Elftes Kapitel

Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern durchs Gespräch verführen,
noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben. Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die
Schönheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer entwickelte: »Ein schöner Fuß
ist eine große Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwüstlich. Ich habe sie heute im Gehen beobachtet;
noch immer möchte man ihren Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte
Ehrenbezeugung der Sarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten
und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken.«

Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter zwei vertrauten Männern.
Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zurück und kamen auf die Hindernisse, die man
ehemals den Zusammenkünften dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Mühe sie sich gegeben,
welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu können, dass sie sich liebten.

»Erinnerst du dich«, fuhr der Graf fort, »welch Abenteuer ich dir recht freundschaftlich
und uneigennützig bestehen helfen, als unsre höchsten Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem
weitläufigen Schlosse zusammenkamen? Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern hingegangen; ein
Teil der Nacht sollte wenigstens unter freiem, liebevollem Gespräch verstreichen.«

»Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt«, sagte Eduard.
»Wir gelangten glücklich zu meiner Geliebten.«

»Die«, versetzte der Graf, »mehr an den Anstand als an meine Zufriedenheit gedacht und eine
sehr hässliche Ehrenwächterin bei sich behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken
und Worten sehr gut unterhieltet, ein höchst unerfreuliches Los zuteil ward.«

»Ich habe mich noch gestern«, versetzte Eduard, »als Sie sich anmelden ließen, mit meiner
Frau an die Geschichte erinnert, besonders an unsern Rückzug. Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal
der Garden. Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wussten, so glaubten wir auch hier ganz ohne Bedenken
hindurch und an dem Posten, wie an den übrigen, vorbeigehen zu können. Aber wie groß war
beim Eröffnen der Türe unsere Verwunderung! Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen
in mehreren Reihen ausgestreckt lagen und schliefen. Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert
an; wir aber, im jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen über die ausgestreckten Stiefel
weg, ohne dass auch nur einer von diesen schnarchenden Enakskindern erwacht wäre.«

»Ich hatte große Lust zu stolpern«, sagte der Graf, »damit es Lärm gegeben
hätte; denn welch eine seltsame Auferstehung würden wir gesehen haben!«

In diesem Augenblick schlug die Schlossglocke zwölf.

»Es ist hoch Mitternacht«, sagte der Graf lächelnd, »und eben gerechte Zeit.
Ich muss Sie, lieber Baron, um eine Gefälligkeit bitten: führen Sie mich heute, wie ich Sie
damals führte; ich habe der Baronesse das Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen.
Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns so lange nicht gesehen, und nichts
ist natürlicher, als dass man sich nach einer vertraulichen Stunde sehnt.
Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rückweg will ich schon finden, und auf alle Fälle werde ich
über keine Stiefel wegzustolpern haben.«

»Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefälligkeit erzeigen«, versetzte Eduard;
»nur sind die drei Frauenzimmer drüben zusammen auf dem Flügel.
Wer weiß, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder was wir sonst für Händel
anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn gewinnen.«

»Nur ohne Sorge!«, sagte der Graf; »die Baronesse erwartet mich. Sie ist um diese
Zeit gewiss auf ihrem Zimmer und allein.«

»Die Sache ist übrigens leicht«, versetzte Eduard und nahm ein Licht, dem Grafen
vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem langen Gang führte.
Am Ende desselben öffnete Eduard eine kleine Türe.
Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem
er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich
sich öffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum zurückließ.

Eine andre Türe links ging in Charlottens Schlafzimmer. Er hörte reden und horchte.
Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: »Ist Ottilie schon zu Bette?« »Nein«,
versetzte jene, »sie sitzt noch unten und schreibt.« »So zünde Sie das Nachtlicht
an«, sagte Charlotte, »und gehe Sie nur hin: es ist spät.
Die Kerze will ich selbst auslöschen und für mich zu Bette gehen.«

Eduard hörte mit Entzücken, dass Ottilie noch schreibe.
Sie beschäftigt sich für mich! dachte er triumphierend.
Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr
zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches
Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein. Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoss,
wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare
Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen, er fand sie
verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.

Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab. Sie wiederholte sich
aber- und abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um
und um gewendet hatte. Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen. Er füllte noch das Haus,
er belebte noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden!
Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte, wie man gewöhnlich pflegt,
den leidigen Trost, dass auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden.
Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwünschte die
totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein.

Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Tränen um so willkommner, als sie bei ihr selten stattfand.
Sie warf sich auf das Sofa und überließ sich ganz ihrem Schmerz. Eduard seinerseits konnte von
der Türe nicht weg; er pochte nochmals, und zum dritten Mal etwas stärker, sodass
Charlotte durch die Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr. Der erste Gedanke war,
es könne, es müsse der Hauptmann sein; der zweite, das sei unmöglich.
Sie hielt es für Täuschung, aber sie hatte es gehört, sie wünschte, sie fürchtete
es gehört zu haben. Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentür.
Sie schalt sich über ihre Furcht. Wie leicht kann die Gräfin etwas bedürfen! sagte sie
zu sich selbst und rief gefasst und gesetzt: »Ist jemand da?« Eine leise Stimme antwortete:
»Ich bin's.« »Wer?«, entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.
Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür. Etwas lauter klang es ihr entgegen: »Eduard!«
Sie öffnete, und ihr Gemahl stand vor ihr. Er begrüßte sie mit einem Scherz.
Es ward ihr möglich, in diesem Tone fortzufahren. Er verwickelte den rätselhaften Besuch in
rätselhafte Erklärungen. »Warum ich denn aber eigentlich komme«, sagte er zuletzt,
»muss ich dir nur gestehen. Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu
küssen.«

»Das ist dir lange nicht eingefallen«, sagte Charlotte. »Desto schlimmer«, versetzte
Eduard, »und desto besser!«

Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu entziehen.
Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, dass er nicht ihren Schuh küsste,
und dass, als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuß ergriff und ihn zärtlich an seine Brust
drückte.

Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur mäßig, im Ehestande ohne Vorsatz und Anstrengung
die Art und Weise der Liebhaberinnen fortführen. Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam
sie kaum entgegen; aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer einer liebevollen Braut,
die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu trägt. Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.
Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.
Aber das, was Eduarden hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an. Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.
Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch
unendlich, die wir gewöhnlich als stark und gefasst kennen. Eduard war so liebenswürdig, so
freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft
suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, dass er Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.

In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte
über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher
oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und
wonnevoll durcheinander.

Und doch lässt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben. Sie brachten einen Teil der
Nacht unter allerlei Gesprächen und Scherzen zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen
Teil daran nahm. Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag
ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von
ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie erwachte.