Erstes Kapitel
Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorgenommen hatte.
Dass Charlotte als Frau eines Freiherren, der außerhalb seines Besitztums keinerlei Rechte hat, von sich aus den Kirchhof umgestalten kann, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Herrschaftsstrukturen dieser Zeit. Selbst der Pfarrer der Gemeinde, der über den Kirchenbesitz das Hausrecht hat, wagt es nicht, sich dem Wunsch der Freiherrin zu widersetzen. Dass auch manche Gemeindeglieder ihr Vorgehen missbilligen, interessiert sie schon gar nicht. Erst der rechtliche Einspruch eines Stifters, der wegen der ihm entzogenen Grabstätte seine Stiftung kündigt, hat eine Art Schuldeingeständnis zur Folge. Charlotte will die Stiftung ablösen, bevor sie sich "
durch einen Rechtshandel beunruhigen" lässt.
Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche ... hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philemon, mit seiner Baucis vor der Hintertüre ruhend, statt der holprigen Grabstätten einen schönen, bunten Teppich vor sich sah ...
Philemon mit seiner Baucis: Geschichte aus Ovids Metamorphosen (3 n.Chr.), nach der ein altes Ehepaar zum Dank für seine Gastfreundschaft, die es inkognito reisenden Göttern gewährt, seine ärmliche Hütte in einen Palast verwandelt bekommt und in hohem Alter gemeinsam sterben darf.
... der noch überdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen.
Der rechtliche Teil dieses Handels ist nicht ganz durchschaubar. Sollte ein Teil des Kirchhofes freiherrliches Eigentum sein? Dann wäre wiederum nicht zu verstehen, wie eine Grabstätte seitens der Kirche gegen eine Stiftung einer Familie langfristig zugesichert werden konnte.
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»... Seitdem wir nicht mehr so glücklich sind, die Reste eines geliebten Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu drücken,
da wir weder reich noch heiter genug sind, sie unversehrt in großen, wohlausgezierten Sarkophagen zu verwahren, ja da wir
nicht einmal in den Kirchen mehr Platz für uns und für die Unsrigen finden ...«
eingeurnt: die Feuerbestattung mit der Aufbewahrung der Asche in einer Urne weist zurück auf vorchristliche Zeiten. Im Christentum galt die Verbrennung als Strafe. Krematorien gab
es in Deutschland deshalb erst vom Ende des 19. Jahrhunderts an.
Sarkophage: Mausoleen mit Sarkophagen gab es noch, aber sie wurden überwiegend nur noch von fürstlichen Familien unterhalten. Dass man 'heiter' sein muss, um diese Art
der Aufbewahrung von Leichen zu ertragen, meint wohl "gleichmütig" oder "unerschütterlich", weil der Gedanke an den Inhalt der Särge nicht unbedingt gut tut. Was Goethe
zu seinem eigenen Sarg in der Weimarer Fürstengruft zu bemerken hätte, kann man sich vorstellen.
nicht einmal in den Kirchen mehr Platz: Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 verfügte in § 184 (Zweiter Teil, Elfter Titel): "In den Kirchen ... sollen keine Leichen beerdigt werden." Die oft nur unter dem Holzboden der Kirchen bestatteten Toten waren eine ständige Geruchsbelästigung und mussten in der Folgezeit umgebettet werden. Nur Beisetzungen in abgeschlossenen Grüften - hohen Geistlichen und Adligen vorbehalten - waren noch zulässig.