Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße
und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hilfe von daher, wo ein zartes Herz die
größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt.

Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und
treibt den Kahn nach den Platanen.
Vierzehntes Kapitel

Sie eilt nach dem neuen Gebäude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie übergibt ihm das Kind.
Der auf alles gefasste Mann behandelt den zarten Leichnam stufenweise nach gewohnter Art.
Ottilie steht ihm in allem bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd, denn das
höchste Unglück wie das höchste Glück verändert die Ansicht aller Gegenstände; und nur,
als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf schüttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst
schweigend, dann mit einem leisen Nein antwortet, verlässt sie das Schlafzimmer Charlottens, worin dies alles
geschehen, und kaum hat sie das Wohnzimmer betreten, so fällt sie, ohne das Sofa erreichen zu können,
erschöpft aufs Angesicht über den Teppich hin.

Eben hört man Charlotten vorfahren. Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend, zurückzubleiben, er will ihr entgegnen, sie
vorbereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer. Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Mädchen des Hauses stürzt ihr mit
Geschrei und Weinen entgegen. Der Chirurg tritt herein, und sie erfährt alles auf einmal. Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben!
Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu täuschen.
Sie hat sich auf ihr Sofa gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundin Kniee herangehoben, über die ihr schönes Haupt hingesenkt ist.
Der ärztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu bemühen, er bemüht sich um die Frauen.
So kommt die Mitternacht herbei, die Totenstille wird immer tiefer.
Charlotte verbirgt sich's nicht mehr, dass das Kind nie wieder ins Leben zurückkehre; sie verlangt es zu sehen.
Man hat es in warme wollne Tücher reinlich eingehüllt, in einen Korb gelegt, den man neben sie auf das Sofa setzt;
nur das Gesichtchen ist frei; ruhig und schön liegt es da.

Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich bis nach dem Gasthof erschollen.
Der Major hatte sich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt,
der in dem Angebäude etwas zu holen lief, verschaffte er sich nähere Nachricht und ließ den Chirurgen herausrufen.
Dieser kam, erstaunt über die Erscheinung seines alten Gönners, berichtete ihm die gegenwärtige Lage und
übernahm es, Charlotten auf seinen Anblick vorzubereiten. Er ging hinein, fing ein ableitendes Gespräch an und
führte die Einbildungskraft von einem Gegenstand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten vergegenwärtigte,
dessen gewisse Teilnahme, dessen Nähe dem Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche übergehen ließ.
Genug, sie erfuhr, der Freund stehe vor der Tür, er wisse alles und wünsche eingelassen zu werden.

Der Major trat herein; ihn begrüßte Charlotte mit einem schmerzlichen Lächeln.
Er stand vor ihr. Sie hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte
er nicht ohne geheimes Grausen sein erstarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so saßen sie gegeneinander über, schweigend, die Nacht hindurch.
Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie atmete sanft; sie schlief, oder sie schien zu schlafen.

Der Morgen dämmerte, das Licht verlosch, beide Freunde schienen aus einem dumpfen Traum zu erwachen.
Charlotte blickte den Major an und sagte gefasst: »Erklären Sie mir, mein Freund, durch welche Schickung
kommen Sie hieher, um teil an dieser Trauerszene zu nehmen?«

»Es ist hier«, antwortete der Major ganz leise, wie sie gefragt hatte, als wenn sie Ottilien nicht aufwecken wollten,
»es ist hier nicht Zeit und Ort, zurückzuhalten, Einleitungen zu machen und sachte heranzutreten.
Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so ungeheuer, dass das Bedeutende selbst, weshalb ich komme, dagegen seinen Wert verliert.«

Er gestand ihr darauf ganz ruhig und einfach den Zweck seiner Sendung, insofern Eduard ihn abgeschickt hatte, den Zweck seines Kommens,
insofern sein freier Wille, sein eigenes Interesse dabei war. Er trug beides sehr zart, doch aufrichtig vor; Charlotte hörte gelassen
zu und schien weder darüber zu staunen noch unwillig zu sein.

Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser Stimme, sodass er genötigt war, seinen Stuhl heranzurücken:
»In einem Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in ähnlichen habe ich mir immer gesagt: wie wird es morgen sein?
Ich fühle recht wohl, dass das Los von mehreren jetzt in meinen Händen liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir außer
Zweifel und bald ausgesprochen. Ich willige in die Scheidung. Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein
Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getötet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.
Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist,
was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen.

Doch was sag ich! Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt,
wieder in den Weg bringen. Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das schicklichste Paar zusammengedacht?
Habe ich nicht selbst beide einander zu nähern gesucht? Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans?
Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden? Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin
ihn und eine andre Gattin glücklich gemacht hätte? Und betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde!
Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewusstsein erwacht. Wie soll sie leben, wie soll sie
sich trösten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls
geraubt hat? Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn liebt.
Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles zu ersetzen. An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.

Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major. Sagen Sie Eduarden, dass ich in die Scheidung willige, dass ich ihm, Ihnen, Mittlern
die ganze Sache einzuleiten überlasse, dass ich um meine künftige Lage unbekümmert bin und es in jedem Sinne sein kann.
Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, dass ich mitwirke, dass ich bedenke,
dass ich berate.«

Der Major stand auf. Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg. Er drückte seine Lippen auf diese liebe Hand.
»Und für mich, was darf ich hoffen?«, lispelte er leise.

»Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben«, versetzte Charlotte. »Wir haben nicht verschuldet, unglücklich
zu werden, aber auch nicht verdient, zusammen glücklich zu sein.«

Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können.
Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als
den vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem Recht
sein Ebenbild trüge als der abgeschiedene.

So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der
die ganze Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte.
Er wusste bereits von dem Unglück, und auch er, anstatt das arme Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sich's ganz
gestehen zu wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück auf einmal beseitigt wäre.
Gar leicht ließ er sich daher durch den Major bewegen, der ihm schnell den Entschluss seiner Gattin verkündigte,
wieder nach jenem Dorfe und sodann nach der kleinen Stadt zurückzukehren, wo sie das Nächste überlegen und einleiten wollten.

Charlotte saß, nachdem der Major sie verlassen hatte, nur wenige Minuten in ihre Betrachtungen versenkt; denn sogleich richtete
Ottilie sich auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend. Erst erhob sie sich von dem Schoße, dann von der Erde und
stand vor Charlotten.

»Zum zweiten Mal«, so begann das herrliche Kind mit einem unüberwindlichen, anmutigen Ernst, »zum
zweiten Mal widerfährt mir dasselbe. Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft Ähnliches auf ähnliche
Weise und immer in bedeutenden Augenblicken. Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis zu machen.
Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemel an dich gerückt; du saßest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte.
Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern und, wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, dass ich meiner selbst mich bewusst fühlte.
Damals sprachst du mit einer Freundin über mich; du bedauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du schildertest meine abhängige Lage und wie misslich es um mich stehen könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte.
Ich fasste alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für mich zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst.
Ich machte mir nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze; nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen eingerichtet zu der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da du mich in dein Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach.

Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren, und nach einem schrecklichen Ereignis klärst du mich wieder über meinen Zustand auf, der jammervoller ist als der erste.
Auf deinem Schoße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm ich abermals deine leise Stimme über meinem Ohr; ich vernehme, wie es mit mir selbst aussieht; ich schaudere über mich selbst; aber wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Totenschlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet.

Ich bin entschlossen, wie ich's war, und wozu ich entschlossen bin, musst du gleich erfahren.
Eduards werd ich nie! Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin.
Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen!
Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Maßregeln. Lass den Major zurückkommen; schreibe ihm, dass keine Schritte geschehen.
Wie ängstlich war mir, dass ich mich nicht rühren und regen konnte, als er ging.
Ich wollte auffahren, aufschreien: du solltest ihn nicht mit so frevelhaften Hoffnungen entlassen.«

Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie empfand ihn; aber sie hoffte durch Zeit und Vorstellungen etwas über sie zu gewinnen.
Doch als sie einige Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine Milderung des Schmerzes, auf Hoffnung deuteten: »Nein!«,
rief Ottilie mit Erhebung; »sucht mich nicht zu bewegen, nicht zu hintergehen!
In dem Augenblick, in dem ich erfahre, du habest in die Scheidung gewilligt, büße ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen.«
Fünfzehntes Kapitel

Wenn sich in einem glücklichen, friedlichen Zusammenleben Verwandte, Freunde, Hausgenossen, mehr als nötig und billig ist,
von dem unterhalten, was geschieht oder geschehen soll, wenn sie sich einander ihre Vorsätze, Unternehmungen, Beschäftigungen
wiederholt mitteilen und, ohne gerade wechselseitigen Rat anzunehmen, doch immer das ganze Leben gleichsam ratschlagend behandeln,
so findet man dagegen in wichtigen Momenten, eben da, wo es scheinen sollte, der Mensch bedürfe fremden Beistandes, fremder
Bestätigung am allermeisten, dass sich die einzelnen auf sich selbst zurückziehen, jedes für sich zu handeln,
jedes auf seine Weise zu wirken strebt und, indem man sich einander die einzelnen Mittel verbirgt, nur erst der Ausgang, die
Zwecke, das Erreichte wieder zum Gemeingut werden.

Nach so viel wundervollen und unglücklichen Ereignissen war denn auch ein gewisser stiller Ernst über die Freundinnen
gekommen, der sich in einer liebenswürdigen Schonung äußerte. Ganz in der Stille hatte Charlotte das Kind nach der Kapelle gesendet.
Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses.

Charlotte kehrte sich, soviel es ihr möglich war, gegen das Leben zurück, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes bedurfte.
Sie beschäftigte sich vorzüglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu lassen.
Sie wusste, wie sehr das himmlische Kind Eduarden liebte; sie hatte nach und nach die Szene, die dem Unglück vorhergegangen war,
herausgeforscht und jeden Umstand teils von Ottilien selbst, teils durch Briefe des Majors erfahren.

Ottilie von ihrer Seite erleichterte Charlotten sehr das augenblickliche Leben.
Sie war offen, ja gesprächig, aber niemals war von dem Gegenwärtigen oder kurz Vergangenen die Rede.
Sie hatte stets aufgemerkt, stets beobachtet, sie wusste viel; das kam jetzt alles zum Vorschein.
Sie unterhielt, sie zerstreute Charlotten, die noch immer die stille Hoffnung nährte, ein ihr so wertes Paar verbunden zu sehen.

Allein bei Ottilien hing es anders zusammen. Sie hatte das Geheimnis ihres Lebensganges der Freundin entdeckt; sie war von ihrer frühen
Einschränkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden. Durch ihre Reue, durch ihren Entschluss fühlte sie sich auch befreit von
der Last jenes Vergehens, jenes Missgeschicks. Sie bedurfte keiner Gewalt mehr über sich selbst; sie hatte sich in der Tiefe
ihres Herzens nur unter der Bedingung des völligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war für alle Zukunft unerlässlich.

So verfloss einige Zeit, und Charlotte fühlte, wie sehr Haus und Park, Seen, Felsen- und Baumgruppen nur traurige Empfindungen
täglich in ihnen beiden erneuerten. Dass man den Ort verändern müsse, war allzu deutlich, wie es geschehen solle,
nicht so leicht zu entscheiden.

Sollten die beiden Frauen zusammenbleiben? Eduards früherer Wille schien es zu gebieten, seine Erklärung,
seine Drohung es nötig zu machen; allein wie war es zu verkennen, dass beide Frauen mit allem guten Willen, mit aller Vernunft,
mit aller Anstrengung sich in einer peinlichen Lage nebeneinander befanden? Ihre Unterhaltungen waren vermeidend.
Manchmal mochte man gern etwas nur halb verstehen, öfters wurde aber doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Verstand,
wenigstens durch die Empfindung missdeutet. Man fürchtet sich zu verletzen, und gerade die Furcht war am Ersten
verletzbar und verletzte am Ersten.

Wollte man den Ort verändern und sich zugleich, wenigstens auf einige Zeit, voneinander trennen, so trat die alte
Frage wieder hervor, wo sich Ottilie hinbegeben solle. Jenes große, reiche Haus hatte vergebliche Versuche gemacht, einer
hoffnungsvollen Erbtochter unterhaltende und wetteifernde Gespielinnen zu verschaffen. Schon bei der letzten Anwesenheit der Baronesse
und neuerlich durch Briefe war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden; jetzt brachte sie es abermals zur Sprache.
Ottilie verweigerte aber ausdrücklich, dahin zu gehen, wo sie dasjenige finden würde, was man große Welt zu nennen pflegt.

»Lassen Sie mich, liebe Tante«, sagte sie, »damit ich nicht eingeschränkt und eigensinnig erscheine,
dasjenige aussprechen, was zu verschweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht wäre. Ein seltsam unglücklicher Mensch,
und wenn er auch schuldlos wäre, ist auf eine fürchterliche Weise gezeichnet. Seine Gegenwart erregt in allen, die ihn sehen,
die ihn gewahr werden, eine Art von Entsetzen. Jeder will das Ungeheure ihm ansehen, was ihm auferlegt ward; jeder ist neugierig und
ängstlich zugleich. So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure Tat geschehen, jedem furchtbar, der sie betritt.
Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu verlieren.

Wie groß und doch vielleicht zu entschuldigen ist gegen solche Unglückliche die Indiskretion der Menschen,
ihre alberne Zudringlichkeit und ungeschickte Gutmütigkeit! Verzeihen Sie mir, dass ich so rede; aber ich habe unglaublich
mit jenem armen Mädchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauses hervorzog, sich freundlich mit ihm
beschäftigte, es in der besten Absicht zu Spiel und Tanz nötigen wollte, als das arme Kind bange und immer bänger
zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in meine Arme fasste, die Gesellschaft erschreckt, aufgeregt und jeder erst recht
neugierig auf die Unglückselige ward, da dachte ich nicht, dass mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber mein Mitgefühl,
so wahr und lebhaft, ist noch lebendig. Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden und mich hüten, dass ich nicht
zu ähnlichen Auftritten Anlass gebe.«

»Du wirst aber, liebes Kind«, versetzte Charlotte, »dem Anblick der Menschen dich nirgends entziehen können.
Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt für solche Gefühle zu finden war.«

»Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante«, versetzte Ottilie. »Die schätzenswerteste Freistatt
ist da zu suchen, wo wir tätig sein können. Alle Büßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet, uns einem
ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen entschieden ist. Nur wenn ich im müßigen Zustande der Welt zur
Schau dienen soll, dann ist sie mir widerwärtig und ängstigt mich. Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet
in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die göttlichen nicht zu scheuen brauche.«

»Ich müsste mich sehr irren«, versetzte Charlotte, »wenn deine Neigung dich nicht zur Pension
zurückzöge«.

»Ja«, versetzte Ottilie, »ich leugne es nicht; ich denke es mir als eine glückliche
Bestimmung, andre auf dem gewöhnlichen Wege zu erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden. Und sehen
wir nicht in der Geschichte, dass Menschen, die wegen großer sittlicher Unfälle sich in die Wüsten
zurückzogen, dort keineswegs, wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren? Sie wurden zurückgerufen in die Welt,
um die Verirrten auf den rechten Weg zu führen; und wer konnte es besser als die in den Irrgängen des Lebens schon
Eingeweihten! Sie wurden berufen, den Unglücklichen beizustehen; und wer vermochte das eher als sie, denen kein irdisches
Unheil mehr begegnen konnte!«

»Du wählst eine sonderbare Bestimmung«, versetzte Charlotte. »Ich will dir nicht widerstreben; es mag sein,
wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit.«

»Wie sehr danke ich Ihnen«, sagte Ottilie, »dass Sie mir diesen Versuch, diese Erfahrung gönnen wollen.
Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir glücken. An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Prüfungen ich
ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen die, die ich nachher erfahren musste. Wie heiter werde ich die Verlegenheiten
der jungen Ausschößlinge betrachten, bei ihren kindlichen Schmerzen lächeln und sie mit leiser Hand aus allen kleinen
Verirrungen herausführen. Der Glückliche ist nicht geeignet, Glücklichen vorzustehen; es liegt in der menschlichen Natur,
immer mehr von sich und von andern zu fordern, je mehr man empfangen hat. Nur der Unglückliche, der sich erholt, weiß für
sich und andere das Gefühl zu nähren, dass auch ein mäßiges Gute mit Entzücken genossen werden soll.«

»Lass mich gegen deinen Vorsatz«, sagte Charlotte zuletzt nach einigem Bedenken, »noch einen Einwurf
anführen, der mir der wichtigste scheint. Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede.
Die Gesinnungen des guten, vernünftigen, frommen Gehilfen sind dir bekannt; auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm
jeden Tag werter und unentbehrlicher sein. Da er schon jetzt seinem Gefühl nach nicht gern ohne dich leben mag, so wird er auch
künftig, wenn er einmal deine Mitwirkung gewohnt ist, ohne dich sein Geschäft nicht mehr verwalten können.
Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu verleiden.«

»Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren«, versetzte Ottilie, »und wer mich liebt, hat vielleicht
nicht viel Besseres zu erwarten. So gut und verständig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich in ihm auch die
Empfindung eines reinen Verhältnisses zu mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch
ein ungeheures Übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das,
uns unsichtbar umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen kann.«

Charlotte nahm alles, was das liebe Kind so herzlich geäußert, zur stillen Überlegung.
Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das Leiseste, angeforscht, ob nicht eine Annäherung Ottiliens zu Eduard denkbar
sei; aber auch nur die leiseste Erwähnung, die mindeste Hoffnung, der kleinste Verdacht schien Ottilien aufs Tiefste zu
rühren, ja sie sprach sich einst, da sie es nicht umgehen konnte, hierüber ganz deutlich aus.

»Wenn dein Entschluss«, entgegnete ihr Charlotte, »Eduarden zu entsagen, so fest und unveränderlich
ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens. In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je
lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie
sich nach außen erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn
dasjenige, was wir entbehren zu können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht.
Tue jetzt, was du deinen Zuständen am gemäßesten hältst; prüfe dich, ja verändre lieber
deinen gegenwärtigen Entschluss: aber aus dir selbst, aus freiem, wollendem Herzen.
Lass dich nicht zufällig, nicht durch Überraschung in die vorigen Verhältnisse wieder hineinziehen;
dann gibt es erst einen Zwiespalt im Gemüt, der unerträglich ist.
Wie gesagt, ehe du diesen Schritt tust, ehe du dich von mir entfernst und ein neues Leben anfängst, das dich wer weiß
auf welche Wege leitet, so bedenke noch einmal, ob du denn wirklich für alle Zukunft Eduarden entsagen kannst.
Hast du dich aber hierzu bestimmt, so schließen wir einen Bund, dass du dich mit ihm nicht einlassen willst,
selbst nicht in eine Unterredung, wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir drängen sollte.«
Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten das Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte.

Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der Seele, dass er Ottilien nur so lange entsagen
könne, als sie sich von Charlotten nicht trennte.
Es hatten sich zwar seit der Zeit die Umstände so verändert, es war so mancherlei vorgefallen, dass jenes
vom Augenblick ihm abgedrungene Wort gegen die folgenden Ereignisse für aufgehoben zu achten war; dennoch
wollte sie auch im entferntesten Sinne weder etwas wagen noch etwas vornehmen, das ihn verletzen könnte,
und so sollte Mittler in diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen.

Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten öfters, obgleich nur auf Augenblicke, besucht.
Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung beider Gatten höchst unwahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn;
aber immer nach seiner Sinnesweise hoffend und strebend, freute er sich nun im Stillen über den Entschluss Ottiliens.
Er vertraute der lindernden, vorüberziehenden Zeit, dachte noch immer die beiden Gatten zusammenzuhalten und sah diese
leidenschaftlichen Bewegungen nur als Prüfungen ehelicher Liebe und Treue an.

Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster Erklärung schriftlich unterrichtet, ihn auf das Inständigste
gebeten, Eduarden dahin zu vermögen, dass keine weiteren Schritte geschähen, dass man sich ruhig verhalte, dass man
abwarte, ob das Gemüt des schönen Kindes sich wieder herstelle. Auch von den spätern Ereignissen und Gesinnungen
hatte sie das Nötige mitgeteilt, und nun war freilich Mittlern die schwierige Aufgabe übertragen, auf eine Veränderung
des Zustandes Eduarden vorzubereiten. Mittler aber, wohl wissend, dass man das Geschehene sich eher gefallen lässt, als
dass man in ein noch zu Geschehendes einwilligt, überredete Charlotten, es sei das beste, Ottilien gleich nach der Pension zu schicken.

Deshalb wurden, sobald er weg war, Anstalten zur Reise gemacht. Ottilie packte zusammen, aber Charlotte sah wohl, dass sie weder das
schöne Köfferchen noch irgend etwas daraus mitzunehmen sich anschickte. Die Freundin schwieg und ließ das schweigende Kind
gewähren. Der Tag der Abreise kam herbei; Charlottens Wagen sollte Ottilien den ersten Tag bis in ein bekanntes Nachtquartier,
den zweiten bis in die Pension bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerin bleiben. Das leidenschaftliche Mädchen hatte
sich gleich nach dem Tode des Kindes wieder an Ottilien zurückgefunden und hing nun an ihr wie sonst durch Natur und Neigung,
ja sie schien durch unterhaltende Redseligkeit das bisher Versäumte wieder nachbringen und sich ihrer geliebten Herrin völlig
widmen zu wollen. Ganz außer sich war sie nun über das Glück, mitzureisen, fremde Gegenden zu sehen, da sie noch
niemals außer ihrem Geburtsort gewesen, und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Eltern, Verwandten, um ihr Glück zu
verkündigen und Abschied zu nehmen. Unglücklicherweise traf sie dabei in die Zimmer der Maserkranken und empfand sogleich
die Folgen der Ansteckung. Man wollte die Reise nicht aufschieben; Ottilie drang selbst darauf; sie hatte den Weg schon gemacht, sie
kannte die Wirtsleute, bei denen sie einkehren sollte; der Kutscher vom Schlosse führte sie; es war nichts zu besorgen.

Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus diesen Umgebungen weg, nur wollte sie noch die Zimmer, die
Ottilie im Schloss bewohnt hatte, wieder für Eduarden einrichten, gerade so wie sie vor der Ankunft des Hauptmanns gewesen.
Die Hoffnung, ein altes Glück wieder herzustellen, flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu
solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genötigt.
Sechzehntes Kapitel

Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden über die Sache zu unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die
rechte Hand gelehnt, den Arm auf den Tisch gestemmt. Er schien sehr zu leiden. »Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder?«,
fragte Mittler. »Es plagt mich«, versetzte jener; »und doch kann ich es nicht hassen, denn es erinnert
mich an Ottilien. Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm gestützt, und leidet wohl mehr als ich.
Und warum soll ich es nicht tragen wie sie? Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beinah sagen, wünschenswert;
denn nur mächtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen
begleitet, vor der Seele, nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen alle die großen Eigenschaften, die nötig
sind, um es zu ertragen.«

Als Mittler den Freund in diesem Grade resigniert fand, hielt er mit seinem Anbringen nicht zurück, das er jedoch
stufenweise, wie der Gedanke bei den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz gereift war, historisch vortrug.
Eduard äußerte sich kaum dagegen. Aus dem Wenigen, was er sagte, schien hervorzugehen, dass er jenen alles
überlasse; sein gegenwärtiger Schmerz schien ihn gegen alles gleichgültig gemacht zu haben.

Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und wider.
Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich beschäftigt.
Schon unter Mittlers Erzählung hatte die Einbildungskraft des Liebenden sich lebhaft ergangen.
Er sah Ottilien allein oder so gut als allein auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohnten Wirtshause, dessen Zimmer er
so oft betreten; er dachte, er überlegte, oder vielmehr er dachte, er überlegte nicht; er wünschte, er wollte nur.
Er musste sie sehn, sie sprechen. Wozu, warum, was daraus entstehen sollte, davon konnte die Rede nicht sein.
Er widerstand nicht, er musste.

Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen und erforschte sogleich Tag und Stunde, wann Ottilie reisen würde.
Der Morgen brach an; Eduard säumte nicht, unbegleitet sich zu Pferde dahin zu begeben, wo Ottilie übernachten sollte.
Er kam nur allzu zeitig dort an; die überraschte Wirtin empfing ihn mit Freuden; sie war ihm ein großes
Familienglück schuldig geworden. Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav gehalten, ein Ehrenzeichen verschafft,
indem er dessen Tat, wobei er allein gegenwärtig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn brachte und die
Hindernisse einiger Misswollenden überwand. Sie wusste nicht, was sie ihm alles zuliebe tun sollte.
Sie räumte schnell in ihrer Putzstube, die freilich auch zugleich Garderobe und Vorratskammer war, möglichst zusammen;
allein er kündigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen sollte, und ließ für sich
eine Kammer hinten auf dem Gange notdürftig einrichten. Der Wirtin erschien die Sache geheimnisvoll, und es war ihr
angenehm, ihrem Gönner, der sich dabei sehr interessiert und tätig zeigte, etwas Gefälliges zu erweisen.
Und er, mit welcher Empfindung brachte er die lange, lange Zeit bis zum Abend hin! Er betrachtete das Zimmer rings umher,
in dem er sie sehen sollte; es schien ihm in seiner ganzen häuslichen Seltsamkeit ein himmlischer Aufenthalt.
Was dachte er sich nicht alles aus, ob er Ottilien überraschen, ob er sie vorbereiten sollte! Endlich gewann die
letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und schrieb. Dies Blatt sollte sie empfangen.
Eduard an Ottilien
Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Nähe.
Du musst nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir nichts zu befürchten.
Ich werde mich nicht zu dir drängen.
Du siehst mich nicht eher, als du es erlaubst.
Bedenke vorher deine Lage, die meinige. Wie sehr danke ich dir, dass du keinen entscheidenden Schritt zu tun vorhast;
aber bedeutend genug ist er. Tu ihn nicht! Hier, auf einer Art von Scheideweg, überlege nochmals: kannst du mein sein,
willst du mein sein? O du erzeigst uns allen eine große Wohltat und mir eine überschwängliche.
Lass mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen. Lass mich die schöne Frage mündlich tun und
beantworte sie mir mit deinem schönen Selbst. An meine Brust, Ottilie! Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo
du immer hingehörst!

Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es werde nun gleich gegenwärtig sein.
Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen,
deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehnte.
Wird sie noch dieselbe sein? Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verändert?
Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof.
Mit flüchtiger Feder setzte er noch hinzu: »Ich höre dich kommen. Auf einen Augenblick leb wohl!«

Er faltete den Brief, überschrieb ihn; zum Siegeln war es zu spät.
Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wusste, und augenblicks fiel ihm ein, dass
er die Uhr mit dem Petschaft noch auf dem Tisch gelassen. Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurück
und holte sie glücklich weg. Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer losging, um es dem Gast anzuweisen.
Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren. Den Schlüssel hatte er beim Hineinspringen
heruntergeworfen, der lag inwendig; das Schloss war zugeschnappt, und er stund gebannt. Heftig drängte er an der
Türe; sie gab nicht nach. O wie hätte er gewünscht, als ein Geist durch die Spalten zu schlüpfen! Vergebens!
Er verbarg sein Gesicht an den Türpfosten. Ottilie trat herein, die Wirtin, als sie ihn erblickte, zurück.
Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick verborgen bleiben.
Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegeneinander.
Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor- oder zurückzugehen, und als er eine Bewegung machte, sich ihr zu
nähern, trat sie einige Schritte zurück bis an den Tisch.
Auch er trat wieder zurück. »Ottilie«, rief er aus, »lass mich das furchtbare Schweigen brechen!
Sind wir nur Schatten, die einander gegenüber stehen? Aber vor allen Dingen höre!
Es ist ein Zufall, dass du mich gleich jetzt hier findest. Neben dir liegt ein Brief, der dich vorbereiten sollte.
Lies, ich bitte dich, lies ihn! Und dann beschließe, was du kannst.«

Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie ihn auf, erbrach und las ihn.
Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn gelesen, und so legte sie ihn leise weg; dann drückte sie die flachen,
in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts
neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, dass er von allem abzustehen genötigt war,
was er verlangen oder wünschen mochte. Diese Bewegung zerriss ihm das Herz.
Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen. Es sah völlig aus, als würde sie
in die Kniee sinken, wenn er beharrte. Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der Einsamen.

Er ging auf dem Vorsaal auf und ab. Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille.
Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schlüssel ab.
Die gute Frau war gerührt, war verlegen, sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Zuletzt im Weggehen bot sie den Schlüssel Eduarden an, der ihn ablehnte.
Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.

Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit seinen Tränen benetzte.
Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Nähe Liebende eine Nacht zu.

Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloss auf und trat in das Zimmer.
Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging zurück und winkte Eduarden mit einem
teilnehmenden Lächeln. Beide traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte
Eduard nicht auszuhalten. Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich gegenüber.
Endlich schlug Ottilie die schönen Augen auf und richtete sich auf ihre Füße.
Sie lehnte das Frühstück ab, und nun tritt Eduard vor sie. Er bittet sie inständig, nur ein
Wort zu reden, ihren Willen zu erklären. Er wolle allen ihren Willen, schwört er; aber sie schweigt.
Nochmals fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehören wolle. Wie lieblich bewegt sie mit
niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu einem sanften Nein! Er fragt, ob sie nach der Pension wolle. Gleichgültig
verneint sie das. Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurückführen dürfe, bejaht sie's mit
einem getrosten Neigen des Hauptes. Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm weg
ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem Wagen. Der Kutscher nimmt den Weg nach dem
Schlosse zurück; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung.
Siebzehntes Kapitel

Wie höchst überrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pferde
sogleich in den Schlosshof hereinsprengen sah! Sie eilte bis zur Türschwelle.
Ottilie steigt aus und nähert sich mit Eduarden.
Mit Eifer und Gewalt fasst sie die Hände beider Ehegatten, drückt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer.
Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen; er kann sich nicht erklären, bittet,
Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beizustehen, ihr zu helfen. Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert,
da sie hineintritt; es war schon ganz ausgeräumt, nur die leeren Wände standen da.
Es erschien so weitläufig als unerfreulich. Man hatte alles weggetragen, nur das Köfferchen, unschlüssig,
wo man es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehen gelassen.
Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt über den Koffer gestreckt.
Charlotte bemüht sich um sie, fragt, was vorgegangen, und erhält keine Antwort.

Sie lässt ihr Mädchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und eilt zu Eduarden.
Sie findet ihn im Saal; auch er belehrt sie nicht.
Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Hände in Tränen, er flieht auf sein Zimmer, und als sie
ihm nachfolgen will, begegnet ihr der Kammerdiener, der sie aufklärt, soweit er vermag.
Das übrige denkt sie sich zusammen und dann sogleich mit Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert.
Ottiliens Zimmer ist aufs Baldigste wieder eingerichtet.
Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er sie verlassen.

Die dreie scheinen sich wieder gegeneinander zu finden, aber Ottilie fährt fort zu schweigen, und Eduard
vermag nichts, als seine Gattin um Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint.
Charlotte sendet Boten an Mittlern und an den Major.
Jener war nicht anzutreffen, dieser kommt.
Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden kleinsten Umstand, und so erfährt
Charlotte, was begegnet, was die Lage so sonderbar verändert, was die Gemüter aufgeregt.

Sie spricht aufs Liebevollste mit ihrem Gemahl. Sie weiß keine andere Bitte zu tun als nur, dass man das Kind
gegenwärtig nicht bestürmen möge.
Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich.
Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen.
Er traut nicht; er ist so krank, dass ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll
dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen.
Charlotte, ihn zu besänftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert.
Sie sagt dem Major ihre Hand zu auf den Fall, dass Ottilie sich mit Eduarden verbinden wolle, jedoch unter
ausdrücklicher Bedingung, dass die beiden Männer für den Augenblick zusammen eine Reise machen.
Der Major hat für seinen Hof ein auswärtiges Geschäft, und Eduard verspricht, ihn zu begleiten.
Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem wenigstens etwas geschieht.

Unterdessen kann man bemerken, dass Ottilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt.
Man redet ihr zu, sie wird ängstlich; man unterlässt es.
Denn haben wir nicht meistenteils die Schwäche, dass wir jemanden auch zu seinem Besten nicht gern quälen mögen?
Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken, jenen Gehilfen aus der Pension kommen zu lassen,
der über Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr freundlich geäußert,
aber keine Antwort erhalten hatte.

Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in ihrer Gegenwart.
Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein Entschluss in ihr zu reifen, sie eilt nach
ihrem Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.
Ottilie den Freunden
Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von selbst versteht?
Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.
Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich
mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.
Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu entfernen.
Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.
Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir.
Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet.
Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.
Ein strenges Ordensgelübde, welches den, der es mit Überlegung eingeht, vielleicht unbequem ängstiget,
habe ich zufällig, vom Gefühl gedrungen, über mich genommen. Lasst mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.
Beruft keine Mittelsperson! Dringt nicht in mich, dass ich reden, dass ich mehr Speise und Trank genießen soll,
als ich höchstens bedarf. Helft mir durch Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg.
Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart, erfreut mich durch eure Liebe,
belehrt mich durch eure Unterhaltung; aber mein Innres überlasst mir selbst!

Die längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes auswärtige Geschäft des Majors
sich verzögerte. Wie erwünscht für Eduard! Nun durch Ottiliens Blatt aufs Neue angeregt, durch ihre trostvollen,
Hoffnung gebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.
»Wie töricht«, rief er aus, »das Unentbehrlichste, Notwendigste vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen,
das, wenn uns auch der Verlust bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre! Und was soll es heißen?
Doch nur, dass der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können. So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen
Dünkel, Stunden, ja Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem letzten, unausweichlichen
Termin entschieden gezwungen zu werden. Diesmal aber will ich bleiben. Warum soll ich mich entfernen?
Ist sie nicht schon von mir entfernt? Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu drücken;
sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir. Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben.«

Und so blieb er, wie er wollte, wie er musste. Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.
Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.
Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus.
Sie wohnten unter einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu denken, mit andern Dingen beschäftigt,
von der Gesellschaft hin und her gezogen, näherten sie sich einander. Fanden sie sich in einem Saale, so dauerte
es nicht lange, und sie standen, sie saßen nebeneinander. Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen,
aber auch völlig beruhigen, und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner
Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins.
Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur ein Mensch im bewusstlosen, vollkommnen Behagen, mit sich
selbst zufrieden und mit der Welt. Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten,
das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt.
Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden.

Ottilie war durchaus heiter und gelassen, sodass man sich über sie völlig beruhigen konnte.
Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft, nur hatte sie es erlangt, allein zu speisen.
Niemand als Nanny bediente sie.

Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr, als man glaubt, weil seine Natur hiezu
die nächste Bestimmung gibt. Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, Örtlichkeit, Umgebungen und
Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt,
worin es ihm allein bequem und behaglich ist. Und so finden wir die Menschen, über deren Veränderlichkeit so
viele Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert und nach äußern und
innern unendlichen Anregungen unveränderlich. So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde
fast alles wieder in dem alten Gleise. Noch immer äußerte Ottilie stillschweigend durch manche Gefälligkeit
ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art. Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein
Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim Alten sei, war verzeihlich.

Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen die Gesellschaft um eben die Stunde aus
dem Freien ins Haus zurück. Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ glauben,
als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen.
Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesäet hatte; nun reiften Früchte
an den Bäumen, die man damals blühen gesehen.

Der Major ging ab und zu; auch Mittler ließ sich öfter sehen. Die Abendsitzungen waren meistens
regelmäßig. Eduard las gewöhnlich, lebhafter, gefühlvoller, besser, ja sogar heiterer, wenn man will,
als jemals. Es war, als wenn er, so gut durch Fröhlichkeit als durch Gefühl, Ottiliens Erstarren wieder beleben,
ihr Schweigen wieder auflösen wollte. Er setzte sich wie vormals, dass sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er ward unruhig,
zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiss war, dass sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.

Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war ausgelöscht. Keines trug mehr dem andern etwas nach;
jede Art von Bitterkeit war verschwunden. Der Major begleitete mit der Violine das Klavierspiel Charlottens, so wie Eduards
Flöte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments wieder wie vormals zusammentraf. So rückte man dem Geburtstage
Eduards näher, dessen Feier man vor einem Jahre nicht erreicht hatte. Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem
Behagen diesmal gefeiert werden. So war man, halb stillschweigend halb ausdrücklich, miteinander überein gekommen.
Doch je näher diese Epoche heranrückte, vermehrte sich das Feierliche in Ottiliens Wesen, das man bisher mehr
empfunden als bemerkt hatte. Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gärtner angedeutet, die
Sommergewächse aller Art zu schonen, und sich besonders bei den Astern aufgehalten, die gerade dieses Jahr in
unmäßiger Menge blühten.
Achtzehntes Kapitel

Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit beobachteten, war, dass Ottilie den Koffer
zum ersten Mal ausgepackt und daraus Verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem einzigen,
aber ganzen und vollen Anzug hinreichte.
Als sie das Übrige mit Beihilfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte sie kaum damit zu Stande kommen; der
Raum war übervoll, obgleich schon ein Teil herausgenommen war.
Das junge habgierige Mädchen konnte sich nicht satt sehen, besonders da sie auch für alle kleineren
Stücke des Anzugs gesorgt fand.
Schuhe, Strümpfe, Strumpfbänder mit Devisen, Handschuhe und so manches andere war noch übrig.
Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken.
Diese verweigerte es, zog aber sogleich die Schublade einer Kommode heraus und ließ das Kind wählen,
das hastig und ungeschickt zugriff und mit der Beute gleich davonlief, um den übrigen Hausgenossen ihr
Glück zu verkünden und vorzuzeigen.

Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten; sie öffnete hierauf ein verborgenes
Fach, das im Deckel angebracht war.
Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer
Spaziergänge, eine Locke ihres Geliebten und was sonst noch verborgen.
Noch eins fügte sie hinzu, es war das Porträt ihres Vaters, und verschloss das Ganze, worauf sie
den zarten Schlüssel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing.

Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege geworden.
Charlotte war überzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu sprechen anfangen; denn sie hatte bisher
eine heimliche Geschäftigkeit bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein Lächeln,
wie es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt.
Niemand wusste, dass Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit hinbrachte, aus der sie sich
nur für die Zeiten, wo sie erschien, durch Geisteskraft empor hielt.

Mittler hatte sich diese Zeit öfters sehen lassen und war länger geblieben als sonst gewöhnlich.
Der hartnäckige Mann wusste nur zu wohl, dass es einen gewissen Moment gibt, wo allein das Eisen zu schmieden ist.
Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten aus.
Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten geschehen; er hoffte das Schicksal des guten Mädchens
auf irgendeine andere günstige Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und
führte sich nach seiner Weise klug genug auf.

Allein überwältigt war er stets, sobald er Anlass fand, sein Räsonnement über Materien zu
äußern, denen er eine große Wichtigkeit beilegte.
Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich gewöhnlich nur handelnd gegen sie.
Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon öfter gesehen haben, so rollte sie ohne
Rücksicht fort, verletzte oder heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fügen mochte.

Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major, Eduarden, der ausgeritten war, erwartend
beisammen; Mittler ging im Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den morgenden Schmuck
auseinander legend und ihrem Mädchen manches andeutend, welches sie vollkommen verstand und die stummen
Anordnungen geschickt befolgte.

Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu behaupten, dass sowohl
bei der Erziehung der Kinder als bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei
als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.
»Der Mensch ist von Hause aus tätig«, sagte er; »und wenn man ihm zu gebieten versteht,
so fährt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus.
Ich für meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange dulden, bis ich die
entgegengesetzte Tugend gebieten kann, als dass ich den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle sähe.
Der Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmäßige, wenn er nur dazu kommen kann; er tut es,
damit er was zu tun hat, und sinnt darüber nicht weiter nach als über alberne Streiche, die er
aus Müßiggang und langer Weile vornimmt.

Wie verdrießlich ist mir's oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote in der Kinderlehre
wiederholen lässt. Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot.
›Du sollst Vater und Mutter ehren‹. Wenn sich das die Kinder recht in den Sinn schreiben,
so haben sie den ganzen Tag daran auszuüben. Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?
›Du sollst nicht töten.‹ Als wenn irgendein Mensch im Mindesten Lust hätte, den andern totzuschlagen!
Man hasst einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von dem und manchem
andern kann es wohl kommen, dass man gelegentlich einen totschlägt. Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt,
den Kindern Mord und Totschlag zu verbieten? Wenn es hieße: sorge für des andern Leben, entferne,
was ihm schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn beschädigst, denke, dass du dich selbst
beschädigst: das sind Gebote, wie sie unter gebildeten, vernünftigen Völkern
statthaben und die man bei der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem ›Was ist das?‹ nachschleppt.

Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich! Was? Die Neugierde vorahnender Kinder auf gefährliche
Mysterien reizen, ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen aufregen, die gerade das, was
man entfernen will, mit Gewalt heranbringen!
Weit besser wäre es, dass dergleichen von einem heimlichen Gericht willkürlich bestraft würde,
als dass man vor Kirch und Gemeinde davon plappern lässt.«

In dem Augenblick trat Ottilie herein. »Du sollst nicht ehebrechen«, fuhr Mittler fort.
»Wie grob, wie unanständig!
Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: du sollst Ehrfurcht haben vor der ehelichen
Verbindung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich darüber freuen und teil daran
nehmen wie an dem Glück eines heitern Tages.
Sollte sich irgend in ihrem Verhältnis etwas trüben, so sollst du suchen, es aufzuklären;
du sollst suchen, sie zu begütigen, sie zu besänftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile
deutlich zu machen, und mit schöner Uneigennützigkeit das Wohl der andern fördern,
indem du ihnen fühlbar machst, was für ein Glück aus jeder Pflicht und besonders
aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unauflöslich verbindet.«

Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um so ängstlicher, als sie überzeugt war, dass
Mittler nicht wusste, was und wo er's sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie schon Ottilien, deren Gestalt
sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer gehen.

»Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot«, sagte Charlotte mit erzwungenem Lächeln.
»Alle die übrigen«, versetzte Mittler, »wenn ich nur das rette, worauf die andern beruhen«.

Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny: »Sie stirbt! Das Fräulein stirbt! Kommen Sie!
Kommen Sie!«

Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen war, lag der morgende Schmuck auf mehreren
Stühlen völlig ausgebreitet, und das Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her ging, rief
jubelnd aus: »Sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein Brautschmuck, ganz Ihrer wert!«

Ottilie vernahm diese Worte und sank auf das Sofa. Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie läuft
zu Charlotten; man kommt. Der ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine Erschöpfung.
Er lässt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg, ja sie fällt fast
in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert.
Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was Ottilie heute genossen habe.
Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Mädchen bekennt, Ottilie habe nichts genossen.

Nanny scheint ihm ängstlicher als billig.
Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft sich auf die Kniee, sie
gesteht, dass Ottilie schon lange so gut wie nichts genieße.
Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen; verschwiegen habe sie es wegen bittender
und drohender Gebärden ihrer Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so gut geschmeckt.

Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in Gesellschaft des Arztes.
Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewusst, wie es schien, in der Ecke des Sofas.
Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigert's, winkt aber, dass man das Köfferchen herbeibringe.
Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb liegenden, bequemen Stellung.
Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebärden drücken den Umstehenden die zarteste
Anhänglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl.

Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder,
fasst ihre Hand und überschwemmt sie mit stummen Tränen. So bleibt er lange.
Endlich ruft er aus: »Soll ich deine Stimme nicht wieder hören?
Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren? Gut, gut!
Ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!«

Sie drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach einem tiefen Atemzug,
nach einer himmlischen, stummen Bewegung der Lippen: »Versprich mir zu leben!«, ruft sie aus, mit holder,
zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück.
»Ich versprech' es!«, rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden.

Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu bestatten, Charlotten anheim.
Der Major und Mittler standen ihr bei.
Eduards Zustand war zu bejammern.
Wie er sich aus seiner Verzweiflung nur hervorheben und einigermaßen besinnen konnte, bestand er darauf,
Ottilie sollte nicht aus dem Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende behandelt werden;
denn sie sei nicht tot, sie könne nicht tot sein.
Man tat ihm seinen Willen, insofern man wenigstens das unterließ, was er verboten hatte.
Er verlangte nicht, sie zu sehen.

Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschäftigte die Freunde.
Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntnis genötigt und nach dem Bekenntnis mit
Vorwürfen überhäuft, war entflohen.
Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien außer sich zu sein.
Ihre Eltern nahmen sie zu sich.
Die beste Begegnung schien nicht anzuschlagen, man musste sie einsperren, weil sie wieder zu entfliehen drohte.

Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu entreißen, aber nur zu seinem Unglück;
denn es ward ihm deutlich, es ward ihm gewiss, dass er das Glück seines Lebens für immer verloren habe.
Man wagte es ihm vorzustellen, dass Ottilie, in jener Kapelle beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben
und einer freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren würde.
Es fiel schwer, seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der Bedingung, dass sie im offenen Sarge hinausgetragen
und in dem Gewölbe allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immer brennende Lampe gestiftet werden
sollte, ließ er sich's zuletzt gefallen und schien sich in alles ergeben zu haben.

Man kleidete den holden Körper in jenen Schmuck, den sie sich selbst vorbereitet hatte; man setzte ihr
einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten.
Die Bahre, die Kirche, die Kapelle zu schmücken, wurden alle Gärten ihres Schmucks beraubt.
Sie lagen verödet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus den Beeten weggetilgt hätte.
Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloss getragen, und die aufgehende Sonne
rötete nochmals das himmlische Gesicht. Die Begleitenden drängten sich um die Träger,
niemand wollte vorausgehn, niemand folgen, jedermann sie umgeben, jedermann noch zum letzten Male ihre
Gegenwart genießen. Knaben, Männer und Frauen, keins blieb ungerührt.
Untröstlich waren die Mädchen, die ihren Verlust am unmittelbarsten empfanden.

Nanny fehlte. Man hatte sie zurückgehalten, oder vielmehr man hatte ihr den Tag und die Stunde des
Begräbnisses verheimlicht.
Man bewachte sie bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging.
Als sie aber die Glocken läuten hörte, ward sie nur allzu bald inne, was vorging, und
da ihre Wächterin aus Neugierde, den Zug zu sehen, sie verließ, entkam sie zum
Fenster hinaus auf einen Gang und von da, weil sie alle Türen verschlossen fand, auf den Oberboden.

Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blättern bestreuten Weg durchs Dorf hin.
Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich, deutlicher, vollständiger, schöner als alle, die dem Zuge folgten.
Überirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer Dienerin zu winken, und diese, verworren,
schwankend, taumelnd, stürzte hinab.

Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen Seiten.
Vom Drängen und Getümmel waren die Träger genötigt, die Bahre niederzusetzen.
Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Gliedern zerschmettert.
Man hob es auf; und zufällig oder aus besonderer Fügung lehnte man es über die Leiche,
ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest seine geliebte Herrin erreichen zu wollen.
Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand, ihre kraftlosen Finger Ottiliens
gefaltete Hände berührt, als das Mädchen aufsprang, Arme und Augen zuerst gen
Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederstürzte und andächtig
entzückt zu der Herrin hinaufstaunte.

Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude: »Ja, sie hat mir vergeben!
Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergibt mir Gott durch ihren Blick,
ihre Gebärde, ihren Mund. Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr habt gesehen, wie sie
sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich segnete, wie sie mich freundlich anblickte!
Ihr habt es alle gehört, ihr seid Zeugen, dass sie zu mir sagte: dir ist vergeben!
Ich bin nun keine Mörderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen, Gott hat mir verziehen,
und niemand kann mir mehr etwas anhaben.«

Umhergedrängt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und sahen hin und wider, und
kaum wusste jemand, was er beginnen sollte. »Tragt sie nun zur Ruhe!«, sagte das Mädchen;
»sie hat das Ihrige getan und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen.«
Die Bahre bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte zur Kirche, zur Kapelle.

So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Häupten der Sarg des Kindes, zu ihren Füßen das Köfferchen,
in ein starkes eichenes Behältnis eingeschlossen.
Man hatte für eine Wächterin gesorgt, welche in der ersten Zeit des Leichnams wahrnehmen sollte, der
unter seiner Glasdecke gar liebenswürdig dalag.
Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte allein, ohne Gesellin bleiben und der zum ersten
Mal angezündeten Lampe fleißig warten.
Sie verlangte dies so eifrig und hartnäckig, dass man ihr nachgab, um ein größeres Gemütsübel,
das sich befürchten ließ, zu verhüten.

Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht, als das schwebende Licht, sein volles Recht
ausübend, einen helleren Schein verbreitete, öffnete sich die Türe, und es trat der Architekt
in die Kapelle, deren fromm verzierte Wände bei so mildem Schimmer altertümlicher und ahnungsvoller,
als er je hätte glauben können, ihm entgegen drangen.

Nanny saß an der einen Seite des Sarges.
Sie erkannte ihn gleich; aber schweigend deutete sie auf die verblichene Herrin.
Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut, auf sich selbst zurückgewiesen, starr,
in sich gekehrt, mit niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt und Blick nach der
Entseelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden.
Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natürlich war sie auch diesmal!
Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt; und wenn dort
Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem Manne als unwiederbringlich verloren bedauert
wurden, wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten in entscheidenden Momenten unentbehrlich sind,
nicht geschätzt, vielmehr verworfen und ausgestoßen worden, so waren hier soviel andere stille
Tugenden, von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige
Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung
die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger
Trauer vermisst.

Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeitlang; als sie ihm aber die Tränen häufig
aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz ganz aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit
und Kraft, mit so viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, dass er, über den Fluss ihrer Rede erstaunt,
sich zu fassen vermochte und seine schöne Freundin ihm in einer höhern Region lebend und wirkend vorschwebte.
Seine Tränen trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen
Händedruck von Nanny Abschied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen zu haben.

Der Wundarzt war die Nacht über ohne des Mädchens Wissen in der Kirche geblieben und fand, als er sie des
Morgens besuchte, sie heiter und getrosten Mutes.
Er war auf mancherlei Verirrungen gefasst; er dachte schon, sie werde ihm von nächtlichen Unterredungen
mit Ottilien und von andern solchen Erscheinungen sprechen, aber sie war natürlich, ruhig und sich völlig selbst bewusst.
Sie erinnerte sich vollkommen aller früheren Zeiten, aller Zustände mit großer Genauigkeit,
und nichts in ihren Reden schritt aus dem gewöhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus als nur die
Begebenheit beim Leichenbegängnis, die sie mit Freudigkeit oft wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet,
sie gesegnet, ihr verziehen und sie dadurch für immer beruhigt habe.

Der fortdauernd schöne, mehr schlaf- als todähnliche Zustand Ottiliens zog mehrere Menschen herbei.
Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch sehen, und jeder mochte gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hören;
manche, um darüber zu spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und wenige, um sich glaubend dagegen zu verhalten.

Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Berührung des frommen Körpers wieder
gesund geworden; warum sollte nicht auch ein ähnliches Glück hier andern bereitet sein?
Zärtliche Mütter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von irgendeinem Übel behaftet
waren, und sie glaubten eine plötzliche Besserung zu spüren.
Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so schwach, der sich nicht an
dieser Stelle eine Erquickung und Erleichterung gesucht hätte.
Der Zudrang wuchs, und man sah sich genötigt, die Kapelle, ja außer den Stunden des
Gottesdienstes die Kirche zu verschließen.

Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.
Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines Schmerzes weiter fähig zu sein.
Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuss von Speis und Trank vermindert sich mit jedem Tage.
Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.
Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten,
dass er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe.
Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes Ungefähr mit emporzuheben scheint,
so mögen sich auch gern die kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen vereinigen.
Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war
dasselbe und nicht dasselbe; er vermisst ein kleines Kennzeichen.
Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muss gestehen, das echte Glas sei unlängst zerbrochen und
ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden.
Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat; wie soll ihn das
Gleichnis rühren? Aber doch drückt es ihn tief. Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen;
er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten.

Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe.
Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen.
»Ach!«, sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam, »was bin ich unglücklich,
dass mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt!
Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genötigt, diese
Pein zu übernehmen. Ich muss ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich zurück
und mein Versprechen. Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.
Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum Märtyrertum.«

Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen, freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen
gedenken, in welchen sich Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten?
Endlich fand man ihn tot. Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.
Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung, genau die Umstände, in denen man den
Verblichenen angetroffen hatte. Charlotte stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in ihr;
sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen Unvorsichtigkeit anklagen.
Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler aus sittlichen Gründen wussten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.
Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden.
Er hatte, was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien Übriggebliebene in einem stillen
Augenblick vor sich aus einem Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen, in glücklicher
Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so
zufällig ahnungsreich übergeben hatte.
Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung mit Willen preisgeben.
Und so lag denn auch dieses vor Kurzem zu unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie
er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.
Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, dass niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.
Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.

So ruhen die Liebenden nebeneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder
schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst
wieder zusammen erwachen.