Erlebnisse Goethes /Zweiter Teil |
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Achtes Kapitel

... schien es ihr, als wenn sie in einen ganz hellen, doch mild erleuchteten Raum hineinblickte. In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich ...
Goethe hat sich wiederholt über seine Fähigkeit geäußert, nicht wirklich Vorhandenes so vor Augen zu haben, als spielte es sich tatsächlich vor ihm ab. Im elften Buch von Dichtung und Wahrheit erzählt er, wie er nach dem letzten Besuch bei Friederike Brion in Sesenheim sich ihm selbst zu Pferd entgegen kommen sah, "und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen. Es war hechtgrau mit etwas Gold." Acht Jahre später aber habe sich ganz aus Zufall und genau so gekleidet wirklich noch einmal an der betreffenden Stelle auf dem Weg nach Sesenheim befunden. Oder er berichtet - dreizehntes Buch -, dass er es gewohnt gewesen sei, Zwiegespräche mit entfernten Bekannten zu führen, die er dann leibhaftig vor sich gesehen und die ihm "durch ihre gewöhnliche Mimik ihr Zu- und Abstimmen" zu erkennen gegeben hätten. In der Abhandlung Das Sehen in subjektiver Hinsicht von 1821 resümiert er es als seine Gabe, beispielsweise eine Blume bei geschlossenen Augen so deutlich vor sich hinstellen zu können, dass sie sich von selbst zu bewegen beginne, neue Blumen aus ihr herauswüchsen und sich immer weitere Formen aus ihr entwickelten, so "regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer".
Alle diese Bekenntnisse stammen jedoch aus der Zeit nach den Wahlverwandtschaften, sodass es zunächst stellvertretend für ihn Ottilie ist, auf die Goethe seine Erfahrung überträgt.